Buch lesen: «Der Mann, der Troja erfand»
Leoni Hellmayr studierte Klassische Archäologie und Alte Geschichte an der Universität Freiburg. Heute ist sie als freie Fachjournalistin und Autorin tätig.
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Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht.
Lektorat: Kristine Althöhn, Mainz
Einbandabbildung: Heinrich Schliemann in orientalischem Kostüm,
Foto © American School of Classical Studies at Athens, Archives,
Heinrich Schliemann Papers
Einbandgestaltung: Andreas Heilmann, Hamburg
Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-534-27349-2
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF): 978-3-534-27385-0
eBook (epub): 978-3-534-27389-8
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Inhaltsverzeichnis
Informationen zum Buch
Impressum
Inhalt
Vorwort
Metamorphose
Krise
Impuls
Chaos
Fieber
Geburt
Nachwort
Literaturverzeichnis
Abbildungsnachweis
Meinen Kindern Josephine und Samuel gewidmet
Vorwort
»Jeder Archäologe spürt im Herzen, warum er gräbt. Er gräbt …,
um … die Toten wieder lebendig werden zu lassen, damit das,
was vorüber ist, dennoch nicht für immer verloren sei.«
Geoffrey Bibby, englischer Archäologe
Wenn wir, zweihundert Jahre nach seiner Geburt, eines über Heinrich Schliemann mit Bestimmtheit wissen, so ist es, dass er längst nicht nur der Troja-Entdecker war. Zweifellos hat ihn aber erst die archäologische Ausgrabung auf dem Hügel Hissarlik weltberühmt gemacht. Warum hatte er sich mit einundfünfzig Jahren überhaupt noch in ein solches Abenteuer begeben?
Je mehr ich mich für dieses Buch mit Schliemanns Leben auseinandersetzte, desto deutlicher zeigte sich, dass von allen möglichen Antworten auf diese Frage insbesondere eine heraussticht: Schliemann ertrug keinen Stillstand.
Doch worauf gründete seine innere Unruhe, seine andauernde Rastlosigkeit? Verhaltensmuster können bereits sehr früh entstehen, und man muss kein Psychologe sein, um die Ereignisse, die uns aus Schliemanns Kindheit bekannt sind, mit ihrem extrem traumatischen Wirkungspotenzial auch so zu deuten.
Kaum zwei Monate nach seiner Geburt starb Heinrich Schliemanns sechsjähriger Bruder. Auch wenn Schliemann zu diesem Zeitpunkt noch nicht fähig war, den Tod eines Familienangehörigen zu begreifen, dürfte er dennoch durch die Empfindungen seiner Eltern – ob nun offen ausgelebt oder unterdrückt – etwas davon gespürt haben.
Im Alter von neun Jahren verlor Schliemann daraufhin seine Mutter. Von Beginn an gab er seinem Vater die Schuld für ihren Tod, und wie es scheint, war diese Schuldzuweisung berechtigt. Das unsittliche Verhalten seines Vaters, der als Pfarrer von Ankershagen im heutigen Mecklenburg-Vorpommern auch innerhalb seiner Gemeinde eine Vorbildfunktion zu erfüllen hatte, entwickelte sich bald darauf zum öffentlichen Skandal. Den Unmut der Dorfbewohner bekamen die Kinder Ernst Schliemanns deutlich zu spüren. Wenn ein kleiner Junge keine Freunde mehr hat, weil die anderen nicht mehr mit ihm spielen dürfen, wird er das sicherlich nicht so leicht vergessen. Die frühe Phase aufgezwungener Einsamkeit könnte Schliemann geprägt haben. Als Ausweg aus dieser entsetzlichen Situation sah sein Vater nur das Wegbringen seiner Kinder. Und so musste Heinrich Schliemann mit zehn Jahren Ankershagen verlassen, ebenso wie seine Geschwister, die sich in alle Himmelsrichtungen zerstreuten. Die Familie war zerbrochen und damit zugleich die Schutzzone verloren, in der ein Kind oder ein Heranwachsender die Chance hätte, sich selbst kennenzulernen und allmählich seine Persönlichkeit zu entwickeln.
Schliemann hingegen war von nun an ein Reisender. Mal blieb er mehrere Jahre an einem Ort, oft aber nur wenige Monate, Wochen oder gar Tage. Im Prinzip war er immer unterwegs. Bewegung und Rastlosigkeit, ob körperlich oder geistig, gehörten als feste Größen in sein Leben – seine verzweifelte Suche nach etwas, vielleicht nach sich selbst, offenbar auch.
Ebenso wie die Kindheit einen Menschen prägt, kann auch die eigene Generation oder, in noch weiterem Sinne betrachtet, das eigene Zeitalter ein Leben maßgeblich beeinflussen.
In Europa war das 19. Jahrhundert eine Epoche, in der eine optimistische Zukunftsoffenheit einem bewussten Rückblick auf die Vergangenheit gegenüberstand. Der Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft brachte viele technische Errungenschaften und Neuheiten mit sich: Massenproduktion, Telegrafie, internationaler Handel und neue Transportmittel wie die Eisenbahn. Durch diesen Fortschritt entstand ein völlig neues Begreifen von Raum und Zeit. Scheinbar gab es keine unüberwindbaren Grenzen mehr, die Welt war so intensiv vernetzt wie niemals zuvor. Das führte in der Folge nicht nur zu einer neuen Form von Freiheit, sondern auch zu neuen gesellschaftlichen Zwängen. So war das Leben mithilfe der standardisierten Zeitmessung fortan streng getaktet; Pünktlichkeit wurde zu einer Selbstverständlichkeit.
Mit dem Fortschritt gingen zugleich manche traditionellen Werte und Glaubenssysteme verloren – das tief menschliche Bedürfnis nach Stabilität und Kontinuität musste in anderer Weise gestillt werden. Etwa durch die Beschäftigung mit der Menschheitsgeschichte – ausgerechnet in diesen Zeiten des Wandels liegen die wahren Anfänge der Archäologie.
Heinrich Schliemann war in vielerlei Hinsicht ein »Kind seiner Zeit«, und so war es mir ein Anliegen, in diesem Buch seine Lebensereignisse wie auch seine Taten in den größeren Zusammenhang des Zeitgeschehens einzubetten.
Dank seines Ehrgeizes und seines Talents schaffte er den Weg aus seiner Armut heraus aus eigener Kraft, begann bereits in seinen frühen Zwanzigern eine erfolgreiche Kaufmannskarriere und war mit vierzig Jahren schließlich Millionär. In seinem Beruf halfen ihm nicht nur Glück, sondern auch eine große Portion Mut, neue Wege zu gehen, sowie ein bemerkenswertes Gespür dafür, welche Geschäfte mit welcher Ware Gewinn in der Zukunft bringen könnten. Doch als er reich genug war, um sich zur Ruhe setzen zu können, tat er dies keinesfalls. Er beendete die Kaufmannstätigkeit und suchte nun nach einer Aufgabe, die ihn geistig erfüllen würde – die aber zugleich noch eine viel größere Bedeutung haben sollte. Schliemann wollte sich einen gebührenden Platz in der Gesellschaft verschaffen. Schließlich entschied er sich für die Beschäftigung mit der Vergangenheit. Archäologie wurde seine Passion.
Von Heinrich Schliemann durchgeführte und geplante Grabungen
Je länger ich mich mit seinem Leben beschäftigte, desto kürzer schien mir manches Mal der zeitliche Abstand, der zwischen unserer Gegenwart und Heinrich Schliemanns Epoche liegt. Seine Getriebenheit, der Druck, den er sich selbst auferlegte, und das Gefühl, ständig gegen die Zeit zu arbeiten – kommt uns das nicht bekannt vor? Nicht ohne Grund wird von manch einem behauptet, die Industrielle Revolution sei in ihrem Einfluss auf die Menschheit mit der Neolithischen Revolution vergleichbar. Im 19. Jahrhundert liegen gewissermaßen die Wurzeln der Lebensart, die bis heute den Rhythmus unserer Gesellschaft maßgeblich bestimmt.
Heinrich Schliemann hat uns einen enormen Fundus an Dokumenten hinterlassen, darüber hinaus sind viele weitere Quellen wie etwa Zeitungsartikel überliefert. Die Forschung verfügt mittlerweile über ein recht differenziertes Bild von seinem Leben. Dennoch beruhen nach wie vor die meisten unserer Informationen auf Aussagen aus seinen Selbstzeugnissen – und da Schliemann sich und seinen Werdegang gerne inszenierte, ist es in manch einem Fall nach wie vor schwierig, Realität von Fantasie zu trennen. Weil er nicht immer bei der Wahrheit geblieben ist, polarisiert seine Person bis heute. In seinem Leben schien sich eben alles um den Mythos zu drehen. Das ging so weit, dass er letztendlich sogar einen Mythos um sich selbst erschuf. Auch das ist eine Seite Heinrich Schliemanns, die ihn bis heute so faszinierend macht.
Viele Personen haben mich beim Entstehen dieses Buches begleitet. Mein ganz besonderer Dank gilt dabei Tina Niethammer – für ihre großartige Unterstützung und ihre unermüdliche Geduld.
Metamorphose
Es ist der 28. November 1841, als die Dorothea zu ihrer Jungfernfahrt vom Hamburger Hafen ablegt. Über der Stadt liegt die friedliche Stille und Finsternis des frühen Wintermorgens. Eigentlich hätte das Segelschiff zu diesem Zeitpunkt längst auf dem Atlantik in Richtung Venezuela fahren sollen, doch wegen des fehlenden Windes hatte sich die Abfahrt um mehrere Tage verzögert. Nun ist es so weit: Zur Freude des Kapitäns bläht bereits in der Nacht zuvor eine kräftige Brise die Segel der Brigg auf, sodass die Reise endlich beginnen kann. Als die Leinen losgemacht werden und die Dorothea sich zügig von der Hafenkante entfernt, hat sie dreizehn Besatzungsmitglieder sowie drei Passagiere an Bord. Zu Letzteren gehört ein junger Mann. Dass er in weniger als zwei Monaten bereits seinen zwanzigsten Geburtstag feiern würde, vermutet man auf den ersten Blick nicht – zu klein scheint er und von zu schmächtiger, fast kindhafter Statur. Seine Haut ist von einer kränklichen Blässe gezeichnet, als wäre auf sie viele Wochen lang kein Sonnenlicht mehr gefallen. Der junge Mann heißt Heinrich Schliemann, und mit der Dorothea will er in eine unbekannte Zukunft fernab der Heimat aufbrechen, von der er sich Abenteuer und Glück erhofft.
Das Gepäck des jungen Mannes ist übersichtlich. Es besteht aus nicht viel mehr als einer Seegrasmatratze, zwei Wolldecken und – das wohl Kostbarste – mehreren Empfehlungsschreiben, die ihm helfen sollen, in Südamerika eine Beschäftigung zu finden.
Bereits am zweiten Tag – die Brigg hat über die Elbe mittlerweile das offene Meer erreicht und fährt auf der Höhe von Helgoland – zieht ein Sturm auf. Das Wanken des Schiffes wird in den kommenden Stunden immer stärker und das dumpfe Aufschlagen der Wellen an den Schiffswänden immer durchdringender. Schliemann ist nicht der Einzige, der unter Seekrankheit leidet und seinen Schlafplatz am liebsten gar nicht mehr verlassen würde. Am zehnten Tag hat sich der Sturm zu einem Orkan entwickelt, dessen Kräfte eine gefährliche Dynamik im Meer erzeugen. Die Wellen reißen die Dorothea mal hoch in den Himmel, dann wieder tief in den Abgrund, wo das Wasser sie von allen Seiten endgültig zu verschlingen droht. Um Mitternacht ruft der Kapitän alle an Deck; dort müssen Schliemann und seine Mitreisenden von nun an ausharren. Irgendwann glaubt Schliemann, möglichst weit oben in den Masten am sichersten zu sein. Als er eben im Begriff ist, hinaufzuklettern, kann das Schiff dem Sturm nicht mehr standhalten – mit einem ohrenbetäubenden Krachen zerbricht es und sinkt. Schliemann verliert den Halt und fällt tief ins eisige Wasser. Mit den letzten Kräften schwimmt er zurück an die Oberfläche. Neben ihm schaukelt eine leere Tonne, die er nach mehreren Anläufen endlich zu fassen kriegt. Seine Hände klammern sich an dem nassen, rutschigen Holz fest. Von der Kälte völlig verkrampft lassen sie auch dann nicht die Tonne los, als ihn die Erschöpfung immer wieder besinnungslos werden lässt. Stundenlang treibt er auf dem Meer, bis er schließlich auf einer Sandbank liegen bleibt. Als Schliemann wieder zu sich kommt, glaubt er, entfernte Stimmen zu hören. Zaghaft öffnet er seine vom Salzwasser brennenden Augen und entdeckt tatsächlich Menschen, von hier aus gesehen kaum größer als Ameisen, die an einem Strand stehen und in seine Richtung zu gestikulieren scheinen. Die Bewohner der holländischen Insel Texel schicken ein Boot mit mehreren Männern hinaus zur Sandbank. Schliemann ist gerettet.
*
Der Schiffbruch und das wundersame Überleben eines äußerlich so unscheinbaren Passagiers – diese Erzählung soll der Auftakt zu Heinrich Schliemanns Lebensbeschreibung sein. Schliemanns Weg wirkt auf der einen Seite eigentümlich, denn bis zu seinem Lebensende fällte er viele Entscheidungen, die teils bizarr anmuten, und ertrug auch viele Schicksalsschläge, von denen manche uns unvorstellbar erscheinen. Auf der anderen Seite treffen wir in Schliemanns Leben ständig auf Bedingungen, Situationen und Wendepunkte, die wir in vielen Biografien seiner Zeitgenossen in ganz ähnlicher Form wiederentdecken und die somit – im großen Kontext betrachtet – an ihrer ursprünglichen Außergewöhnlichkeit deutlich verlieren.
Nur wenige Wochen nach dem traumatischen Ereignis auf See schreibt Schliemann einen vierundsechzigseitigen Brief an seine Schwestern, in dem er schildert, was ihm alles widerfahren ist, seit er seine Heimat Mecklenburg verlassen hat. Natürlich berichtet er ihnen auch von dem Schiffsunglück, alles der »reinsten Wahrheit gemäß«. Sein glückliches Überleben lässt ihn darauf schließen, »dass das Schicksal, was mich so wunderbar gerettet und nach Holland geführt, mir auch hier mein gutes Fortkommen schenken würde …«
Schliemann hat noch mehrmals in seinem Leben den Schiffbruch beschrieben, auch in seiner Selbstbiografie, die rund vierzig Jahre nach dem Ereignis erschien. Während sich hier wie auch bereits in dem Brief an seine Schwestern zeigt, mit welchem Talent er es schaffte, seine Darstellungen präzise, lebendig und eindrucksvoll zugleich zu schildern, nimmt er es mit den Details nicht ganz so genau, ob nun bei solch banalen Angaben wie der Anzahl der an Bord anwesenden Menschen oder der Art des Rettungsmittels. Je nachdem, in welchem Dokument man liest, wird aus der Tonne ein Boot und aus den drei Überlebenden werden vierzehn. Oder es kommen über die Jahrzehnte hinweg dramatische Zugaben hinzu, so zum Beispiel der kleine Koffer Schliemanns, der als einzige Habseligkeit der gesamten Schiffsfracht auf dem Meere schwimmend gefunden wurde und die so wichtigen Empfehlungsschreiben mit sich trug. Schliemann erkannte offenbar sehr früh die Kraft eines Mythos und dessen Tragweite. Die Legende aus seinen jungen Jahren weist auf die Anfänge einer widersinnigen Eigenheit Schliemanns, einer Art von Paradoxie. Denn während er im Laufe des Lebens seine Bestimmung darin fand, die Realität eines der weltbekanntesten Mythen aufzuspüren, ließ er zugleich sein eigenes Leben immer mehr hinter einer selbst geschaffenen Legende verschwinden. Denn wohl nichts wünschte sich Schliemann so sehr, wie seinem Leben von Kindheit an einen Sinn zu verleihen.
*
Am Strand von Texel wartet die kleine Menschengruppe neugierig auf das Boot, das mittlerweile den Gestrandeten von der Sandbank aufgelesen hat und sich auf dem Rückweg befindet. Schliemann verliert zwischendurch erneut das Bewusstsein. Weder bekommt er mit, wie die Strandgänger ihn weg von der Küste in ein nahe gelegenes Haus tragen, noch, wie sie ihn dort behutsam auf eine Sitzbank legen. Erst, als ihn der Wirt des Hauses ein wenig aus der Liegeposition aufrichtet und ihm heißen Kaffee einflößt, gibt Schliemann zum Schrecken aller Anwesenden einen plötzlichen, markerschütternden Schrei von sich. Mit aufgerissenen Augen tastet er vorsichtig seine Zähne ab. Zwei Vorderzähne sind abgebrochen. Stöhnend vor Schmerz betrachtet er nun seinen ganzen Körper. Er ist übersät von Prellungen und Schnitten, die Füße sind dick angeschwollen. Als sich Schliemann von diesem ernüchternden Anblick wieder erschöpft zurücklehnt, fängt der Wirt an, die Wunden zu versorgen. Schliemann tut in diesem Augenblick sogar das Denken weh, trotzdem reicht seine geistige Verfassung aus, um eines ganz sicher zu wissen: Die Reise ist nicht abgebrochen, nur unterbrochen. Lediglich das ursprünglich angestrebte Ziel sollte er noch einmal überdenken.
Einige Tage später ist Schliemann wieder so weit zu Kräften gekommen, um Texel verlassen zu können. Der Wirt hat ihn nicht nur gesund gepflegt und mit Essen aufgepäppelt, sondern ihm auch einen weiteren wertvollen Dienst erwiesen: Schliemann durfte ihm einen Brief an den Schiffsmakler Wendt aus Hamburg diktieren, der ihn überhaupt erst auf die Reise nach Südamerika gebracht hatte. In mehr als dürftiger Kleidung, mit wenigen Almosen in der Tasche und allein in der Hoffnung, von seinem einstigen Gönner bald zu hören und erneut Unterstützung zu erfahren, geht Schliemann an Bord eines Schiffes, das am 20. Dezember in Amsterdam anlegt.
Schliemann nimmt sich, als er das Festland betritt, für seinen ersten Eindruck von der Stadt kaum Zeit; zu eilig hat er es, vom Hafen wegzukommen. Mehrere Stiefelputzer, die die Passagiere des Schiffes in Empfang nehmen, lassen Schliemanns Schritte noch schneller werden: In der zerrissenen Jacke und den alten Klumpschuhen, die der Wirt ihm überlassen hatte, halten sie den heruntergekommenen Mann für einen Konkurrenten und pöbeln ihn von der Seite an. Auch wenn Schliemann ihre Sprache nicht versteht, kann er sich zusammenreimen, dass sie ihn alles andere als willkommen heißen. Eines seiner ersten Ziele ist ein imposantes Haus an der Amstel, in dem Herr Quack, der Konsul von Mecklenburg, lebt. Von diesem erhält er als Starthilfe zehn Gulden, die zusammen mit den Almosen von Texel zur Bezahlung seines ersten Quartiers, für ein paar gebrauchte Kleider und einige Mahlzeiten ausreichen. Die Folgen des Schiffbruchs, der kaum zwei Wochen zurückliegt, sitzen Schliemann tief in den Knochen. Von den wenigen Bewegungen am Tag fällt er am Abend völlig erschlagen ins Bett. Trotzdem findet er keinen tiefen Schlaf. Immer wieder wacht er auf, weiß vor lauter Verwirrung nicht mehr, wo er sich befindet. Fieber kommt hinzu, so stark, dass er wieder das Bewusstsein verliert. Eines Morgens wird er von dem Geruch ungewaschener Kleidung und quälenden Jammerlauten geweckt – die Wirtsleute haben ihn in ein Armenkrankenhaus bringen lassen, und nun liegt er hier, mit dröhnendem Kopf und starken Zahnschmerzen, in einem Zimmer voller kranker Menschen, deren Sprache er nicht spricht, deren Schreie er aber auch ohne Kommunikation versteht. Das also ist Schliemanns erstes Weihnachtsfest fern von Mecklenburg.
Im Pfarrhaus von Ankershagen verbrachte Heinrich Schliemann seine Kindheit.
*
»Heimat, ursprünglich der Ort, an welchem man sein Haus (Heim) hat, an
welchem man wohnt, entspricht also genau dem lateinischen domicilium.«
(Brockhaus, 1902)
Es ist sicherlich kein Zufall, dass ein Begriff erstmals richtig wahrgenommen wurde, als dieser seine jahrhundertealte Selbstverständlichkeit zu verlieren begann. So ist es mit allen Dingen, die den Raum eines Individuums füllen, ob materiell oder immateriell: die innige Beziehung zu einem Menschen, das schützende Dach, die tägliche warme Mahlzeit.
Als im 19. Jahrhundert Massen von Menschen – innerhalb von hundert Jahren werden es mehr als achtzig Millionen gewesen sein – begannen, freiwillig in die Ferne abzuwandern, fragte man sich also, was es eigentlich genau war, das sie für ihre Entscheidung zu opfern bereit waren. Sie ließen ihre Heimat zurück, den Ort, in den sie hineingeboren wurden, wo sie die ersten Kontakte zu anderen Menschen erfuhren, wo sie ihre Kindheit oder zumindest einen Teil davon verbracht hatten. Und die Erfahrungen der Kindheit, das wissen wir heute, können Identität, Charakter, Weltauffassungen entscheidend prägen.
*
Mit gerade einmal neunzehn Jahren fasste Schliemann den Entschluss, seine Heimat zu verlassen. Die Geschichten von den Schicksalen anderer Auswanderer dürften bei den Mecklenburgern bereits bekannt gewesen sein. Weil die Segelschiffe, eigentlich Frachtfahrzeuge, nicht für den Transport von Menschen konzipiert worden waren, lebten die Passagiere wochenlang dicht gedrängt in den stickigen, dunklen Zwischendecks. Sie mussten desaströse hygienische Zustände ertragen und genügend eigene Lebensmittel dabeihaben. Zu wenig Verpflegung wurde vor allem dann gefährlich, wenn die Überfahrt länger dauerte als erwartet. Eine Überseefahrt nach Amerika zu überleben, war alles andere als wahrscheinlich.
Schliemann wird das gewusst haben, als er in Hamburg von einem Schiffsmakler mit dem Angebot konfrontiert wurde, ihm bei einer Arbeitsstelle in Venezuela behilflich sein zu können. Trotzdem sagte er ohne Zögern zu. Statt sich die Gefahren auf offener See vorzustellen, spielten sich in seinem Kopf Schiffs- und Reisefantasien ab, wie er später seinen Schwestern schrieb. Anscheinend träumte er schon seit Jahren davon, woanders ein Leben zu beginnen. Die Abenteuerlust, vielleicht zu diesem Zeitpunkt noch aus einem jugendlichen Leichtsinn heraus geboren, war aber längst nicht der einzige Grund hierfür. Der Blick in Schliemanns Vergangenheit zeigt, dass er nicht viel zu verlieren hatte und deshalb die Flucht nach vorne wagte.
*
»In diesem Dorfe verbrachte ich die acht folgenden Jahre meines Lebens,
und die in meiner Natur begründete Neigung für alles Geheimnisvolle
und Wunderbare wurde durch die Wunder, welche jener Ort enthielt,
zu einer wahren Leidenschaft entflammt.«
(Schliemann, Aus dem Vorwort von Ilios)
Der Weg zu jenem wundersamen, kleinen Dorf namens Ankershagen führt vorbei an sanft geschwungenen Hügeln, Seen und Wiesen, auf denen Kraniche und Störche rasten, vorbei an endlosen Rapsfeldern, die je nach Jahreszeit die einfache Landschaft in sattes Gelb tauchen. Das Erste, worauf der Blick des Besuchers nach dem Ortseingang fällt, ist eine breite Feldsteinkirche, rund achthundert Jahre alt. In einer etwas größeren Siedlung oder umgeben von einer anderen Landschaft würde sie möglicherweise wenig auffallen. Doch dieses Dorf und die weite, stille Umgebung verleihen ihr einen sonderbaren, markanten Charakter. Als würde sie bereits einen Hinweis darauf geben, dass in Ankershagen die Vergangenheit die Gegenwart überwiegt.
Heinrich Schliemann war kaum ein Jahr alt, als sein Vater Ernst Schliemann die Pfarrstelle von Ankershagen übernahm. Der Pastor und seine Frau Luise zogen mit ihren Kindern von Neubukow in das Pfarrhaus direkt gegenüber der Feldsteinkirche.
Wenn Heinrich aus dem Fenster seines Kinderzimmers blickte, konnte er in den Pfarrgarten sehen, bis hinüber zu einem kleinen Teich, der unmittelbar hinter dem Grundstück lag. Schon bald kannte er die Legende vom »Silberschälchen«. Und so stellte er sich spät nachts, wenn er nicht schlafen konnte, gerne vor, wie draußen eine Jungfrau mit einer Silberschale in den Händen aus dem Wasser steigt. Mit seiner Freundin, einem gleichaltrigen Mädchen namens Minna Meincke, die im Nachbardorf lebte, unternahm er nach der Schule ausgiebige Erkundungen der Umgebung. Immer waren die beiden Kinder auf der Suche nach Orten, zu denen vor allem die älteren Dorfbewohner viele unheimliche Geschichten zu erzählen wussten. Dazu mussten sie nicht unbedingt weit laufen – bereits die Gräber auf dem Friedhof um die Feldsteinkirche und die Toten, die dort lagen, sorgten für Nervenkitzel. Besonders gruselten sich Heinrich und Minna vor dem begrabenen Raubritter, dessen Bein angeblich früher jede Nacht aus dem Grab gewachsen war. Der Totengräber, der in den beiden Kindern zwei aufmerksame und stets wiederkehrende Zuhörer gefunden hatte, beschwor, dass er in einer Nacht, als er selbst noch klein gewesen war, das Bein abgeschnitten und damit Birnen von einem Baum geschlagen hätte. Heinrich bat daraufhin seinen Vater immer wieder darum, das Grab öffnen zu lassen, um endlich die Ursache dafür zu finden, weshalb das Bein mittlerweile nicht mehr an die Oberfläche wachsen wollte.
Manchmal durchstreiften die Kinder die Ruinen der nahe gelegenen Burg, wo der Raubritter mit dem unsterblichen Bein einst gelebt haben soll. Sie kletterten auf den zwei Meter dicken Mauern oder suchten nach unterirdischen Geheimgängen. An anderen Tagen gingen sie zu einer prähistorischen Stätte in der Nähe des Dorfes, einem Hünengrab. Der Legende zufolge war darin ein Kind in einer Wiege aus Gold bestattet worden. Heinrich verstand nicht, warum sein Vater in finanziellen Notzeiten nicht einfach die Wiege aus dem Grab schaufelte, um seine Geldsorgen ein für alle Mal zu lösen.
Heinrich behielt diese Abenteuer bis ins hohe Alter in schöner, fast romantischer Erinnerung, und in Minna hatte er eine Freundin gefunden, die die Begeisterung für seine absonderlichen Freizeitaktivitäten teilte. Als sie in einem Winter gemeinsame Tanzstunden nahmen, machten die beiden Kinder im Anschluss oftmals noch einen Spaziergang über den Friedhof oder lasen in den Kirchenbüchern; am liebsten durchforsteten sie alte Geburts-, Ehe- und Todeslisten. Heinrich war nach solchen Nachmittagen ganz beseelt von Abenteuer und Nervenkitzel. Spätestens aber, wenn er für das Abendbrot mit flinken Schritten zu seiner Familie zurückkehrte, kräftig an der Türklinke des Pfarrhauses zog, in den dunklen Eingang trat und die Holzdielen unter seinen Schuhen zu knarzen begannen, schienen die wunderbaren Erlebnisse des Tages in weite Ferne gerückt zu sein. Wenn die schwere Holztür krachend hinter ihm ins Schloss fiel, holte Heinrich die Realität endgültig ein.
*
Es erfordert viel psychologisches Feingefühl, ein gesundes Maß an Empathie und ebenso viel professionelle Distanz für den Versuch, die Erlebnisse und Folgen der Kindheit einer fremden Person nachzuzeichnen. Die Kindheit ist, gerade weil der Mensch zu diesem Zeitpunkt noch kein selbstständiger Teil der Gesellschaft ist, eine Phase, die zu einem wesentlichen Teil hinter verschlossenen Türen stattfindet. Die Zeugen sind in der Mehrheit Menschen, die dem Kind sehr nahestehen, somit aber auch befangen sind; andere Quellen stehen kaum zur Verfügung. Es wird nicht einfacher, wenn es um die Kindheit eines Mannes geht, der in einem anderen Zeitalter lebte. Wir müssen allein mit seinen persönlichen Erzählungen arbeiten und hinnehmen, dass sich – wer kennt es nicht – die Erinnerungsfetzen an die früheste Kindheit über die Jahre hinweg verzerren können. Wenn der Betroffene an ihre Wahrheit glaubt, ist es vielleicht hinfällig, wie viel davon tatsächlich genauso stattfand.
*
Das, woran Heinrich Schliemann sich erinnert, verfolgte ihn sein Leben lang. In einer italienischen Sprachübung, die er dreißig Jahre später zu Papier bringen wird, zeichnet er die Situation zwischen seinen Eltern so eindrücklich nach, als wäre sie erst gestern geschehen: Sein Vater – Heinrich hält ihn für verabscheuenswürdig – ging regelmäßig fremd und misshandelte seine Mutter. Er schwängerte sie und ließ nicht mehr von ihr ab.
Die Konflikte zwischen Ernst und Luise Schliemann könnten sich in den ersten Jahren noch unbemerkt von den Dorfbewohnern in den eigenen vier Wänden zugetragen haben. Die Liebschaften des Pastors sprachen sich aber sicherlich bald herum, und spätestens seine Beziehung zum eigenen Dienstmädchen namens Sophie Schwarz wurde zu einem offenen Geheimnis. Als Luise Schliemann die Demütigungen nicht mehr aushielt und die Magd aus dem Haus warf, waren die Konflikte damit nicht beendet. Im Gegenteil: Heinrichs Vater wurde gegenüber seiner Frau noch aggressiver, die Hausangestellten erzählten im Dorf, dass er sie schlagen würde. Seine Geliebte brachte er in einem Zimmer im benachbarten Waren unter und besuchte sie dort, sooft er konnte. Seine Pflichten als Pastor vernachlässigte er ebenso wie seine Familie. Das Martyrium, das vor allem Heinrichs Mutter durchlebte, muss unvorstellbar gewesen sein. In einem ihrer letzten Briefe an Heinrichs ältere Schwester Elise, die wohl zur selben Zeit eine Ausbildung zur Wirtschafterin in Parchim machte, schien sich die Mutter innerlich bereits auf den nahenden Tod vorzubereiten: »Aber die Tage, die dann kommen, kannst Du jeden Augenblick denken, dass ich im Kampfe zwischen Leben oder Todt bin. Solltest Du von letzterem benachrichtigt werden, so gräme Dich nicht viel, sondern freue Dich vielmehr, dass ich ausgelitten habe auf dieser für mich so undankbaren Welt!«
Zwei Monate, nachdem sie ihr neuntes Kind, Heinrichs Bruder Paul, zur Welt gebracht hatte, starb Luise Schliemann mit sechsunddreißig Jahren an den Folgen eines Nervenfiebers – eine Krankheit, die durch psychischen Stress oder seelische Erschöpfungszustände ausgelöst werden kann. Wer diese verursacht haben könnte, wusste mittlerweile das gesamte Umfeld. Heinrich war damals neun Jahre alt.
Bereits einen Tag nach dem Tod der Frau ließ Ernst Schliemann einen Nachruf veröffentlichen. Der Pastor hatte innerhalb weniger Stunden einen ungewöhnlich langen, detaillierten Text verfasst, in dem es ihm mit schwülstigen Worten auf bemerkenswerte Weise gelang, weniger von seiner Frau, als vielmehr über sich selbst zu schreiben: Eigentlich ging es in der Todesanzeige um das Schicksal eines bemitleidenswerten Witwers und alleinerziehenden Vaters von sieben Kindern. Ernst Schliemann übernahm sowohl die Trauerrede in der Kirche als auch die Rede am offenen Grab. Seine Frau ließ er an einer Stelle auf dem Friedhof bestatten, die gut sichtbar vom Pfarrhaus lag. Er ließ dem Schein seiner unendlichen Trauer ungefähr ein halbes Jahr Zeit. Dann holte er Sophie Schwarz zu sich ins Haus zurück. Nun ging das Martyrium von Neuem los – diesmal für Heinrich und seine Geschwister.