Buch lesen: «Befreite Schöpfung»
Meiner Tochter Janila und meiner Frau Maritza,
die mich auf diesem Weg mit ihrer Liebe und ihrer Aufmunterung
unterstützt haben;
allen meinen Lehrern,
die mich mit ihrem Einsichtsvermögen und ihrer Weisheit inspiriert haben;
und dem lebendigen Kosmos,
dessen sich entfaltende Schönheit mich mit Ehrfurcht erfüllt.
Mark Hathaway
Mirian Vilela und Steven Rockefeller
für ihre tiefe Liebe zur lebendigen Erde
und für ihren wesentlichen Beitrag zur Verfassung der Erdcharta.
Leonardo Boff
Originalausgabe:
Mark Hathaway / Leonardo Boff, The Tao of Liberation. Exploring the Ecology of Transformation, Maryknoll, Orbis Books, New York 2009
© 2009 by Mark Hathaway and Leonardo Boff
Die E-Book-Ausgabe entspricht im Wesentlichen der ungekürzten Originalausgabe.
„Orientierung durch Diskurs“
Die Sachbuchsparte bei Butzon & Bercker, in der dieser Band erscheint, wird beratend begleitet von Michael Albus, Christine Hober, Bruno Kern, Tobias Licht, Cornelia Möres, Susanne Sandherr und Marc Witzenbacher
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
E-Book (Mobi): ISBN 978-3-7666-4306-3
E-Pub: ISBN 3-978-3-7666-4304-9
© 2016 Butzon & Bercker GmbH, Hoogeweg 100, 47623 Kevelaer,
Deutschland, www.bube.de
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlagabbildung: © ilcondor – Fotolia.com
Umschlaggestaltung: Christoph Kemkes, Geldern.
Satz: Schröder Media GbR, Dernbach
Printed in Germany
Inhalt
Vorwort (Fritjof Capra)
Über das Tao Te King
Prolog
1. In einer Zeit der Krise nach Weisheit streben
Die Krise der Erde: Eine kosmische Perspektive
Das Streben nach Weisheit
Die Erkundung der Hindernisse
Tiefer eintauchen: Kosmologie und Befreiung
Die Ökologie der Veränderung
Teil I: Erkundung der Hindernisse
2. Ein pathologisches System entlarven
Krankheitssymptome
Krebsartiges Wachstum
Verzerrte Entwicklung
Herrschaft der Konzerne
Ein parasitäres Finanzsystem
Monokultur des Geistes
Macht als Herrschaft
Von der Krankheit zur Gesundheit
3. Jenseits der Herrschaft
Tiefenökologie
Ökofeminismus
Die Ursprünge von Patriarchat und Anthropozentrismus
Der globale Kapitalismus: Ein androzentrisches System
Macht neu denken
4. Die Lähmung überwinden und die Psyche erneuern
Die Dynamik der Ohnmacht
Systemische Verstärkungen
Tiefer eintauchen: Perspektiven der Ökopsychologie
Von der Lähmung zur Wiederherstellung der Verbindung
Teil II: Kosmologie und Befreiung
5. Die Neuentdeckung der Kosmologie
Traditionelle Kosmologien
Der Verlust der Kosmologie im Westen
Kosmologie und Veränderung
6. Die Kosmologie der Herrschaft
Vom Organismus zur Maschine: Der Tod des lebendigen Kosmos
Das Ganze auf Teile reduzieren: Atomistischer Materialismus
Die Natur unterwerfen: Das Streben nach Kontrolle
Ewigkeit, Determinismus und Sinnverlust
Privater Vorteil, Fortschritt und das Überleben der am besten Angepassten
Eine Kosmologie der Ausbeutung und Verzweiflung
Jenseits des Mechanismus
7. Die Materie überschreiten: Der ganzheitliche Mikrokosmos
Dinglosigkeit
Radikale Relationalität
Die schwangere Leere
Die Immanenz des Geistes
Der holografische Kosmos
Quantenholismus
8. Komplexität, Chaos und Kreativität
Erkundung der Systemtheorie
Das Entstehen von Kreativität und Geist
Komplexität und Veränderung
9. Gedächtnis, morphische Resonanz und Emergenz
Der Widerhall des Gedächtnisses
Jenseits des genetischen Determinismus
Von ewigen Gesetzen zu sich entwickelnden Gewohnheiten
Kreativität und Veränderung
Morphische Resonanz und verändernde Praxis
10. Der Kosmos als Offenbarung
Kosmogenese
Die Entfaltung des Lebens
Gaia: Die lebendige Erde
Ein Gespür für Sinn
Die Weisheit des Kosmos
Das Menschsein neu erfinden
Die Erd-Charta als ein gemeinsamer Rahmen
Teil III: Das Tao der Befreiung
11. Spiritualität für das Ökozoikum
Spiritualität verstehen
Ökologie, Spiritualität und die christliche Tradition
Die Rolle der Religionen
12. Die Ökologie der Veränderung
Handeln im Gleichklang mit dem Tao
Eine neue Vision entwerfen
Ein vierfacher Pfad zur Befreiung
Die Reise fortsetzen
Literatur
Vorwort
Im Laufe unseres Jahrhunderts werden zwei Entwicklungen das künftige Wohl der Menschheit besonders stark beeinflussen. Die eine ist der Aufstieg des globalen Kapitalismus, und bei der anderen handelt es sich um die Schaffung nachhaltiger Gemeinschaften auf der Grundlage der Praxis des ökologischen Designs.
Der globale Kapitalismus hat es mit elektronischen Netzwerken des Finanz- und Informationsflusses zu tun, während sich das Ökodesign mit ökologischen Netzwerken des Energie- und Materialflusses beschäftigt. Das Ziel der globalen Wirtschaft in ihrer derzeitigen Form ist die Maximierung von Reichtum und Macht ihrer Eliten. Das Ziel des Ökodesigns hingegen ist es, die dauerhafte Tragfähigkeit des Lebensnetzes in höchstmöglicher Weise zu entwickeln. Diese beiden Szenarien befinden sich derzeit auf Kollisionskurs.
Die neue Ökonomie, die aus der informationstechnischen Revolution der letzten drei Jahrzehnte hervorging, organisiert sich weitgehend um Netzwerke von Finanzströmen. Hoch entwickelte Informations- und Kommunikationstechniken versetzten das Finanzkapital in die Lage, sich auf seiner rastlosen Suche nach Investitionsmöglichkeiten mit hoher Geschwindigkeit rund um den Globus zu bewegen. Das System stützt sich auf Computersteuerung, mit deren Hilfe die außerordentliche Komplexität bewältigt werden kann, wie sie aus der schnellen Deregulierung und einer verwirrenden Vielfalt neuer Finanzinstrumente heraus entstanden ist.
Diese Art von Ökonomie ist so komplex und von Turbulenzen geprägt, dass eine herkömmliche ökonomische Analyse an ihr scheitert. Die Zocker in diesem Kasino sind keine geheimnisvollen Spekulanten, sondern größere Investmentbanken, Pensionsfonds, transnationale Konzerne und Investmentfonds, die ausdrücklich zum Zweck der Finanzmanipulation geschaffen wurden. Der sogenannte globale Markt ist streng genommen überhaupt kein Markt, sondern vielmehr eine Maschine, die auf einen einzigen Zweck hin programmiert wurde, der alle anderen Werte ausschließt: Geld zu machen. Das heißt, dass die wirtschaftliche Globalisierung systematisch alle ethischen Dimensionen des Geschäftslebens ausgeblendet hat.
In den letzten Jahren wurden die sozialen und ökologischen Auswirkungen der Globalisierung von Wissenschaftlern und für das Gemeinwesen Verantwortlichen ausgiebig diskutiert. Deren Analysen machen deutlich, dass die neue Ökonomie eine Vielzahl miteinander verflochtener schädlicher Folgen hervorbringt. Sie hat einer Weltelite von Finanzspekulanten, Unternehmern und High-Tech-Spezialisten zu Reichtum verholfen. Ganz oben ist es zu einer bislang noch nie da gewesenen Akkumulation von Wohlstand gekommen. Doch insgesamt waren die sozialen und ökologischen Folgen katastrophal. Und wie wir an der Finanzkrise des Jahres 2008 erkennen konnten, hat diese neue Ökonomie auch den finanziellen Wohlstand der Menschen überall auf der Welt gefährdet.
Der neue globale Kapitalismus führte zu einer wachsenden sozialen Ungleichheit und zu gesellschaftlicher Ausgrenzung, zu einem Niedergang der Demokratie, zu einer noch schnelleren und immer weiter um sich greifenden Verschlechterung der natürlichen Lebensgrundlagen, zu wachsender Armut und Entfremdung. In der ganzen Welt hat er lokale Gemeinschaften bedroht und zerstört, und indem er eine falsch verstandene Biotechnik förderte, hat er sich an der Heiligkeit des Lebens selbst vergriffen: Er hat versucht, Vielfalt in Monokultur zu verwandeln, Ökologie zum Engineering verkommen zu lassen und das Leben selbst zur Ware zu degradieren.
Es ist zunehmend deutlich geworden, dass der globale Kapitalismus in seiner derzeitigen Gestalt weder sozial noch ökologisch, ja nicht einmal in finanzieller Hinsicht nachhaltig ist und von Grund auf umgestaltet werden muss. Das ihm zugrunde liegende Prinzip, dass das Geldmachen den Vorrang vor Menschenrechten, Demokratie, Schutz der Umwelt und jeglichem anderen Wert haben soll, ist ein Programm, das direkt in die Katastrophe mündet. Doch dieses Prinzip kann verändert werden. Es ist kein Naturgesetz. Dieselben elektronischen Netzwerke des Finanz- und Informationsflusses könnten im Sinne von anderen Werten programmiert werden. Der entscheidende Punkt ist nicht die Technik, sondern die Politik. Die große Herausforderung des 21. Jahrhunderts wird darin bestehen, das der globalen Wirtschaft zugrunde liegende Wertesystem so zu ändern, dass es mit den Erfordernissen der Würde des Menschen und der ökologischen Nachhaltigkeit vereinbar ist.
Der Prozess der Umgestaltung der Globalisierung hat faktisch bereits begonnen. Zur Jahrhundertwende hat sich eine eindrucksvolle weltweite Koalition von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) genau zu diesem Zweck herausgebildet. Diese Koalition, die auch weltweite Bewegung für soziale Gerechtigkeit genannt wird, hat eine Reihe von erfolgreichen Protestveranstaltungen anlässlich der Treffen der WTO (Welthandelsorganisation), der G 7 und der G 8 organisiert und mehrere Weltsozialforen – meistens in Brasilien – veranstaltet. Bei diesen Treffen arbeiteten die NGOs eine ganze Reihe von Vorschlägen für eine alternative Handelspolitik aus, die auch konkrete und radikale Forderungen zur Umstrukturierung der globalen Finanzinstitutionen beinhalteten, welche den Charakter der Globalisierung tiefgreifend verändern würden.
Diese weltweite Bewegung für soziale Gerechtigkeit ist ein Beispiel für eine neue Art von politischer Bewegung, wie sie für unser Informationszeitalter typisch ist. Die professionelle Nutzung des Internets ermöglicht es den NGOs, sich miteinander zu vernetzen, Informationen auszutauschen und ihre Mitglieder in so kurzer Zeit wie nie zuvor zu mobilisieren. Aufgrund dessen wurden die neuen weltweiten NGOs zu effektiven politischen Akteuren, die unabhängig von den herkömmlichen nationalen oder internationalen Institutionen sind. Sie bilden einen neuen Typus der globalen Zivilgesellschaft.
Um den politischen Diskurs innerhalb einer systemischen und ökologischen Perspektive zu verorten, stützt sich die globale Zivilgesellschaft auf ein Netzwerk von Wissenschaftlern, Forschungsinstituten, „think tanks“ und Studienzentren, die weitgehend außerhalb unserer führenden akademischen Institutionen, kommerziellen Organisationen und von der Regierung abhängigen Trägern tätig sind. Heute gibt es Dutzende solcher Forschungs- und Studieneinrichtungen auf der ganzen Welt. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie ihre Arbeit innerhalb eines ausdrücklich formulierten Rahmens gemeinsamer zentraler Werte durchführen.
Die meisten dieser Forschungseinrichtungen bilden Gemeinschaften von Wissenschaftlern und Aktivisten gleichermaßen, die sich in einer Vielzahl unterschiedlicher Projekte und Kampagnen engagieren. Dabei scheinen sich die größten und aktivsten Koalitionen an der Basis auf drei Themenbereiche zu konzentrieren. Der eine betrifft die Umgestaltung der herrschenden Spielregeln und Institutionen der Globalisierung; einen weiteren bildet der Widerstand gegen genetisch manipulierte Nahrungsmittel und die Förderung einer nachhaltigen Landwirtschaft; und der dritte ist das ökologische Design, das heißt ein konzertiertes Bemühen darum, unsere Infrastruktur, die Städte, die Technologien und Industrien so umzugestalten, dass sie ökologisch nachhaltig werden.
Im weitesten Sinne meint Design die Gestaltung von Energie- und Materialströmen für die Zwecke des Menschen. Ökologisches Design ist ein Prozess, im Verlauf dessen unsere menschlichen Zwecksetzungen sorgfältig mit den umfassenderen Mustern und Strömen der Natur verknüpft werden. Die Prinzipien des ökologischen Design bilden die Organisationsprinzipien ab, welche die Natur entwickelt hat, um das Gewebe des Lebens dauerhaft zu erhalten: ein steter Kreislaufstrom der Materie, die Nutzung von Sonnenenergie, eine Abkehr vom Bestreben herauszufinden, was wir der Natur entnehmen können, und eine Hinwendung zu dem, was wir von ihr lernen können.
In den letzten Jahren nahmen die Praktiken und Projekte eines ökologisch orientierten Designs einen enormen Aufschwung; sie alle sind inzwischen gut dokumentiert. Dazu zählen eine weltweite Renaissance ökologischer Landwirtschaft; die Neuorganisation verschiedener Industriezweige zu Einheiten, innerhalb derer der Abfall des einen die Ressource des anderen bildet; die Abkehr von einer am Produkt orientierten Wirtschaft hin zu einer an Dienstleistungen und Stoffströmen orientierten Wirtschaft, in welcher die industriellen Rohmaterialien und technischen Komponenten beständig zwischen Herstellern und Verbrauchern zirkulieren; Gebäude, die so gestaltet sind, dass sie mehr Energie erzeugen als verbrauchen (Passivenergiehäuser), keinen Abfall produzieren und ihren Betrieb aus eigenen Ressourcen aufrechterhalten; Autos mit Hybridantrieb, die gegenüber herkömmlichen Autos eine um ein Vielfaches effizientere Nutzung des Treibstoffs aufweisen, etc.
Diese Techniken und Projekte des Ökodesign setzen allesamt die Grundprinzipien der Ökologie um und weisen deshalb einige wesentliche Gemeinsamkeiten auf. Es sind tendenziell Projekte kleinen Zuschnitts, die eine reichhaltige Vielfalt aufweisen, die Energie effizient nutzen, keine Verschmutzung verursachen, am Gemeinwesen orientiert und arbeitsintensiv sind und damit eine Menge Arbeitsplätze schaffen. Die heute verfügbaren Techniken liefern den schlagenden Beweis dafür, dass der Übergang zu einer nachhaltigen Zukunft kein technisches oder konzeptionelles Problem mehr darstellt. Er ist lediglich eine Frage von Werten und des politischen Willens.
Es hat den Anschein, als hätte dieser politische Wille in den letzten Jahren bedeutend zugenommen. Ein bemerkenswertes Anzeichen dafür ist Al Gores Film Eine unbequeme Wahrheit, der für die Förderung des ökologischen Bewusstseins eine wichtige Rolle gespielt hat. Im Jahr 2006 hat Al Gore persönlich zwölfhundert Freiwillige darin geschult, seine berühmte Dia-Show vorzuführen und die Botschaft weltweit zu verbreiten. Bis 2008 hatten sie fast zweitausend Präsentationen durchgeführt und damit ein Gesamtpublikum von zwei Millionen Menschen erreicht. In der Zwischenzeit hatte das Klima-Projekt, Gores Organisation, über tausend in gleicher Weise engagierte Personen in Australien, Kanada, Indien, Spanien und Großbritannien geschult. Sie verfügen nun über 2600 Referenten und haben weltweit ein Publikum von mehr als vier Millionen Menschen erreicht.
Eine weitere wichtige Entwicklung stellt das Erscheinen des Buches Plan B 3.0. So retten wir die Welt von Lester Brown, dem Gründer des Worldwatch Institute und einem der einflussreichsten ökologischen Vordenker dar. Der erste Teil von Browns Buch ist eine detaillierte Darstellung der grundlegenden wechselseitigen Verflochtenheit unserer hauptsächlichen Probleme. In einer Klarheit, die nichts zu wünschen übrig lässt, zeigt er auf, wie der Teufelskreis von Bevölkerungsdruck und Armut zur Erschöpfung der Ressourcen führt ‒ zu sinkenden Grundwasserspiegeln, versiegenden Quellen, schrumpfenden Wäldern, schwindenden Fischbeständen, Bodenerosion, Ausbreitung von Wüsten usw. – und wie diese Erschöpfung von Ressourcen, die durch den Klimawandel noch verschärft wird, gescheiterte Staaten hervorbringt, deren Regierungen ihren Bürgern keine Sicherheit mehr gewährleisten können. Von diesen werden einige aus purer Verzweiflung Terroristen.
Dieser erste Teil ist – wie nicht anders zu erwarten – deprimierend. Der zweite Teil hingegen, ein detaillierter Wegweiser zur Rettung der Zivilisation, ist optimistisch und höchst spannend. Er enthält die Beschreibung mehrerer gleichzeitiger Aktionen, die sich wechselseitig verstärken und damit die wechselseitige Abhängigkeit der Probleme, auf die sie reagieren, abbilden. Jeder einzelne der Vorschläge kann mithilfe von bereits vorhandenen Techniken umgesetzt werden, und tatsächlich werden auch alle Vorschläge anhand von erfolgreichen Beispielen irgendwo auf der Welt illustriert. Browns Buch ist möglicherweise der klarste Aufweis der Tatsache, dass wir über das Wissen, die Techniken und die finanziellen Mittel verfügen, um die Zivilisation zu retten und eine nachhaltige Zukunft aufzubauen. […] Es bleiben jedoch einige grundlegende Fragen. Warum hat es so lange gedauert, bis wir die ernsthaften Gefährdungen des Überlebens der Menschheit erkannten? Warum sind wir so furchtbar langsam darin, unsere Wahrnehmung, unser Denken, unseren Lebensstil und unsere Institutionen zu ändern, die die Ungerechtigkeit und die Zerstörung der Fähigkeit unseres Planeten, Leben dauerhaft zu beherbergen, beharrlich fortschreiben?
Diese Fragen bilden die Hauptthemen dieses Buches. Die Autoren – einer kommt aus dem Süden des Globus, der andere aus dem Norden ‒ haben beide sehr gründlich über theologische Fragen sowie Fragen um das Thema Gerechtigkeit und Ökologie nachgedacht. Ihre Antwort auf die oben gestellten Fragen ist, dass die grundlegende Herausforderung in viel mehr besteht als in der Verbreitung von Wissen und in der Veränderung von Gewohnheiten. Aus ihrer Perspektive sind all die Bedrohungen, mit denen wir konfrontiert sind, Symptome einer tiefer liegenden kulturellen und spirituellen Krankheit, von der die Menschheit befallen ist. Dem System, das zurzeit herrscht und unsere Welt ausplündert, wohnt – so behaupten sie – eine tief sitzende Krankheit inne. Armut und Ungleichheit, Raubbau an der Erde und die Vergiftung des Lebens stellen sie als die drei Hauptsymptome dieser Krankheit heraus, und sie stellen fest, dass „dieselben Kräfte und Ideologien, welche die Armen ausbeuten und ausgrenzen, auch die gesamte Lebensgemeinschaft der Erde verwüsten“.
Die Überwindung dieser tief sitzenden Erkrankung erfordert nach Meinung der Autoren eine grundlegende Veränderung des menschlichen Bewusstseins. „In einem sehr realen Sinne“, schreiben sie, „sind wir dazu aufgerufen, uns selbst als Art neu zu erfinden.“ Diesen Prozess tiefer Veränderung bezeichnen sie als „Befreiung“. Sie verwenden diesen Ausdruck in dem Sinn, in dem er innerhalb der Tradition der Theologie der Befreiung benutzt wird, das heißt sowohl im persönlichen Sinne spiritueller Entfaltung oder Erleuchtung als auch im kollektiven Sinne eines Volkes, das danach strebt, sich selbst aus der Unterdrückung zu befreien. Meiner Ansicht nach verleiht dieser zweifache Gebrauch des Terminus „Befreiung“ dem Buch seinen einzigartigen Charakter. Denn er versetzt die Autoren in die Lage, die gesellschaftliche, politische, wirtschaftliche, ökologische, emotionale und spirituelle Dimension der gegenwärtigen globalen Krise im Zusammenhang zu bedenken.
Wie Hathaway und Boff im Prolog feststellen, ist das „Tao der Befreiung“ ein Streben nach der Weisheit, die nottut, um tiefgehende befreiende Veränderungen in unserer Welt zustande zu bringen. Im Bewusstsein, dass eine solche Weisheit letztlich nicht in Worte gefasst werden kann, haben sie sich dazu entschlossen, sie mithilfe des alten chinesischen Wortes Tao („der Weg“) zu beschreiben. Dieses meint sowohl einen individuellen spirituellen Weg als auch die Art und Weise, wie sich das Universum entfaltet. Der taoistischen Tradition zufolge erreichen wir spirituelle Erfüllung dann, wenn wir in Einklang mit der Natur handeln. Mit den Worten des chinesischen Klassikers Huai Nan zu formuliert: „Diejenigen, die der natürlichen Ordnung folgen, treiben im Strom des Tao.“
Die Weisheit, die nötig ist, um von einer von unbegrenztem Wachstum und materiellem Konsum besessenen Gesellschaft zu einer auf Dauer lebensförderlichen Zivilisation des Gleichgewichts zu gelangen, setzt in diesem Buch zwei Schritte voraus. Der erste Schritt besteht darin, die sehr konkreten Hindernisse zu verstehen, die sich einer befreienden Veränderung in den Weg stellen. Der zweite Schritt ist die Ausformulierung einer „Kosmologie der Befreiung“ – eine Zukunftsvision, die – wie es der im Buch zitierte Thomas Berry herausstellt – „attraktiv genug ist, um uns in dem jetzt sich vollziehenden Veränderungsprozess des Projektes Mensch zu halten“.
Die vielfältigen und miteinander verquickten Hindernisse, wie sie Hathaway und Boff erkunden, haben ihre Ursache in unseren politischen und wirtschaftlichen Strukturen. Sie werden von einer mechanistischen und deterministischen Weltanschauung noch verstärkt und durch Ohnmachtsgefühle, Verleugnung und Verzweiflung verinnerlicht. Die äußeren, „systemischen“ Hindernisse werden ausführlich besprochen. Sie umfassen die Illusion unbegrenzten Wachstums auf einem endlichen Planeten, übermäßige Macht transnationaler Konzerne, ein parasitäres Finanzsystem und eine Tendenz, Wissen zu monopolisieren und – wie es Vandana Shiva ausdrückt – eine geistige Monokultur durchzusetzen. Die Autoren erläutern, dass diese äußeren Hindernisse durch unterdrückerische Erziehungssysteme, die Manipulation der Massenmedien, einen alles durchdringenden Konsumismus und künstliche Umwelten (besonders im städtischen Raum), die uns von der lebendigen Natur isolieren, verstärkt werden.
Um die verinnerlichte Ohnmacht zu überwinden, die die Gestalt von Abhängigkeit und Gier, Verleugnung, psychische Abstumpfung oder Verzweiflung annehmen kann, müssen wir – so schlagen die Autoren vor – unseren Selbst-Sinn erweitern. Wir müssen unsere Fähigkeit, Mitleid zu empfinden, Gemeinschaft aufzubauen und Solidarität zu üben, verstärken, unser Empfinden dafür, dass wir der Erde angehören, von Neuem wecken und dadurch unser „ökologisches Selbst“ wiederentdecken. Sie schlagen vor, dass wir „uns auf die Dinge konzentrieren sollen, die uns wirklich erfreuen, die uns tatsächlich Vergnügen bereiten: Zeit mit unseren Freunden verbringen, spazieren gehen, Musik hören oder sich über eine einfache Mahlzeit freuen“. Das Meiste von dem, was uns wirklich Freude bereitet, so betonen sie, kostet wenig oder gar kein Geld.
Doch um wirklich aufzuwachen und die Verbindung von Neuem herzustellen, bedarf es auch eines neuen Verständnisses von der Wirklichkeit und eines neuen Bewusstseins vom Platz der Menschheit innerhalb des Kosmos. Wir brauchen „eine lebendige und vitale Kosmologie“. Die Autoren benutzen den Ausdruck „Kosmologie“ im Sinne einer gemeinsamen Weltanschauung, die unserem Leben Sinn verleiht, und sie stellen eine gegenwärtig entstehende „Kosmologie der Befreiung“ einer „Kosmologie der Herrschaft“ gegenüber, die eine „Ersatzkosmologie des Erwerbs und Konsums“ beinhaltet, welche zurzeit unsere modernen Industriegesellschaften in Bann hält.
Die Autoren behaupten, dass ein neues Verständnis des Kosmos nun aus der modernen Wissenschaft hervorgeht, die auf vielfache Weise frühere autochthone Kosmologien in Erinnerung ruft. Doch im Gegensatz zu den meisten von ihnen nimmt die neue wissenschaftliche Weltsicht ein sich entwickelndes Universum in den Blick und stellt deshalb einen geeigneten begrifflichen Rahmen für die befreiende Veränderung dar, deren wir bedürfen. Zur Untermauerung dieser These schöpfen Hathaway und Boff aus einem riesigen Fundus zeitgenössischer Denker: Philosophen, Theologen, Psychologen und Naturwissenschaftler. Innerhalb des breiten Spektrums von Gedanken, Modellen und Theorien, die sie diskutieren, sind nicht alle miteinander vereinbar. Einige wenige sind esoterischer Natur und bewegen sich definitiv außerhalb des wissenschaftlichen Konsenses. Und manchmal ziehen die Autoren Schlussfolgerungen, die über den gegenwärtigen Stand der Wissenschaften hinausgehen. Doch es gelingt ihnen auf bewundernswerte Weise, die Entstehung eines neuen, in sich stimmigen Wirklichkeitsverständnisses aufzuzeigen.
Die Pioniere der heutigen Naturwissenschaften betrachten das Universum nicht mehr als eine Maschine, die sich aus elementaren Bauteilen zusammensetzt. Wir haben entdeckt, dass die materielle Welt letztlich ein Netzwerk untrennbarer Muster von Beziehungen ist; dass der Planet als ganzer ein lebendiges, sich selbst regulierendes System ist. Die Auffassung vom Körper als einer Maschine und vom Geist als einer davon getrennten Entität wurde ersetzt von einer Sichtweise, die nicht nur das Gehirn, sondern auch das Immunsystem, die Gewebearten des Körpers, ja sogar jede einzelne Zelle als lebendige, kognitive Systeme betrachtet. Die Evolution wird nicht mehr als der Wettkampf ums Überleben aufgefasst, sondern als kooperativer Tanz, in dem Kreativität und das ständige Auftreten von Neuheit die treibenden Kräfte darstellen. Und mit dem neuen Akzent auf Komplexität, Netzwerke und Organisationsmuster entwickelt sich langsam eine neue „Wissenschaft der Qualität“.
Die Autoren vertreten auch – zu Recht, wie ich meine – die Auffassung, dass die im Entstehen begriffene wissenschaftliche Kosmologie in völlige Übereinstimmung mit der spirituellen Dimension der Befreiung gebracht werden kann. Sie erinnern die Leser daran, dass innerhalb ihrer eigenen christlichen Tradition die ursprüngliche Bedeutung von Geist – ruha im Aramäischen, ruach auf Hebräisch – der Atem des Lebens ist. Dies ist auch die ursprüngliche Bedeutung von spiritus, anima, pneuma und anderer antiker Ausdrücke für „Seele“ oder „Geist“. Spirituelle Erfahrung ist demzufolge zuerst und in erster Linie eine Erfahrung des Lebendig-Seins. Ihr zentraler Bewusstseinsinhalt besteht zahlreichen Zeugen zufolge in einem tiefen Empfinden der Einheit mit Allem, einem Empfinden dafür, dem Universum als ganzem anzugehören.
Dieses Gespür für die Einheit mit der natürlichen Welt wird durch die neue Auffassung vom Leben in den modernen Naturwissenschaften völlig bestätigt. Sobald wir begreifen, wie die Wurzeln des Lebens tief in die Grundlagen der Physik und Chemie hineinreichen, wie die sich entfaltende Komplexität lange vor der Entstehung der ersten lebenden Zellen ihren Anfang nahm und wie sich das Leben im Laufe von Milliarden von Jahren entwickelt hat, indem es immer wieder auf dieselben Grundmuster und Prozesse zurückgriff, werden wir gewahr, wie eng wir mit dem gesamten Gewebe des Lebens verbunden sind.
Das Bewusstsein davon, mit der gesamten Natur verbunden zu sein, ist besonders stark innerhalb der Ökologie. Verbundenheit, Beziehung und wechselseitige Abhängigkeit sind Grundbegriffe der Ökologie. Und Verbundenheit, Beziehung und Zugehörigkeit bilden auch das Wesen der spirituellen Erfahrung. So scheint die Ökologie die ideale Brücke zwischen Wissenschaft und Spiritualität zu sein. Und in der Tat plädieren Hathaway und Boff für eine „ökologische Spiritualität“, der es in erster Linie um die Zukunft des Planeten Erde und der Menschheit insgesamt geht.
Sie zeigen auf, dass jede Religion einzigartige ökologische Einsichten und Zugänge aufweist, und sie ermutigen uns dazu, diese Vielfalt von Lehren nicht als eine Bedrohung, sondern vielmehr als eine Stärke zu betrachten. „Jeder von uns muss von Neuem in die jeweils eigene religiöse Tradition hineinschauen“, schlagen die Autoren vor, „und die Einsichten darin aufspüren, die uns zu einer Ehrfurcht vor allem Leben, zu einer Ethik des Teilens und der Fürsorge, zu einer Vision des im Kosmos inkarnierten Heiligen hinführen.“
Das Tao der Befreiung beinhaltet auch viele konkrete Vorschläge für Ziele, Strategien und politisches Handeln für effektive Veränderung, die zu einer gerechten und ökologisch nachhaltigen Gesellschaft führt. Zwei Bezugsrahmen, die detailliert besprochen werden, sind der Bioregionalismus, der auf der Idee beruht, eine tiefe Verbundenheit mit der Natur auf lokaler Ebene wiederzuerlangen, und die Erdcharta, „ein wahrhaft befreiender Traum für die Menschheit“, die als ihr erstes Prinzip die Achtung und Sorge für die Gemeinschaft des Lebens anführt.
Da wir an einem Scheideweg in der Geschichte der Menschheit angelangt sind, werden die Leser in diesem Buch einen Reichtum an Ideen und tiefen Einsichten zu einem grundlegenden Bewusstseinswandel und einer radikalen Veränderung in unserer Welt finden, auf die es jetzt ankommt. Unter all diesen Gedanken ist der wichtigste und tiefste vielleicht der, der im Zentrum der Bemühungen der Autoren steht. Anstatt den Übergang zu einer nachhaltigen Gesellschaft in erster Linie als Begrenzungen und Einschränkungen zu begreifen, plädieren Hathaway und Boff eindringlich für eine neue und überzeugende Auffassung von Nachhaltigkeit als Befreiung.
Berkeley, am Ersten internationalen Tag der Mutter Erde, 22. April 2009
Fritjof Capra