Buch lesen: «Settembrini»

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Leo Tuor, geboren 1959, verbrachte vierzehn Sommer als Schafhirt auf der Greinahochebene. 1989–2000 Arbeit an einer sechsbändigen Werkausgabe des rätoromanischen Dichterfürsten und Historikers Giacun Hasper Muoth. Leo Tuor lebt in Val. Er schreibt Erzählungen, Kurztexte und Essays, sie wurden vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Schillerpreis und dem Hermann-Lenz-Stipendium.

Peter Egloff, 1950 in Zürich geboren, ist freier Journalist und lebt in Sumvitg, wo er seit 1975 auf die Jagd geht. Er hat von Leo Tuor auch «Giacumbert Nau. Bemerkungen zu seinem Leben» und «Onna Maria Tumera oder Die Vorfahren» übersetzt. Zuletzt ist von ihm «Der Bischof als Druide. Berichte aus Graubünden» erschienen.

LEO TUOR

SETTEMBRINI

LEBEN UND MEINUNGEN

ROMAN

Aus dem Rätoromanischen

von Peter Egloff


Zum Ruhm der Bündner Jäger

Geplünderte Zitate und zitierte Versesind der Intention des Autors angepasst.Wie Salman Rushdie in der bibliografischenNotiz seines geächteten Bucheshoffe auch ich, dass der Text einige derzahlreichen Autoren, von denen ichgelernt habe, enthüllt. Die anderen werdenanonym wirken.

Wenn du in klaren Nächten mit einem mächtigen Fernrohr ans Firmament schaust, wo der Himmelsjäger Orion allmählich hinter den dunklen Gipfeln heraufsteigt und seine Sterne mit Namen wie aus Tausendundeiner Nacht funkeln wie Kristalle, siehst du in dieser Konstellation ein gewaltiges Pferd, einen Wirbel aus stellarem Nebel und Staub auf rötlichem Grund, und in diesem einen geschweiften Stern, der durch die grenzenlose Leere gleitet. Wenn es dich nun Wunder nimmt, was es mit diesem Stern auf sich hat, dann versenk dich in die Nacht und lies dieses närrische Buch.

EINS

An einem schwülen, fliegenreichen Tag des Sommers 1509 ritt Erasmus von Rotterdam von Italien kommend über den Splügen mit Apostoli, seinem Schüler, und mit Barlichin, dem Stummelohr, den er in Cläven als Führer über den Pass in Dienst genommen hatte. Der gelehrte Mann war in Bologna gewesen. Hatte dort Papst Julius II. gesehen, wie er in voller Rüstung an der Spitze seiner Truppen im Triumph in die Stadt einmarschiert war. War – etwas erstaunt über die Aktivitäten des Stellvertreters Christi – nach Venedig zum berühmten Verleger Aldus Manutius weitergereist. Hatte dort inmitten des hektischen Druckereibetriebs gearbeitet: gelesen, geschrieben, redigiert, korrigiert. War weitergereist: Padua, Ferrara, Siena. Hatte Rom besucht und Neapel und befand sich jetzt auf dem Rückweg nach Engelland.

Der Weg war miserabel. Das Rösslein ging seinen Trott. Der berühmte Mann hatte für die Landschaft weder Sinn noch Zeit. Wollte so rasch wie möglich aus dieser Bergeinöde herauskommen. Wenig unterhalb der Passhöhe wird Barlichin, der historisch nicht dokumentiert ist, entlassen (bergab helfen bekanntlich alle Heiligen), kehrt über den Pass zurück und entschwindet unserem Blick. Wir werden ihn zwanzig Generationen später in einer anderen Gegend für kurze Momente wieder antreffen, als Jäger. Seine Abenteuer soll er auf fünf Oktavblättern festgehalten haben, vorn und hinten eng beschrieben, «augenmörderisch klein», wie sich einer ausgedrückt hat, der dieses Dokument in Händen gehabt hat. Titel: «Das Leben des berühmten Jägers und Bergbegleiters, des zweimalgeborenen Alpenführers Barlichin».

All dies konnte der große Humanist nicht wissen, und er verspürte auch nicht die leiseste Lust, im Sattel stundenlang diesem Possenreißer zuzuhören oder die Felsen zu bewundern. Erasmus reiste nicht zur Kurzweil. Er fand die Gegend zum Kotzen: Steine, Steine, nichts als Steine, und überdies machten ihm seit einiger Zeit Nierensteine zu schaffen.

Um all die Steine zu vertreiben, legte er sich im Kopf ein Buch zurecht, welches er seinem Freund Thomas Morus widmen und dem er den Titel «Lob der Torheit» geben würde. Schließlich erreichte er auf seinem Gaul Rheinwald und Schams, ließ erleichtert die Viamala hinter sich. Im schönen Domleschg mit seinen Burgen und Schlössern muss er einem imperialen Jagdtross begegnet sein und widmet diesen Narren, «denen die Jagd alles bedeutet», einige Zeilen. Erasmus schreibt lateinisch, denn noch ist Latein die Sprache des Geistes. Aber bereits 1534 wird diese Schrift in die heutige Sprache des Geistes übersetzt:

«Dahin» – zu den Narren – «gehören auch die, denen das höchste die Jagd ist, und die behaupten, es tue ihnen unglaublich wohl, wenn jenes abscheuliche Tuten der Hörner und das Geheul der Meute losgeht – ich glaube, wenn sie den Kot ihrer Hunde riechen, duftet es in ihren Nasen nach Zimt. Und welcher Genuss, das Wild auszuweiden! Ochsen und Hämmel darf die Plebs ausnehmen, aber Wild zerlegen nur der Edelmann. Mit entblößtem Haupt, gebeugtem Knie, in der Hand das diesem Dienste geweihte Messer – um Gotteswillen kein anderes! – beginnt er, mit bestimmten Gesten bestimmte Teile in bestimmter Folge feierlich zu zerlegen. (...) Wem erst noch vergönnt war, das Wildpret verspeisen zu helfen, bildet sich gar ein, er habe an Adel beträchtlich zugenommen.»

Weshalb hat das Schicksal den Erasmus nicht ein paar Jahre später durchs Domleschg geführt? Er hätte ein gänzlich anderes Bild von der Jagd gewonnen, denn 1526 wird sie in diesem Landstrich wieder ein Volksrecht. In seinem Buch «Adagia», das seinen Ruhm begründete, hatte Erasmus geschrieben: «In früheren Zeiten waren selbst unter der Herrschaft von Tyrannen (die damals freilich noch nicht so raffiniert waren und noch nicht ganz begriffen hatten, welche Möglichkeiten in einer absoluten Herrschaft liegen) zumindest Meere, Flüsse, Straßen und Jagden Allgemeinbesitz.»

Für die Bündner Männer jedenfalls beginnt jetzt wieder die Zeit der Freiheit. Die Veränderungen sind radikal. Schluss mit den verhassten Revieren. Schluss mit den Fisimatenten. Fertig Halali. Erasmus hätte eine andere Geschichte verfasst, wenn er die neuen Jäger gesehen hätte. Und fast fünfhundert Jahre später ist es an der Zeit, sie niederzuschreiben:

Dies ist die Geschichte meiner Zwillingsonkel, Gion Battesta und Gion Evangelist Silvester, Settembrini genannt, wenn sie nicht beide beisammen waren. Gemsjäger, Bewunderer des Himmels, Literaten. Literaten, ohne selber Literatur zu machen. Literaten in dem Sinne, dass sie Homer und Herodot, Plinius und Plutarch und all die anderen glänzenden Autoren unserer Kultur lasen und mit ihnen lebten. Sie waren Bergler, nicht zuletzt darum, weil sie schonungslos jenen fürchterlichen, per Kilo gehandelten «Monta Blau» rauchten, und einen noch fataleren Montagner tranken. Montagner trinken und Montaigne lesen, das war die Devise dieser beiden Meister im Pissen gegen den Wind. Auf der Jagd arbeitet man immer gegen den Wind. Gemsen und Bücher waren ihr Leben. Manch einer mag ebenso viele Gemsen ebenso viele Stunden zu Tal gebuckelt haben wie Settembrini. Aber keiner hat so viele dicke Wälzer über Grund und Grat geschleppt wie Settembrini. Die Literatur war sein Seelenelixier.

Settembrini hätte verunglücken müssen. Der Mythos will ja, dass der Mann der Berge in den Felsen zugrunde gehe. Settembrini hat es vorgezogen, sich einzuspinnen und ist ein Schmetterling geworden, so wie Kafka will, dass der Jäger sich verwandle und schließlich gaukelnd in die Lüfte entschwinde.

ZWEI

I DER GURUTÖTER

Ich wollte einen Guru töten, darum habe ich mich zur Jagdprüfung angemeldet. Mein Lieblingsengel war zu jener Zeit der Würgeengel Asrael. Er hat mich durch die Vorbereitungskurse und Prüfungen begleitet. Die Jagd ist ein Geschäft voller Sentimentalitäten und Reliquien, und davon wollte ich mich lösen, zur Schule gehen bei einem Meister der Kaltblütigkeit: beim Engel Asrael.

Ich komme zwar aus einer Familie von Jägern und Wilderern, die sich nie einen Deut um Geweihe, Gehörne, Krucken, Jahrringe, Enden, Rosen und Kronen gekümmert haben. Es waren Jäger, die töteten, um zu essen. Jäger, die Wild verzehrten. Alle Jäger stammen ursprünglich aus solchen Familien. Früher gab es hier nur Bauern und eine Handvoll Handwerker, die alle auch ein wenig Landwirtschaft betrieben und leidenschaftlich dem Wild nachstellten. In unserer Sippe bedeuten Gehörne und Geweihe bis heute nichts und landen bestenfalls im Maiensäß über der Stube unterm Dachgebälk. Ich bin der einzige, der Hörner auf Brettchen schraubt und an die Wand hängt.

Das mit den Hörnern sei importiert, pflegte mein Onkel Gion Battesta zu sagen. Das Importierte habe nicht nur die Jagd verdorben, sondern auch den Bündner Schlag. Ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen, sagte er: «Der Bündner Schlag war vor der Vermischung mit den Fremden ein robuster Männertyp, ein wenig wie die Rütli-Eidgenossen, breiter Nacken, kurze Beine, dazwischen ein stämmiger Rumpf, je behaarter desto besser, typische Fleischesser und wasserscheu. Die Stirn niedrig, insistent, der Blick stechend, prüfend, ausweichend. Die Ohren schief, die Zähne lückig. Aber das ist viele Jahre her», sagte er mit dem Ernst eines Beichtigers. Mein Onkel Battesta meinte die Zeit, als es noch Leute gab, die ihr Lebtag nie gebadet hatten und doch auch sauber waren. Man sah seinen Brauen an, wie er sich einen dieser Alten aus vergangenen Tagen in einem modernen Spital vorstellte, und wie eine Schwester es anstellen würde, ihn in eine Badewanne zu bugsieren. Eine Krankenschwester, die einem solchen Unglücklichen, der noch nie Wasser gesehen hatte, wie ein weißer Würgeengel vorkommen müsste.

In die Jagdtheorie wurde ich vom Kanton eingeführt, in die Praxis von Onkel Battesta Levy und seinem Zwillingsbruder. Alle beide waren sie hagere Jäger und Strahler, zäh wie Zangen, sehnig wie Grauvieh. Echte Bergler haben kurze Ohren und sind schmal und klein, wie man oft aus ihren Namen ersehen kann (Placi Pign, Testa Pign, Gian Marchet, Andrea Picenoni-Pignet, Gianin Sunaderin, Gian Miotin).

Die Zwillinge waren große Jäger vor dem Herrn, und wenn sie nicht auf der Jagd waren, fabulierten sie. Eigentlich waren sie Brüder meines Großvaters väterlicherseits und darum keine richtigen Onkel. Onkel wurde früher als Begriff nicht so eng gebraucht wie heute. Onkel zweiten und dritten Grades wurden auch Onkel genannt, genauso wie nicht verwandte Männer, die der Familie nahestanden. Die Großmutter sagte nie aug, Onkel, sondern immer nur auBattesta, auToni, und erst in der Schule habe ich gelernt, dass man aug mit einem c sage und mit einem g schreibe.

Diese Onkel nannten mich nicht nevs, Neffe, sondern navun. Dieses Wort habe ich nur von ihnen gehört, und ich war stolz, als einziger so genannt zu werden. Navun klang archaisch wie babun, Ahne, bloß dass babun sofort alt riecht wie schimmliges Brot, während navun jäh herauskommt – panf –, unerwartet, so wie der antike Gott Pan plötzlich hinter einem Baumstrunk dasteht.

«Am Anfang ist das Gesetz, werden sie euch sagen, wenn ihr die Prüfung macht. Ich sage: Am Anfang ist Diogenes Laertius I, 58:

‹Die Gesetze gleichen den Spinngeweben; denn fällt etwas Leichtes und Schwaches hinein, so wird es festgehalten, wenn aber etwas Größeres, dann schlägt es durch und kommt heil davon.›

Sie sollen aufhören, euch solche Sachen auswendig lernen zu lassen für die Katz. ‹Dem Kanton stehen im Rahmen des Bundesrechts das Jagdregal und das Verfügungsrecht›, und das Verfügungsrecht ..., ‹das Verfügungsrecht über die wildlebenden Säugetiere und Vögel zu ...›, so ein Schmarren, der einen die Wände hochgehen und nicht mehr runterkommen lässt. Hat irgendeiner irgendwann an so etwas gedacht, bevor er ein Tier geschossen hat?»

Und Onkel Battesta, der ein großer Erzähler war, ließ das Jagdgesetz fallen und erzählte, während er die Felswand gegenüber der Hütte abspiegelte, von Leben und Meinungen der Titanen, ließ unsere Technokraten nach ihrem Gusto Gesetze erfinden und Jagdbanngebiete definieren, lachte verstohlen und wartete geduldig, bis der Nebel kam und den Vorhang zog.

«Das Gesetz sind wir. Lass die da unten glauben, sie seien das Gesetz, warte, bis der Nebel dicht genug ist, und denk an Diogenes Laertius.»

Die Prüfung oder Wie der Kandidat den Experten schockiert und den Jagdinspektor beeindruckt hat, indem er die Geschichte vom Gramm, das durch einen leisen Fingerdruck zu tausend Kubikzentimetern wird, weiterspann.

Der Experte fragte deutsch. Der Kandidat antwortete in seiner Sprache. Der Experte saß wie auf Kohlen. Der Inspektor stand Kopf.

Experte: «Was ist der Drall?»

Kandidat: «Il tuorn ei la rotaziun d’in projectil entuorn igl agen ischel ... ist die Rotation eines Projektils um die eigene Achse.»

«Was bewirkt der Drall?»

«Il tuorn stabilisescha il projectil en sia via da pli tard ... stabilisiert das Projektil auf seiner späteren Bahn durch die Rotation der Kugel um sich selbst.»

«Was ist die günstigste Einschießentfernung GEE?»

«La distanza ... bei welcher das Projektil einer Waffe die Visierlinie zum zweiten Mal schneidet, ohne von dieser irgendwo mehr als vier Zentimeter abzuweichen.»

«Was bezeichnet man als Freiflug eines Geschosses?»

«...den Weg von 5–10 mm vom Verlassen der Hülse bis zum Eindringen in den gezogenen Lauf, oder genauer: den Weg, den das Projektil ohne Rotation zurücklegt, weil es die Hülse verlassen hat, ohne schon von den Zügen des Laufs erfasst zu sein.»

«Bei der Explosion setzt sich ein Gramm Nitrocellulosepulver in wie viele Kubikzentimeter Gas um?»

«Ein Gramm Nitrocellulosepulver verwandelt sich in tausend Kubikzentimeter Gas.»

Der Experte schaut mich über seine Brille hinweg an, als ob er noch etwas erwarte. Ich darauf:

«Das ist die Verwandlung von Gramm in Kubikzentimeter, von Pulver in Gas, von Stille in Knall, mit dem Resultat: Tier, du bist Leben und wirst Kadaver.»

Und er schaute, und ich fuhr fort:

«... die radikale Veränderung, die in der Glückseligkeit des Jägers gipfelt. Diese manifestiert sich im ‹Juhui›, von dem er selber nicht weiß, ob es nun der Orgasmus oder die Impotenz des Mannes ist, der Leben ausgelöscht hat.»

Mein Experte schaute mich an, als ob ich Hörner hätte, 27 Zentimeter oder länger, schaute dann hinüber zum Gastexperten aus Chur, dem Jagdinspektor höchstpersönlich. Der tat, als ob er Romanisch verstehe, verstand aber, wie man aus seinen Reaktionen ersah, nichts. Mein Experte hüstelte, froh, dass der Guru aus Chur staunte, wohl beeindruckt vom Tempo meiner Antworten, die kamen wie aus der Pistole geschossen. Er fuhr fort:

«Was geschieht mit dem Projektil durch den Gasdruck?»

«Il projectil vegn sfurzaus da suandar il tuorn dallas ragadas», antwortete ich und setzte keck, aus Mitgefühl für den Inspektor und damit der zum Schluss auch noch ein Erfolgserlebnis habe, die deutsche Übersetzung hinzu: «Das Projektil wird gezwungen, dem Drall der Züge zu folgen.» Dass dies die letzte Frage zur Ballistik gewesen war, hatte ich dem Gesicht des Experten angesehen, da ich schon durch mancherlei Prüfungen gegangen war und wusste, wie der Hase lief.

Im nächsten Raum saß der nächste Experte in einem frischen, grünen Hemd. Unterm Kantonswappen auf den Achseln stand deutsch: «Wildhüter». Dieser Mann, die Brille zuäußerst auf der Nasenspitze, machte sich noch Notizen zum vorigen Kandidaten, hieß mich Platz nehmen und fragte, ohne aufzuschauen:

«Worauf hat der Jäger unmittelbar nach dem Schuss auf Wild zu achten?»

«Auf das Zeichnen des Wildes und wie es sich verhält.»

«Was ist unter Zeichnen zu verstehen?»

«Das Verhalten des getroffenen Wildes und wie es auf Schmerz und Schock reagiert.»

Jetzt wollte der Experte, der noch immer schrieb und kein einziges Mal von seinen Papieren aufgeblickt hatte, doch noch ein paar Beispiele hören, und zwar im Detail und auf Deutsch. Und ich, der ich bei meinen Onkeln in die Schule gegangen war, beginne zu erzählen, ohne die Realitäten des Tötens zu verschweigen und wie es ist, wenn man Eisen in den Leib bekommt:

«Den traf Odysseus mit dem Speer in die Schläfe, und durch die andere Schläfe drang die eherne Spitze, und ihm umhüllte Dunkel die Augen.

Den traf der Phyleus-Sohn, der speerberühmte, nahe herangetreten, am Haupt ins Genick mit dem scharfen Speer. Und gerade den Zähnen entlang schnitt unter der Zunge das Erz, und er stürzte in den Staub und fasste das kalte Erz mit den Zähnen.

Idomeneus traf den Oinomaos mitten in den Magen, und das Erz schöpfte die Eingeweide heraus, und er fiel in den Staub und fasste die Erde mit verkrampfter Hand.

Meriones setzte dem Davongehenden nach und traf mit dem Speer mitten zwischen die Scham und den Nabel, da wo am meisten schmerzhaft der Ares wird den elenden Sterblichen: Dort hinein heftete er ihm die Lanze; und der folgte dem Speer und zappelte wie ein Stier.

Den stach er unter der Braue in die Bettung des Auges und stieß den Augapfel heraus, und der Speer drang durch das Auge und durch das Genick, und er setzte sich und breitete aus die beiden Arme.

Idomeneus stieß den Erymas in den Mund mit dem erbarmungslosen Erz, und gerade hindurch fuhr hinten heraus der eherne Speer, unterhalb des Gehirns, und spaltete die weißen Knochen. Und herausgeschüttelt wurden die Zähne, und es füllten sich ihm mit Blut die beiden Augen, und aus dem Mund und durch die Nasenlöcher sprühte er es, klaffend, und ihn umhüllte des Todes schwarze Wolke.

Den traf mit dem Speer der fußstarke göttliche Achilleus mitten in den Rücken, und gerade hindurch, am Nabel vorbei, fuhr der Lanze Spitze. Und aufs Knie stürzte er klagend, und eine Wolke umhüllte ihn, eine schwarze, und er zog an sich, zusammengesunken, die Eingeweide mit den Händen.»

Der Experte hatte aufgehört zu schreiben. Der Kugelschreiber war ihm entglitten, und seine Kinnlade ließ er hängen, als ob er selber Eisen zwischen die Rippen bekommen hätte.

«Erlaubt ist alles», pflegte Onkel Battesta in seinen besten Momenten in der Jagdhütte zu sagen, ausgestreckt auf der Bank hinterm Tisch, den Hut auf dem Kopf, die Toscano im Schnauz, «man darf sich nur nicht erwischen lassen.» (Diese primitive Art zu liegen, Hut auf dem Kopf und Schuhe an den Füßen, zu Hause üblicherweise auf oder hinter dem Ofen, hatten meine Vorfahren zweifellos aus der Zeit der Wölfe beibehalten, als es drauf ankam, jeden Augenblick fluchtbereit zu sein.) «Und ab und zu musst du ein Tier abgeben, dann denken sie, du seist ehrlich. Kein Aufhebens machen. Gelegentlich ein wenig flunkern. Alle Geschichten sind nur zur Hälfte wahr. Die reine Wahrheit könnten wir nicht ertragen. Sie ist langweilig, traurig, leer und unwiderruflich wie der Tod. Die Autoritäten nicht zu ernst nehmen, vor allem aber sich selbst nicht zu ernst nehmen. Sonst wirkt man mit den Jahren wie ein Monument.

Kein Wunder, dass sie dann verdrießlich werden und schimpfen. Ein wenig schimpfen sie auch, weil sie nix sind und das mit Krampfen kompensieren und glauben, so auf einen grünen Zweig zu kommen. Aber die Rechnung ist simpel: Mit Arbeit ist noch keiner reich oder weise geworden. So hart ist die Wahrheit.»

Diese Idee, wenn wir so sagen wollen, neben dem harten Ofen zu liegen, stets bereit, und nicht etwa auf dem Kanapee unter den Heiligenhelgen, das ist unser Charakter:

«Im Hof Portas unterhalb Val lebte Rest Modest Deportas der Ältere. An einem Morgen blieb er auf der Ofenbank liegen bis gegen Mittag. Plötzlich sagte er zu seiner Frau: Ich gehe in die Cavrida hinauf und fälle Holz. Seine Frau hielt ihn zurück: Geh nicht, Rest, heute nicht! Aber Rest Modest ist aufgestanden, hat die Axt ergriffen und ist gegangen und nicht mehr lebend zurückgekehrt. Seine Stunde hatte ihn gerufen.»

«Wenn du einen Guru töten willst, ist die Jagd eine gute Voraussetzung», hatte ich mir gedacht.

Ich wollte einen Guru umbringen, weil mir Gurus auf die Nerven gingen. Sie hatten mir meine Jugendfreunde weggenommen, hatten ihnen sichere Stellen verschafft, hatten ihnen das Lachen gestohlen und dafür eingebläut, dass die Loyalität zum Chef das A und O im Leben sei. Darum trippelten meine Freunde jetzt so brav hinter ihren Gurus her.

Ich wollte einen Guru an der Gurgel packen, damit er mit seinem Gurren aufhöre.

Aber dann habe ich, ach, gesehen, dass die Welt voll ist von Gurus und jenen, die ihnen hinterherlaufen. Und wenn einer auf die Schnauze fällt, erhebt sich sofort der nächste.

So plötzlich aller Hoffnungen beraubt, wollte ich gerade mein Auto über die nächste Brücke hinaussteuern, als mich der Würgeengel beim Kragen packte und sprach: «Spinnst du? Was ist los? Das Leben ist kein Sugus. Zeig dem Teufel, was leben heißt.»

«Was ist der Teufel?», fragte ich, und bekam die Antwort dreifarbig:

«Il diavolo è l´arroganza dello spirito, la fede senza sorriso, la verità che non viene mai presa dal dubbio. Il giavel ei la prepotenza dil spért, la cardientscha senza in surrir, la verdad che vegn maina tschaffada dil dubi. Der Teufel ist die Anmaßung des Geistes, der Glaube ohne ein Lächeln, die Wahrheit, die niemals vom Zweifel erfasst wird.»

Ich wollte nicht hören. Ich plante, ihm eine Kugel in den Bauch zu jagen. Aber ist der Guru einer Kugel in den Bauch würdig? Ist nicht der göttliche Puschkin diesen Tod gestorben? Sind nicht Diores und Peiroos und Oinomaos vom Eisen im Bauch in den Sand vor Troja geworfen worden? Schließlich habe ich mich entschlossen, ihn an der Gurgel zu packen. Ich wollte diesen flügellosen Engel zur Fratze machen. Ach, ich hatte doch gedacht, meine Freunde für ein ganzes, langes Leben lang zu haben. Als sie hinter dem Guru herliefen, brach eine Welt zusammen. Ich gab das Rauchen und Trinken auf und machte die Jagdprüfung, um dem Guru den Unterkiefer wegzuknallen. Ohne zu merken, dass auch die Jagd eine Welt voller Gurus ist.

Am Tag, den ich für die Vollstreckung bestimmt hatte, wartete ich vor dem Tempel, wo er mit seinen Jüngern versammelt war. Saß unter einem Baum auf einer Bank des Kur- und Verkehrsvereins und wartete, bis er herauskommen würde. Und während ich dort wartete wie Humbert Humbert: mit einem unbehaglichen Gefühl in der Prostata, benebelt, ausgelaugt, die Faust mit der Pistole in der Tasche des beigen Regenmantels vergraben, ist mir plötzlich aufgegangen, dass ich wohl eine Meise hatte und drauf und dran war, etwas Idiotisches zu tun. Die Chance, dass ein Pistolenschuss etwas nütze, stand eins zu einer Million. Ich verlor hier meine Zeit und den Verstand. War dermaßen töricht, hatte nicht gemerkt, dass man Gurus aus der Welt schafft, indem man die Wahrheit zum Lachen bringt.

Meine Zwillingsonkel sind katastrophale Christen gewesen, ungeachtet ihrer Namen aus dem Neuen Testament. Wohl deshalb waren sie ihr Lebtag nie krank. Außer einem einzigen Mal, und jenes Mal stand es so schlimm um sie, dass sie in der Lebensmitte eine halbe letzte Ölung erhielten. Das half. Der eine kam vom Geruch der Salbung zu sich, der andere, als dem Priester das Malheur unterlief, in irgend einem Gebet den Namen Jesu fallen zu lassen. Die Sterbenden standen stracks von den Toten auf und schimpften:

«Jesus, diese Katastrophe, dieses Gegenteil von einem scheuen Engel. Ein Mann stets in Eile, nur mit sich selbst beschäftigt, immer in Gesellschaft von Jungvolk und reifen, reichen Frauen. ‹Tschisses Craist›, das pure Gegenteil von Zeus. Redet doch von den Olympiern, die konnten lachen wie die Kühe und sich den Bauch halten und brauchten kein Publikum wie euer morscher ‹Tschisses›».

Der Priester hatte fluchtartig das Weite gesucht und das Viatikum mit allem Drum und Dran zurückgelassen. Und zwei knisternde Kerzen.

Meine Onkel, einer hagerer als der andere, haben mich zum Jäger gemacht. Die wichtigsten Erziehungsziele für einen jungen Mann seien die Kunst des Erzählens und die Jagd, mithin «ein Redner von Worten und ein Täter von Taten» zu werden.

Homer zitierten meine Onkel immer in der Sprache des Nordens, deutsch, so wie andere Jäger das Jagdgesetz auswendig hersagten, auch immer deutsch. Romanisch ist unsere Sprache des Fleisches, Deutsch aber jene des Geistes.

Mein Vater, behaupteten sie (und das war der einzige Moment, wo sie im selben Moment dieselbe Meinung über meinen Vater hatten), mein Vater sei auf der Jagd erschossen worden. An einem Nebeltag, im Schneetreiben. In den Felsen des Punteglias.

Ich habe nie an dieses Bild geglaubt. Der Vater meiner Fantasie war in einem Duell umgekommen, in welchem beide Duellanten Poeten waren, im selben Augenblick gezogen hatten und, jeder mit einem Schuss im Bauch, gegeneinander gestürzt waren.

Bestenfalls hat man ihn mausetot gefunden, Schirm zu, einen Schuss im Bauch, einen Schneehasen am Rucksack. Dies ist das erste und letzte Bild, das ich von diesem Vater habe: Kalt, erfroren, starr und steif im Schneetreiben der Glarner Bise. Achttagebart, die Augen offen, die Hände zu Fäusten geballt, daneben das geladene Gewehr, am Rücken den Rucksack mit dem Loch, wo die Kugel ausgetreten war. Das ist mein erster Vater gewesen. Er ist gestorben, bevor ich auf die Welt kam. Ein Mann, der zweimal begraben wurde, das erste Mal ganz sachte vom Schnee und dann, für immer, in der Erde. Ich bin ein Sohn mit zwei Ziehvätern und zwei Schutzengeln. Meine beiden Väter waren meine zwei Onkel, und meine Engel waren Gabriel und Asrael.

Seit diesem Unglück ist meine Sippe nicht mehr am Punteglias auf die Jagd gegangen. Einerseits rechnet der Bergler immer mit dem Tod in den Felsen, anderseits hofft er, dass er nicht komme; bedeutet er doch immer eine Niederlage, die besagt, dass man mit dem Gelände nicht zurechtgekommen sei. Mein Vater war dem Glaruner nicht gewachsen gewesen, wie sie auf der andern Talseite jenen Biswind nennen, der bei uns aura sut und zuhinterst im Lugnez aura dado heißt. Wenn du mit diesem Nordwind nicht vertraut bist, bist du verloren. Warum hatte mein Vater den Glaruner verkannt? Wenn ein Schuss fällt, ist der Wind ein wichtiger Faktor. Leichter Seitenwind von nur 7 m/s lenkt auf eine Distanz von 160 m die Kugel um 20 cm ab. Für den Wind ists demnach ein Kinderspiel, einen Schuss zu verpfuschen. Wohin soll ein Schütze im Sturmwind halten? Stürmt es von rechts, von links oder von beiden Seiten? Du musst es in jeder Situation so einrichten, dass du den Wind auf deiner Seite hast. Sonst wehe dir.

Als mein Vater erledigt war, wechselten meine Onkel für die Jagd auf die andere Talseite. Wenn deine Sippe den Berg, den Wind nicht auf ihrer Seite hat, musst du weichen. Sie haben andere Berge, andere Winde gesucht, gingen fortan dort auf die Jagd, wo die alten Karten ein Gebiet zeigen, das von Bergen rundum wie von einem Zaun umgeben ist und wo im Zaun die Worte stehen: «Hier sind lauter Eisberge, Gletscher genat, dahin noch kein Mensch gekoen.»

Das war – wie der Dichter zu sagen pflegt – zu Zeiten, als die Welt noch so jung war, dass viele Dinge keinen Namen hatten und man, um sie zu benennen, mit dem Finger auf sie zeigen musste. Als das Eis zu schmelzen begann und nach und nach Menschen in diese verlassene Gegend kamen, viele Menschen, ließen meine Onkel in den Ring von Bergen schreiben: There Be Dragons Here, und als das nichts nützte, machten sie wenigstens einen Zaun um ihre Hütte und schrieben darauf: Warnung vor dem Hund. Das hat genützt.

Alle Menschen sind voll von Geschichten. Aus den einen sprudeln sie wie Wasser aus der Quelle, aus den andern muss man sie hervorlocken wie die Grillen, die man mit einem Grashalm aus ihren Löchern kitzelt. Die Zwillinge waren so schräg, dass all ihre Geschichten schief waren. Aber, meinten sie, was nützen schiefe Geschichten, wenn bloß senkrechte Quadratschädel zuhören?

Punkto Geschichten redeten die Zwillinge feierlich der Illusion das Wort: «Die Leute, dieses Pack, wissen immer alles besser. Sie wollen nicht, dass du erzählst, wie es gewesen ist, sondern wie sie möchten, dass es gewesen sei. Die Wahrheit hat kurze Beine. Wenn du die Wahrheit erzählst, glaubt dir keiner. Ja, Tolstoi, dieser Arnaut» – Arnaut war ihr Lieblingsschimpfwort, wenn sie grantig waren – «Tolstoi sagt sogar: Wenn du die Wahrheit erzählst, werden sie sagen, du seist selber schuld, dass du nicht das erlebt hast, was Erzähler üblicherweise erleben müssen.» Dann kratzten sie sich am Kinn und fuhren fort: «Was für eine armselige Geschichte wäre die Kreuzigung Christi nach der Wahrheit statt nach den Evangelien: Reine römische Routine, reine Routine, mein Bester.»

Als ich wegen der halbwahren Geschichten in Settembrini – einen Levy – drang, rückte er zögerlich mit der folgenden heraus:

«Als Hallgrímur Pétursson, der isländische Dichterpfarrer, der auch über Zauberkräfte verfügte, einmal während der Predigt durch das Fenster einen Fuchs erblickte, welcher einem Schaf nachstellte, dichtete er einen Vierzeiler gegen Reineke, der sogleich tot umfiel. Da der Pastor durch seine Zauberei das Gotteshaus entweiht hatte, wurde ihm die Dichtergabe genommen, die er erst wieder zurückerlangte, als er sich entschloss, zur Ehre Gottes seine berühmten ‹Passionspsalmen› zu verfassen.»

Hingerissen von dieser Geschichte, wollte ich Lappi natürlich nicht, dass sie schon zu Ende sei. Wie ein Kind, das nicht weiß, wie gefährlich die Wahrheit einer Geschichte werden kann, fragte ich: «Und dann?» Der Fuchs, setzte mein Onkel Levy hinzu, sei beileibe nicht grundlos gestorben. Die Passionspsalmen, das populärste Buch der isländischen Literatur, seien antisemitisch. Mithin eine Warnung für alle Blauäugigen, dass auch halbe Geschichten keineswegs sauber sein müssten, und vor allem ein sprechendes Exempel dafür, wie fein der Satan seine Fäden spinne.

Jede Familie, die etwas auf sich hält, fabriziert Geschichten und Legenden, die in der Verwandtschaft kursieren. Ich hatte meine Vorbehalte gegen die Geschichte vom Leben und Sterben meines Vaters. Die Zwillinge ersannen Geschichten nach ihrem Ebenbild. Sie erzählten nicht einfach, wie es gewesen war, sondern wie es hätte sein müssen. In der Variante meiner Onkel war mein Vater als Wilderer erschossen worden, in der offiziellen Variante als Wildhüter. Für unsere Familie wäre es eine Katastrophe gewesen, auf immer und ewig einen Wildhüter in der Familie zu wissen, einen Polizisten. Ein Wilderer Levy, der zum Landjäger geworden war, musste wieder zum Wilderer werden. So war der Kreis geschlossen und die Sippenehre gerettet. Denn unsere Familie war aus Italien gekommen, wie die Steinböcke. Sie glaubte, anders als die Einheimischen, nicht an Autoritäten. Erledigte die Autorität zur Not auch mit der Fantasie.

€19,99

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0+
Umfang:
172 S. 5 Illustrationen
ISBN:
9783857919831
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