Kostenlos

Anna Karenina, 1. Band

Text
Als gelesen kennzeichnen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

„Wovon sprichst du denn?“

„Nun, davon, daß – Ihr nichts thut!“

„So denkst du wohl, aber wir sind von Geschäften überhäuft.“

„Von papiernen. Mag sein, du hast eine besondere Anlage dazu,“ bemerkte Lewin.

„Denkst du, daß ich etwa Mangel daran litte?“

„Ist nicht ganz unmöglich,“ antwortete Lewin. Aber nichtsdestoweniger liebe ich deine Erhabenheit hier und bin stolz, daß ich einen so großen Mann zum Freunde habe. Du hast mir aber doch noch nicht auf meine Frage geantwortet,“ fügte er hinzu, mit verzweifelter Anstrengung Oblonskiy gerade in das Auge schauend.

„Nun, gut, gut; warte noch ein wenig und du wirst schon noch hören. Es ist recht gut, wenn man nicht weniger als dreitausend Desjatinen Landes im Karazinsker Kreise besitzt und solche Muskeln hat wie du, solch eine Frische wie ein zwölfjähriges Mädchen – aber du kommst schon auch noch auf unseren Standpunkt. Was aber jenes andere anbetrifft, wonach du frugst, so ist von einer Veränderung nichts zu berichten; schade indessen ist es, daß du so lange nicht hier gewesen bist.“

„Ist etwas vorgefallen?“ frug Lewin erschreckt.

„Nein, nichts,“ antwortete Oblonskiy. „Wir werden schon noch weiter sprechen, warum aber bist du denn eigentlich nach Moskau gefahren?“

„O, davon werden wir gleichfalls nachher sprechen,“ versetzte Lewin, wiederum bis an die Ohren errötend.

„Schön. Ich begreife,“ äußerte Stefan Arkadjewitsch.

„Weißt du übrigens, ich würde dich zu mir einladen, allein meine Frau ist jetzt nicht recht gesund. Willst du indessen die Schtscherbazkiys heute sehen, so sind sie aller Wahrscheinlichkeit nach jetzt im Zoologischen Garten, von vier bis fünf Uhr. Kity läuft Schlittschuh. Fahre hin, und ich werde auch nachkommen; wir können alsdann irgendwo vereint dinieren.“

„Ausgezeichnet, auf Wiedersehen also.“

„Sieh aber zu, denn so wie ich dich kenne, kannst du alles plötzlich vergessen haben, oder wieder auf das Dorf gefahren sein!“ rief Stefan Arkadjewitsch lachend aus.

„O nein; gewiß nicht.“

Er eilte davon, und besann sich erst an der Thür des Kabinetts, daß er die Kollegen Oblonskiys gar nicht zum Abschied begrüßt hatte.

„Er scheint ein sehr energischer Herr zu sein,“ sagte Grinjewitsch, nachdem Lewin gegangen war.

„Ja, Verehrtester,“ antwortete Stefan Arkadjewitsch, den Kopf schüttelnd – „der ist doch ein Glückspilz! Dreitausend Desjatinen Landbesitz im Karazinsker Kreise, und diese Gesundheit! Könnte es unser einem nicht ebenso gut ergehen.“

„Beklagt Ihr Euch etwa noch, Stefan Arkadjewitsch?“

„Ach ja, es ist recht traurig, recht schlimm,“ antwortete Stefan Arkadjewitsch mit einem schweren Seufzer.

6

Als Oblonskiy Lewin gefragt hatte, aus welchem Grunde derselbe eigentlich angekommen sei, war Lewin rot geworden; er war in Zorn geraten über sich, daß er rot geworden, und nicht in der Lage gewesen war, eine Antwort auf diese Frage zu geben, welche lauten sollte: „Ich bin gekommen, um deiner Schwägerin einen Antrag zu machen,“ da er ja doch nur zu diesem Zwecke gekommen war.

Die Familien der Lewin und Schtscherbazkiy waren von altem Moskauer Adel und standen stets miteinander in nahen und freundschaftlichen Beziehungen. Dieses Freundschaftsband wurde noch mehr befestigt zur Zeit der Universitätsstudien Lewins. Er bereitete sich zu gleicher Zeit wie der junge Fürst Schtscherbazkiy, der Bruder Dollys und Kitys, zum Studium vor, und bezog zugleich mit diesem die Hochschule.

In jener Zeit war Lewin oft im Hause der Schtscherbazkiy gewesen, er hatte sich in die Familie derselben verliebt. So seltsam dies wohl erscheinen mag, aber Konstantin Lewin war thatsächlich in das Haus, in die Familie verliebt, und zwar besonders in die weibliche Hälfte der Familie Schtscherbazkiy.

Lewin selbst hatte seine Mutter nie gekannt, seine einzige Schwester war älter als er, so daß er im Hause der Schtscherbazkiy zum erstenmal jenen Kreis des alten, feingebildeten und ritterlichen familiären Adelslebens kennen lernte, dessen er durch den Tod der Eltern verlustig gegangen war.

Alle Glieder dieser Familie, insbesondere die weiblichen, erschienen ihm wie von einem geheimnisvollen, poetischen Schleier verhüllt und er erkannte in ihnen nicht nur keinerlei Mängel, sondern vermutete vielmehr unter jenem poetischen Schleier, der sie deckte, die erhabensten Gefühle und alle nur erdenkbaren Vollkommenheiten.

Wozu die drei Damen abwechselnd den Tag hindurch französisch und englisch sprachen, weshalb sie zu bestimmter Stunde, sich abwechselnd, das Klavier spielten, dessen Klänge bei dem Bruder oben gehört wurden, bei dem sie als Studenten arbeiteten, weshalb Lehrer für die französische Litteratur, Musik, Zeichnen, Tanzen ins Haus kamen, weshalb zu bestimmten Stunden alle drei jungen Damen mit Mademoiselle Linon in der Equipage den Twerskiyboulevard hinabfuhren, in ihren Atlaspelzen – Dolly in einem langen, Nataly in einem halblangen und Kity in einem ganz kurzen, so daß die üppigen Füßchen in den drallsitzenden, roten Strümpfchen vollständig gesehen werden konnten, weshalb sie in Begleitung eines Lakaien mit goldener Kokarde an der Mütze den Twerskiyboulevard abspazieren mußten – alles dies und noch vieles andere, was sich in ihrem reizumwobenen Dasein abspielte, verstand er nicht; aber er wußte, daß alles, was hier vor sich ging, schön war, und er war vernarrt besonders in das Geheimnisvolle der Vorgänge.

Zur Zeit seiner Universitätsstudien hätte er sich beinahe in die älteste, in Dolly, verliebt, aber man verheiratete sie sehr bald schon an Oblonskiy. Er verliebte sich hierauf in die zweitälteste.

Er empfand, daß er eine der Schwestern lieben müsse, nur konnte er nicht zu der Erkenntnis gelangen, welche die Erkorene eigentlich sei. Indessen auch Nataly folgte – sobald sie nur in der Gesellschaft erschienen war – einem Diplomaten Lwoff an den Altar.

Kity war noch ein Kind, als Lewin die Universität verließ. Der junge Schtscherbazkiy, welcher in die Marine eintrat, ertrank im baltischen Meere, und die Beziehungen Lewins zu den Schtscherbazkiy wurden ungeachtet seines freundschaftlichen Verhältnisses zu Oblonskiy immer entferntere.

Als aber nun Lewin im laufenden Jahre zu Beginn des Winters nach Moskau kam nach einem einjährigen Aufenthalt auf dem Lande, und die Schtscherbazkiys wiedersah, da erkannte er, in welche von den drei Mädchen ihm endgültig vom Schicksal beschieden worden war, sich zu verlieben.

Es hätte wohl scheinen können, als ob nichts einfacher sei als dies, daß er, ein Mann von guter Familie, eher reich als arm und im Alter von zweiunddreißig Jahren, der jungen Fürstin Schtscherbazkiy einen Heiratsantrag machte; allem Anschein nach mußte man ihn doch als eine gute Partie anerkennen.

Aber Lewin war verliebt und demzufolge schien ihm, daß Kity ein in allen Beziehungen so vollkommenes Wesen sei, ein so über allem Irdischen erhabenes Geschöpf, er aber hingegen ein so gewöhnlicher Mensch, ein so niederes Wesen, daß sich nicht einmal daran denken lasse, es würde ihn irgend jemand anderes, oder gar sie selbst, als ihrer würdig ansehen.

Nachdem er zwei Monate in Moskau wie im Rausche zugebracht hatte, fast jeden Tag Kity in der großen Gesellschaft sehend, wohin er sich begab, um ihr begegnen zu können, beschloß er plötzlich bei sich selbst, daß es nicht sein könne und reiste ab aufs Land.

Die Überzeugung Lewins, daß es nicht in Erfüllung gehen könne, beruhte darauf, daß er in den Augen der Verwandten Kitys als eine nicht vorteilhafte, nicht angemessene Partie in Erwägung der persönlichen Vorzüge des Mädchens galt und daß dieses selbst ihn nicht lieben könne.

In den Augen der Verwandten hatte er keine berufsmäßige, bestimmtgeregelte Thätigkeit, keine Stellung in der Welt, während seine Freunde jetzt, da er schon zweiunddreißig Jahre zählte, der eine Oberst und Flügeladjutant, der andere Professor, der dritte Bank- und Eisenbahndirektor, oder Gerichtspräsident geworden war wie Oblonskiy. Er aber – der recht wohl wußte, als was er für die übrigen erscheinen mußte – war ein Gutsbesitzer der sich mit Viehzucht, mit der Jagd auf Birkhühner und mit Bauten beschäftigte, das heißt ein talentloser Mensch, von dem nichts geleistet wurde und welcher nach den Begriffen der Gesellschaft nur das that, was taugliche Menschen eben niemals thun.

Selbst die reizumwobene, schöne Kity konnte einen Mann der so unschön war, wie er selbst von sich sagte, und ganz besonders einen so einfachen, durch nichts sich auszeichnenden Menschen unmöglich lieben.

Außerdem erschienen ihm seine früheren Beziehungen zu Kity – Beziehungen eines Erwachsenen zu einem Kinde infolge seiner Freundschaft zu ihrem Bruder – als eine neue Scheidewand vor der Liebe.

Den unschönen, gutmütigen Mann für den er sich selbst hielt, konnte man wohl seiner Meinung nach als einen Freund lieben, aber um mit einer solchen Liebe geliebt zu werden, mit welcher er Kity liebte, dazu mußte man ein schöner Mensch sein, und – was immer noch die Hauptsache dabei blieb – man mußte ein absonderlicher Mensch sein. —

Er hatte wohl vernommen, daß die Weiber öfters auch häßliche Menschen lieben, einfache Menschen, aber er glaubte nicht daran, indem er nur nach sich selbst urteilte.

Er selbst aber konnte nur schöne Weiber lieben, nur solche, die mit einem Reiz des Geheimnisvollen und Besonderen begabt waren.

Nachdem Lewin so zwei Monate hindurch auf dem Lande gewesen war, überzeugte er sich, daß es sich für ihn nicht um eine jener Verliebtheiten handele, wie er sie in der Zeit seiner Jugend an sich erfahren hatte, sondern daß seine Empfindungen ihm keine Minute mehr Ruhe ließen, daß er nicht leben könne, ohne daß die Frage eine Entscheidung gefunden hätte, ob sie seine Gattin werden würde oder nicht, und daß seine ganze Verzweiflung nur aus der Vorstellung entstand, daß er nicht die geringsten Beweismittel dafür besaß, daß ihm ein Korb erteilt werden würde.

 

So fuhr er denn jetzt nach Moskau mit dem festen Vorsatz, einen Antrag zu stellen und zu heiraten, wenn man ihn erhörte.

Sonst – er vermochte sich nicht zu denken, was mit ihm geschehen würde, sollte er eine Zurückweisung erfahren.

7

In Moskau mit dem Morgenzug angekommen, blieb Lewin bei seinem ältesten Bruder Koznyscheff. Nachdem er sich umgekleidet, begab er sich zu diesem ins Kabinett, entschlossen, ihm unverweilt zu berichten, zu welchem Zwecke er angekommen sei und seinen Rat zu erbitten.

Aber sein Bruder war nicht allein. Bei ihm befand sich ein berühmter Professor der Philosophie, der aus Charkoff eigens deshalb gekommen war, um Zweifel, die beiden über eine sehr wichtige philosophische Frage aufgetaucht waren, aufzuklären.

Der Professor führte eine sehr scharfe Polemik gegen die Materialisten und Sergey Koznyscheff war mit Interesse dieser Polemik gefolgt. Nachdem er den letzten Artikel des Professors gelesen hatte, teilte er demselben brieflich seine Einwendungen mit und machte ihm Vorwürfe, daß er den Materialisten viel zu große Konzessionen gemacht habe. Der Professor war nun sogleich selbst erschienen, um sich mit dem Briefschreiber auszusprechen.

Das Thema drehte sich um eine moderne Frage: Giebt es eine Grenze zwischen den psychologischen und physiologischen Offenbarungen in der Thätigkeit des Menschen, und wo liegt sie?

Sergey Iwanowitsch begrüßte seinen Bruder mit dem ihm eigenen vor jedermann angenommenen kaltfreundlichen Lächeln und fuhr, nachdem er denselben mit dem Professor bekannt gemacht hatte, in seinem Gespräch fort.

Der kleine Herr in der Brille mit der schmalen Stirn ließ einen Augenblick das Gespräch fallen, um den Angekommenen zu begrüßen und setzte dann das Gespräch fort, ohne Lewin weitere Aufmerksamkeit zu widmen. Lewin saß erfüllt von der Erwartung, daß der Professor sich entfernen möchte, aber bald begann er sich selbst für den Gegenstand der Unterhaltung zu interessieren.

Lewin hatte in den Journalen die Artikel gefunden, um die es sich hier handelte und sie gelesen, von ihnen angezogen als von einer Entwickelung ihm bekannter Dinge. Er hatte auf der Universität die Fundamente der Naturwissenschaften studiert, sich aber nie mit diesen wissenschaftlichen Ausführungen über die Entstehung des Menschen als eines lebenden Wesens, über die Reflexe, über Biologie und Sociologie näher beschäftigt, mit jenen Fragen über die Bedeutung des Lebens und des Todes für ihn selbst, die ihm in der jüngsten Zeit öfters in den Sinn gekommen waren.

Beim Anhören der Unterredung des Bruders mit dem Professor bemerkte er, daß sie wissenschaftliche Fragen mit subjektiven verbanden. Mehrmals näherten sie sich jenen Fragen, aber jedes Mal, wenn sie nahe an den Hauptpunkten waren, wie ihm schien, entfernten sie sich sogleich wieder davon und versenkten sich wieder in das Gebiet feinster Unterscheidungen, Verteidigungen, Citate, Fingerzeige und Verweise auf Autoritäten, und nur schwer vermochte er noch zu erkennen, wovon eigentlich die Rede war.

„Ich kann nicht zugeben,“ sagte Sergey Iwanowitsch mit seiner gewöhnlichen Klarheit und Präzision des Ausdruckes und Eleganz der Diktion, „ich kann keinenfalls mit Keis darin übereinstimmen, daß meine gesamte Vorstellung von der äußeren Welt aus den Eindrücken hervorgehen sollte. Die elementarste Vorstellung vom Sein wird von mir nicht durch die Empfindung erworben, denn es ist gar kein besonderes Organ für die Wiedergabe dieser Vorstellung vorhanden.“

„Ja wohl, aber Wurst und Knaust und Pripasoff würden dem entgegenhalten, daß Euer Daseinsbewußtsein aus der Vereinigung aller Empfindungen hervorgeht, daß dieses Existenzbewußtsein das Resultat der Gefühle ist. Wurst spricht sogar unverhohlen aus, daß wo nicht Gefühl vorhanden sei, auch das Verständnis für das Sein fehle.“

„Ich würde dem gegenüber behaupten“ – begann Sergey Iwanowitsch.

Hier schien es Lewin wiederum, als ob sie, der Hauptfrage nahe gekommen, sich von neuem von ihr entfernten, und so entschloß er sich, dem Professor eine Frage vorzulegen.

„Es könnte demzufolge, wenn mein Gefühl vernichtet ist, wenn mein Körper stirbt, keine Existenz mehr geben?“ warf er ein.

Der Professor blickte verdrießlich und gewissermaßen mit einem geistigen Schmerzgefühl über die Unterbrechung auf nach dem seltsamen Frager hinüber, der eher einem Riesen ähnlich sah, als einem Philosophen, und richtete dann das Auge auf Sergey Iwanowitsch als wolle er fragen, was man eigentlich hierauf antworten könne.

Sergey Iwanowitsch, der bei weitem nicht mit der nämlichen Anstrengung und Einseitigkeit sprach, wie der Professor, und in dessen Kopfe noch Spielraum genug übrig war, dem Professor mit Erwiderungen zu dienen, und zugleich auf diesen einfachen und natürlichen Gesichtspunkt einzugehen, von welchem aus diese Frage gestellt war, lächelte und sagte:

„Diese Frage zu entscheiden besitzen wir kein Recht.“ —

„Wir haben keine Unterlagen dafür,“ bestätigte der Professor, und setzte seine Ausführungen fort.

„Nein,“ sagte er, „ich verweise darauf, daß, wenn, wie Pripasoff offen sagt, die Empfindung zu ihrem Fundamente den Eindruck hat, wir diese beiden Begriffe auch streng voneinander scheiden müssen.“

Lewin hörte nun nicht weiter zu, sondern wartete nur noch, bis der Professor sich verabschieden würde.

8

Als der Professor gegangen war, wandte sich Sergey Iwanowitsch an seinen Bruder.

„Sehr erfreut, daß du gekommen bist. Wirst du lange hier Aufenthalt nehmen? Wie geht es im Hauswesen?“

Lewin wußte, daß das Hauswesen seinen älteren Bruder sehr wenig interessiere, und daß derselbe nur, um ihm eine Höflichkeit zu erweisen, darnach gefragt habe. Er antwortete daher nur in Bezug auf den Verkauf seines Weizens und die Gelder.

Lewin wollte mit dem Bruder über sein Vorhaben, zu heiraten, sprechen und denselben um einen Rat bitten, er war sogar fest entschlossen gewesen hierzu; als er aber des Bruders ansichtig geworden war, seine Unterredung mit dem Professor angehört hatte, nachdem er ferner den unbewußt gönnerhaften Ton vernommen hatte, mit welchem ihn der Bruder über die häuslichen Angelegenheiten befragte – das mütterliche Vermögen der beiden Brüder war ungeteilt und Lewin verwaltete es in beiden Teilen – empfand er, daß es ihm unmöglich war, mit dem Bruder über seinen Entschluß sich zu verheiraten, eine Rücksprache anzubahnen.

Er empfand, daß sein Bruder nicht so auf die Angelegenheit schauen würde, wie er selbst es gewünscht hätte.

„Nun und wie steht es mit Eurem Semstwo?“ frug Sergey Iwanowitsch weiter, der sich sehr für die Semstwos interessierte und denselben eine große Bedeutung beimaß.

„Ich weiß nicht viel Genaues darüber.“

„Wie? Du bist aber doch Mitglied in der Rechtspflege?“

„Nein, nicht mehr; ich bin ausgetreten,“ versetzte Lewin, „werde auch nicht mehr die Versammlung besuchen.“

„Schade,“ antwortete Sergey Iwanowitsch sich verfinsternd.

Lewin begann zu seiner Rechtfertigung zu erzählen, was in den Sobranien seines Kreises eigentlich gethan würde.

„So ist es eben immer!“ unterbrach ihn Sergey Iwanowitsch. „Wir Russen sind stets dieselben. Möglicherweise ist dies gerade ein guter Zug bei uns, daß wir unsere Mängel erkennen, aber wir übersalzen sie nur, und trösten uns in der Ironie, die uns stets schlagfertig auf der Zunge liegt. Ich sage dir das Eine: Gieb eine solche Gerechtsame wie unsere Institution des Semstwos, einem anderen europäischen Volke, dem deutschen oder englischen, und es wird sich die Freiheit daraus erarbeiten; wir aber, wir lachen nur darüber.“

„Allein was ist zu thun?“ frug Lewin schuldbewußt, „es war dies meine letzte Erfahrung, und ich hatte sie aus ganzer Seele erprobt. Aber ich kann nicht mehr, ich bin nicht mehr imstande“ —

„Du bist noch recht wohl imstande,“ sagte Sergey Iwanowitsch, „du greifst nur die Sache nicht richtig an.“

„Mag sein,“ antwortete Lewin traurig.

„Weißt du, daß Bruder Nikolay wieder hier ist?“

Bruder Nikolay war ein leiblicher, älterer Bruder Konstantin Lewins und der Zwillingsbruder Sergey Iwanowitschs, ein verkommener Mensch, welcher den größten Teil seines Vermögens im Verkehr mit der seltsamsten und schlimmsten Gesellschaft verschwendet und sich mit seinen Brüdern überworfen hatte.

„Was sagst du da?“ rief voller Schrecken Lewin. „Woher weißt du dies?“

„Prokop hat ihn auf der Straße gesehen.“

„Hier in Moskau? Wo ist er? Weißt du es?“ Lewin stand vom Stuhle auf, als wolle er sofort davoneilen.

„Ich bedaure, daß ich dir dies gesagt habe,“ bemerkte Sergey Iwanowitsch, kopfschüttelnd die Erregung seines jüngeren Bruders gewahrend.

„Ich habe mich erkundigen lassen, wo er wohnt, und habe ihm seinen Wechsel geschickt, den ich einlöste. Hier hast du, was er mir antwortete.“

Sergey Iwanowitsch reichte dem Bruder ein Schreiben hin.

Lewin las dasselbe; es war in einer seltsamen eigenartigen Handschrift geschrieben und lautete folgendermaßen:

„Ich ersuche Euch ergebenst, mich in Ruhe zu lassen. Dies ist das Einzige, was ich von meinen liebenswürdigen Brüdern wünsche.

Nikolay Lewin.“

Lewin las und blieb dann ohne den Kopf zu heben mit dem Schreiben in der Hand vor Sergey Iwanowitsch stehen.

In seiner Seele kämpfte der Wunsch, den unglücklichen Bruder jetzt zu vergessen, mit dem Bewußtsein, daß dies schlecht gehandelt sei.

„Er will mich augenscheinlich kränken,“ fuhr Sergey Iwanowitsch fort, „aber kränken kann er mich nicht; ich würde von ganzer Seele ihm zu helfen wünschen, aber ich weiß, daß dies unausführbar ist.“

„Ja wohl, so ist es,“ wiederholte Lewin. „Ich verstehe und würdige dein Verhalten gegen ihn, aber ich muß hin zu ihm.“

„Wenn dich darnach verlangt, so thue es, aber ich rate dir nicht dazu,“ sagte Sergey Iwanowitsch. „Das heißt, was mich angeht, so fürchte ich nicht, daß er dich mit mir entzweien wird, aber für dich, rate ich, für dich wäre es besser, du führest nicht hin. Zu helfen ist ihm nicht. Doch – thu wie du willst!“

„Mag sein, daß ihm nicht mehr zu helfen ist, aber ich fühle – namentlich in diesem Augenblick – aber das ist ja etwas anderes – ich fühle, daß ich keine Ruhe habe.“

„Nun; das verstehe ich nicht,“ antwortete Sergey Iwanowitsch. „Doch halt, Eins verstehe ich!“ fügte er hinzu; „das soll eine Lektion zur Erniedrigung sein. Ich habe in anderer Weise und mit milderer Denkart auf das herabblicken gelernt, was man Niedrigkeit nennt, nachdem unser Bruder das geworden ist was er ist. Du weißt ja selbst, was er gethan hat.“

„O, es ist schrecklich, schrecklich!“ versetzte Lewin.

Nachdem Lewin von dem Diener Sergey Iwanowitschs die Adresse seines Bruders in Empfang genommen hatte, setzte er sich in Bereitschaft, zu demselben zu fahren, allein nach einiger Überlegung entschied er sich dafür, seine Fahrt bis zum Abend aufzuschieben. Es handelte sich vor allem für ihn darum, daß er, um sein seelisches Gleichgewicht wieder zu erhalten, das Vorhaben zur Ausführung brachte, wegen dessen er nach Moskau gekommen war.

Von seinem Bruder aus begab sich Lewin zu Oblonsky und als er sich dort über die Schtscherbazkiy erkundigt hatte, fuhr er nach dem Orte, an welchem er wie man ihm gesagt, Kity treffen konnte.