Schwarze Präsenz

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2.

Wyn sah in den Sternenhimmel hinauf, obwohl Shinné schon längst nicht mehr zu sehen war. Am liebsten hätte er ebenfalls seine Flügel ausgebreitet und wäre ihm gefolgt; ein Wunsch, der ihm schon fast Angst machte. Wyn wusste selbst nicht, was im Kampf plötzlich über ihn gekommen war, doch als sich ihre Augen getroffen hatten, war die Zeit stehen geblieben.

Er schloss die Augen und rief sich Shinnés Bild noch einmal in Erinnerung: weißblonde Haare, die vom Kampf ganz zerzaust waren, die blutroten Augen und seine sanft geschwungenen Lippen, sinnlich wie ein Versprechen.

Liebevoll lächelte Wyn, bis er an Shinnés Gesichtsausdruck während des Kampfes dachte. Zuerst hatte er benommen gewirkt, als wäre er nicht ganz Herr seiner Sinne, bis sich schließlich ein vorsichtiges Lächeln über seine Züge gestohlen hatte. Dieses Lächeln war Sekunden danach einer Fratze des Schmerzes gewichen.

Wyn schauderte, als er an die Verzweiflung und Wut in Shinnés Blick dachte. Er hätte den gefallenen Engel so gerne in den Armen gehalten und vor dem beschützt, was diese Verzweiflung verursachte. Dieses Verlangen, Shinné nah zu sein, war einfach über ihn gekommen, und nun verschwand es nicht mehr.

Als sich eine Hand auf seine Schulter legte, zuckte Wyn zusammen, doch es war nur Raphael, der ihn besorgt musterte.

»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte er.

Wyn nickte. »Ja, mir fehlt nichts.«

Raphael wirkte nicht ganz überzeugt, wandte sich dann aber an die anderen: »Was ist mit euch?«

»Alles gut«, antwortete Ranva, »aber diese Bruchlandung zahle ich Shinné noch heim, das schwöre ich!«

»Wer genau ist dieser Shinné eigentlich?«, fragte Farah. »Ich kannte weder ihn noch den anderen gefallenen Engel.«

»Silva und Shinné sind Geschwister, Zwillinge, um genau zu sein«, erklärte Leander.

»Und woher kennst du sie?«, wollte Wyn wissen, immer noch Shinnés Gesicht vor Augen.

»Das ist eine lange Geschichte«, seufzte Leander.

»Je eher wir sie erfahren, desto besser«, meinte Ranva.

»Ich stimme dir da ganz zu«, unterbrach Raphael sie, »aber können wir das vielleicht bei Daniel klären? Ich mache mir etwas Sorgen, um ihn und Gabriel.«

Leanders Miene verdunkelte sich. »Glaubst du, ihnen ist etwas zugestoßen?«

Raphael zuckte mit den Schultern. »Mir wäre einfach wohler, sie vor mir zu haben.«

»Dann nichts wie los«, sagte Farah.

Wie auf ein geheimes Zeichen hin ließen sie alle ihre Flügel erscheinen. Raphael nahm Ranvas Hand und drückte sie sanft. Sie warf ihm ein liebevolles Lächeln zu, bevor sie sich alle vom Boden abstießen und im Himmel verschwanden.

3.

»Du hast ein Zimmer im Erdgeschoss?«, fragte Gabriel wenig begeistert, als Daniel ihn in sein Zimmer führte.

»Ist das ein Problem?«, fragte Daniel etwas besorgt.

»Vielleicht«, erwiderte Gabriel. Er ging zu dem einzigen Fenster und sah mit zusammengezogenen Augenbrauen nach draußen. »Mach das Licht aus und halte dich an der Tür!«, befahl er Daniel dann.

»Was ist los?«, wollte dieser wissen. Er hatte instinktiv angefangen zu flüstern, während er so lange zurückwich, bis er mit dem Rücken gegen sein Bücherregal stieß.

Gabriel zog seine Jacke aus. Mit zwei Lederriemen war ein Dolch an seinem rechten Oberarm befestigt. Er öffnete das Fenster und zog sich daran hoch.

»Ich bin bald wieder zurück«, sagte er dann, bevor er in der Dunkelheit verschwand.

Daniel blieb mit rasendem Herzen neben der Zimmertür stehen. Gabriels Verhalten machte ihm Angst. Was, wenn der schwarze Engel nicht zurückkam? Wenn dort draußen irgendetwas bereits auf ihn lauerte?

Daniel versuchte, sich mit tiefen Atemzügen zu beruhigen, doch die Angst zu sterben wurde übermächtig. Endlich tauchte Gabriel wieder vor dem Fenster auf und kletterte zurück ins Zimmer.

»Du kannst das Licht jetzt ruhig wieder anmachen«, sagte er, während er das Fenster wieder schloss.

Daniel tat, wie ihm geheißen, und das Zimmer wurde augenblicklich in warmes Licht getaucht.

»Was ist passiert?«, fragte Daniel.

Gabriel ließ sich auf Daniels Bett nieder.

»Ich habe bei unserer Ankunft einen Dämon auf dem Nachbargrundstück gesehen, aber er ist verschwunden. Seine Spur führt die Straße hinunter«, antwortete er.

»Willst du ihn nicht verfolgen?«

»Und dich allein zurücklassen?«, erwiderte Gabriel, als er sich mit dem Rücken gegen die Wand lehnte. »Lieber nicht.«

Daniel blieb unschlüssig neben seinem Bücherregal stehen. Gabriel dagegen saß ganz entspannt auf seinem Bett; die Hände ruhten auf seinen Oberschenkeln.

»Du kannst dich ruhig neben mich setzen«, sagte Gabriel schließlich augenzwinkernd. »Ich beiße schon nicht.«

Widerwillig musste Daniel grinsen und ließ sich auch auf das Bett sinken.

Eine Weile saßen sie nur schweigend nebeneinander. Dann sagte Gabriel: »Das heute war bestimmt sehr viel für dich.«

»Ein bisschen«, murmelte Daniel. »Ich weiß noch nicht so genau, was ich von alledem halten soll.«

»Kann ich verstehen«, meinte Gabriel. »Wenn du noch Fragen hast, frag ruhig.«

Daniel dachte kurz nach. »Wo soll ich anfangen?«, fragte er.

»Am besten vorne«, scherzte Gabriel und zwinkerte ihm zu, was Daniel zum Lachen brachte. »Du und Raphael seid Erzengel, nicht wahr?«, wollte er dann wissen, was Gabriel mit einem Nicken beantwortete.

»War es denn für den Himmel nicht ein großer Verlust, gleich zwei von euch zu verlieren?«

»Drei«, korrigierte Gabriel. »Du vergisst, dass auch Luzifer einer von uns war. Er war der Erste, der fiel; ich bin ihm erst Jahrhunderte später gefolgt. Aber, um deine Frage zu beantworten: Vermutlich war es für den Himmel ein großer Verlust. Raphael ist einer der Weltenwandler; das heißt, er kann die Tore, die zwischen Himmel, Hölle und Erde existieren, aufspüren und öffnen.«

»Wie viele der Weltenwandler gibt es?«, fragte Daniel.

»Zwei im Himmel und zwei in der Hölle. Demnach ist es ziemlich ungünstig, einen davon zu verlieren.«

»Wieso bist du gefallen?«, fragte Daniel, unsicher, ob es eine unhöfliche Frage war, doch er war einfach zu neugierig.

»Ich habe aufgehört zu glauben«, antwortete Gabriel. »Der Himmel ist wunderschön, und ich habe alles geliebt, was wir geschaffen haben, von der Erde bis zu den Lebewesen, die sie bevölkern. Dann haben die Menschen begonnen, die ersten Kriege zu führen. Ich wollte eingreifen, sie aufhalten, doch es wurde mir verboten. Ich konnte nicht einfach tatenlos zusehen, obwohl wir die Macht hatten, alles zu ändern, und so bin ich gefallen.«

»Und in der Hölle gelandet«, vermutete Daniel, doch Gabriel schüttelte den Kopf. »Ich hatte zwar den Glauben an den Himmel verloren, doch in die Hölle wollte ich auch nicht. Ich habe mich dazu entschlossen, auf der Erde zu bleiben, und so wurde aus mir der erste schwarze Engel«, erzählte Gabriel.

Daniel schwirrte der Kopf von all den Bildern, die Gabriels Geschichte ihm in den Kopf gepflanzt hatte. Bevor er allerdings noch etwas sagen konnte, ertönte ein Klopfen an seinem Fenster.

Gabriel legte einen Finger an seine Lippen und näherte sich langsam dem Fenster. Er zog seinen Dolch aus der Halterung an seinem Oberarm, hob ihn, bereit, jeden Moment zuzustechen, und öffnete das Fenster.

»Besten Dank für diesen freundlichen Empfang«, ertönte Farahs Stimme.

Gabriel grinste und trat zur Seite, um seine Freunde hereinzulassen. Nacheinander kletterten sie in Daniels Zimmer; Raphael als Letzter, nachdem er Ranva hineingehoben hatte.

»Geht es euch gut?«, fragte Raphael gleich besorgt.

»Ja«, erwiderte Daniel verwirrt.

»Was ist los?«, wollte Gabriel wissen.

»Wir sind in eine Falle gelaufen«, sagte Wyn tonlos und ließ sich in Daniels Sessel fallen.

»Zwei gefallene Engel und eine Handvoll Dämonen haben uns angegriffen«, erzählte Farah weiter.

»Als wir hier angekommen sind, habe ich einen Dämon entdeckt«, sagte Gabriel, »aber er ist verschwunden.«

»Er sollte bestimmt Daniel entführen«, vermutete Leander. »Gut, dass du mit ihm gegangen bist.«

Gabriel nickte. »Und die beiden gefallenen Engel?«, fragte er.

»Silva und Shinné«, antwortete Leander.

»Noch nie von ihnen gehört«, sagte Gabriel kopfschüttelnd.

»Du vielleicht nicht«, erwiderte Ranva. Dann sah sie Leander erwartungsvoll an, der geschlagen seufzte: »Es gibt da etwas, das nur Raphael über mich weiß. Ich habe es nie erzählt, weil ich es nie für relevant gehalten habe, aber bevor ich mich Raphael angeschlossen habe, war ich ein gefallener Engel.«

Die anderen schwiegen erschüttert, nur Raphael wirkte relativ unbeteiligt.

»Ein Brauch in der Hölle ist, dass die stärksten Krieger eine Verbindung eingehen, so verlobte ich mich mit Silva«, erzählte Leander. »Allerdings machte sie sich nicht viel aus mir, ich war für sie nur eine Art Trophäe. Doch durch meine Verbindung mit ihr verbrachte ich viel Zeit mit Shinné, und er wurde meine Affäre.«

»Du hattest eine Affäre mit Shinné?«, kreischte Farah.

Wyn, der die Augen geschlossen hatte, zuckte so heftig zusammen, dass er beinahe aus dem Sessel gefallen wäre.

Leander sah Farah währenddessen verständnislos an. »Als wäre bei uns Engeln das Geschlecht jemals von Bedeutung gewesen!«

»Deswegen hasst dich Shinné also so«, vermutete Ranva.

Leander nickte. »Ich habe ihm das Herz gebrochen.«

Daniel sah irritiert von einem zum anderen. Wenn er gedacht hatte, dass dieser Abend nicht verrückter werden konnte, hatte er sich geirrt.

 

Gabriel fing seinen Blick auf und lachte. »Ich glaube, wir haben Daniel etwas erschreckt.«

»Überfordert«, korrigierte Daniel, grinste aber dabei.

»Und wie soll es jetzt weitergehen?«, fragte Ranva.

4.

»Unfähiger Idiot!«

Der Faustschlag traf den Dämon völlig unvermittelt. Unter den zerzausten Haaren heraus funkelte er Shinné wütend an.

»Du solltest mir den Sterblichen bringen, wo ist er also?«, fauchte Shinné.

»Du hast mit keinem Wort erwähnt, dass er bewacht wird«, sagte der Dämon vorwurfsvoll.

Shinné schnaubte nur und wandte sich ab.

Silva, die bisher ruhig im Hintergrund geblieben war, trat nun nach vorne und sah den Dämon eindringlich an.

»Vielleicht solltest du dir anhören, was er zu sagen hat, Bruder«, meinte sie. »Es könnte von Bedeutung sein.«

»Natürlich«, erwiderte Shinné sarkastisch.

Silva baute sich vor ihm auf. »Was ist los mit dir?«, zischte sie. »Seit unserem Rückzug verhältst du dich eigenartig.«

»Ich ziehe mich nun mal nicht gerne zurück«, erwiderte Shinné.

Er schloss die Augen und kniff sich mit Zeige- und Mittelfinger in den Nasenrücken. Als Silva den Kampf erwähnt hatte, war sofort wieder Wyns Bild in seinem Kopf erschienen.

Er wollte diese Unterhaltung nicht führen, weder mit Silva noch mit diesem Dämon, der ihn ansah, als würde er ihn jeden Moment umbringen wollen. Das Einzige, das Shinné jetzt wollte, war, in seine Gemächer in der Hölle zurückkehren und von Wyn zu träumen. »Also, was hast du zu sagen?«, fuhr er den Dämon an.

Dieser bleckte kurz wütend die Zähne, erstattete dann aber doch Bericht: »Der Sterbliche wurde von einem Engel begleitet, der eine unfassbar mächtige Aura hatte. So etwas habe ich noch nie gesehen.«

»Gabriel«, sagte Shinné, »ein gefallener Erzengel, doch das wussten wir bereits. Das soll der Grund gewesen sein, warum du ihn mir nicht gebracht hast?«

Die Miene des Dämons verdunkelte sich. »Ich bin nicht bereit, mein Leben für gefallene Engel zu geben«, sagte er und spuckte aus.

Shinné lächelte nur. Er ging ruhig auf den Dämon zu und blieb dicht vor ihm stehen.

»Ich werde dich töten, wenn du mir nicht sofort eine Information lieferst, mit der ich etwas anfangen kann«, flüsterte er ihm zu.

»Ich weiß, wo sich der Sterbliche versteckt hält«, erwiderte der Dämon. »Wir können dorthin zurück und ihn töten.«

Shinnés Lächeln wurde breiter. »Falsche Antwort«, hauchte er.

Ehe der Dämon wusste, wie ihm geschah, hatte Shinné einen Dolch in seinen Bauch gerammt. Er zog ihn erst wieder heraus, als das letzte Lebenslicht aus den Augen seines Gegenübers gewichen war. Der leblose Körper fiel zu Boden, doch Shinné hatte sich schon abgewandt.

»Das war grausam«, sagte Silva. »Selbst für dich.«

Shinné beachtete sie nicht weiter. »Lass uns nach Hause gehen«, sagte er.

4. Kapitel
Schatten der Liebe
1.

Daniel saß auf seinem Bett und hörte sich Wyns Strategie an. Seine Taktik war gut durchdacht und klang auch vielversprechend. Das hieß aber noch lange nicht, dass sie Daniel gefiel.

Wyn wollte, dass Daniel untertauchte. Am besten ohne ein Wort oder eine Erklärung; so konnte die Hölle nicht versuchen, über seine Familie oder Freunde an ihn heranzukommen.

»Ich glaube nicht, dass ich das kann«, sagte Daniel schließlich, als Wyn geendet hatte.

»Es ist ein großes Opfer«, stimmte Ranva ihm zu, »aber Luzifer wird nicht davor zurückschrecken, deiner Familie oder deinen Freunden etwas anzutun.«

»Das will ich natürlich auch nicht, aber einfach so verschwinden?«

»Jeder, der etwas weiß, ist automatisch gefährdet«, sagte Gabriel.

»Leider«, fügte Raphael leise hinzu.

Daniel sah ihn an. Die letzten paar Minuten war Raphael extrem still geworden, und auch jetzt schien er Daniels Blick auszuweichen.

Raphael sah nur zu Boden, hielt Ranvas Hand und wirkte niedergeschlagen.

Daniel sah zu Leander und suchte nach Anzeichen, ob dieser Raphaels Trauer spüren konnte. Doch Leander stand mit verschränkten Armen an die Wand gelehnt da und sah stur geradeaus.

»Es ist die sicherste Möglichkeit«, sagte Wyn und lenkte Daniels Aufmerksamkeit wieder auf sich.

»Meine Eltern werden bestimmt nach mir suchen«, wandte Daniel noch ein.

»Wir lassen uns etwas einfallen«, versprach Wyn. »Gabriel kann da bestimmt etwas tun.«

Gabriel nickte, während Daniel noch einmal über alles nachdachte. Genaugenommen hatte er wirklich keine Wahl.

»Na schön«, seufzte er, »ich mache es.«

»Dann ist es beschlossene Sache«, freute sich Farah strahlend. »Du ziehst bis auf Weiteres zu uns. Soll ich dir packen helfen?«

»Zu euch?«, wunderte sich Daniel, zog aber eine schwarze Reisetasche unter seinem Bett hervor.

»Wo hast du denn gedacht, dass wir dich hinschicken?«, lachte Farah.

Daniel zuckte nur mit den Schultern, grinste dann aber. Farahs gute Laune war wirklich ansteckend.

Dann begann er, Kleidung und einige Habseligkeiten einzusammeln, die ihm viel bedeuteten. Darunter war ein Lederarmband, das sein Freund Chris ihm einmal geschenkt hatte. Er dachte an dessen Geburtstagsfeier und wie enttäuscht er sein würde, wenn Daniel nicht auftauchte. Es versetzte ihm einen Stich.

»Mir wäre wohler, wenn wir noch einmal die Umgebung kontrollieren«, sagte Gabriel. »Mir geht dieser Dämon nicht aus dem Kopf.«

»Ich kann im Moment zwar nichts spüren, aber sicher ist sicher«, stimmte Wyn zu.

»Ich bleibe hier«, sagte Raphael, »nur zur Vorsicht.«

Daniel hörte, wie sie den Raum verließen, während er ein letztes Shirt in die Tasche warf und den Reißverschluss schloss. Während er sich zu Raphael umdrehte, sagte er zu ihm: »Ich denke, ich habe alles.«

»Ich wünschte, es gäbe eine andere Möglichkeit«, erwiderte Raphael.

Daniel sah zu Boden. »Ja, ich auch«, gab er zu.

»Es tut mir leid.«

Daniel hob den Kopf und begegnete Raphaels traurigem Blick. »Es muss dir nicht leidtun, es ist nicht deine Schuld«, sagte er.

»Es hätte nicht so weit kommen dürfen. Ich habe gewusst, dass du anders bist, als ich dich das erste Mal sah«, widersprach Raphael. »Ich habe mir eingeredet, dass ich mir alles nur einbilde, weil ich unsere Freundschaft nicht beenden wollte, und jetzt habe ich dich damit nur in Gefahr gebracht.«

Daniel starrte Raphael überrascht an. Er wusste, dass Raphael immer etwas melancholisch war, trotzdem war ihm diese Seite neu.

»Gib dir keine Schuld für etwas, das du nicht ändern kannst«, sagte Daniel schließlich.

Raphael erwidert nichts; die beiden sahen sich stumm in die Augen. Da spürte Daniel etwas in sich aufsteigen. Er konnte es mit Worten nicht beschreiben, hatte so etwas noch nie zuvor gefühlt.

Raphaels Augen zogen ihn magisch an, die Pupillen schienen sich zu weiten und verschlangen das Grün. Aus Raphaels Augen wurde eine endlose Spirale, in der Daniel sich verlor. Er schien in einen endlosen Schacht zu fallen, und das Gefühl wog schwer auf seinen Schultern. Bis der Hass kam.

Daniel spürte einen furchtbaren Hass auf die ganze Welt und auf sich selbst. Es dauerte eine Weile, bis er begriff, dass er Raphaels Gefühle spüren konnte.

»Warum hasst du dich so?«, fragte Daniel.

Als Raphael blinzelte, war der Bann gebrochen.

»Wovon redest du?«, fragte Raphael.

»Lass mich dir helfen«, sagte Daniel, ohne auf Raphaels Frage einzugehen.

»Du kannst mir nicht helfen«, behauptete Raphael.

»Wieso nicht?«

»Weil ich am besten weiß, dass man Schmerz nicht teilen kann«, antwortete Raphael.

Daniel schüttelte ungläubig den Kopf. Da sah er, wie sich eine Gestalt dem Fenster näherte. Es war Ranva, die vor dem Fenster stehen blieb und Daniel ansah.

»Hast du alles?«, fragte sie.

Daniel nickte, und Ranva winkte ihn zu sich. »Na dann, nichts wie los!«

Auch die anderen warteten schon auf ihn. Gabriel streckte die Hand nach Daniels Tasche aus und sagte: »Die kannst du ruhig mir geben.«

Daniel reichte ihm sein Gepäck und kletterte aus dem Fenster. Raphael folgte ihm, blieb dann aber auf dem Fenstersims sitzen. Ranva lehnte sich an seine Beine.

»So, wollen wir dann los?«, fragte Farah voller Tatendrang.

»Bin ich ganz dafür«, sagte Gabriel. »Können wir laufen oder sollen wir fliegen?«

»Oh nein«, murmelte Daniel, und die anderen lachten.

Wyn zwinkerte ihm zu. »Laufen ist vollkommen in Ordnung.«

»Ich habe vorhin hinter dem Haus eine Spur gefunden«, unterbrach sie da Leander. »Ich würde gerne mit Raphael hierbleiben und sie mir genauer ansehen.«

Raphael zuckte nur mit den Schultern.

Ranva drehte sich zu ihm um und knabberte zärtlich an seinem Ohr. »Dann muss ich dich ja loslassen«, flüsterte sie ihm zu.

Raphael küsste sie sanft auf die Stirn. »Hör einfach nicht auf, an mich zu denken«, sagte er.

Ranva lächelte. »Ich denke doch immer an dich.«

»Eure Zweisamkeit in allen Ehren, aber wollten wir nicht los?«, erinnerte Farah sie.

Ranva seufzte und löste sich von Raphael. »Na schön, ich bin so weit«, sagte sie.

Gabriel dirigierte sie in Richtung Straße, sodass sie Raphael und Leander hinter sich ließen. Daniel verlor seinen besten Freund nur ungern aus den Augen, besonders nach dem Erlebnis von gerade eben. Er versuchte, sich mit dem Gedanken zu trösten, dass Leander bei ihm war. Leander würde es bestimmt bemerken, wenn es Raphael schlecht ging. Doch was, wenn Raphael auch von ihm keine Hilfe annahm?

»Ist alles in Ordnung mit dir?«, durchbrach Ranva seine Gedanken.

»Ich weiß nicht genau«, antwortete Daniel wahrheitsgemäß, »mir ist vorhin etwas echt Schräges passiert.«

»Schräger als wir?«, grinste Farah. »Das bezweifle ich. Los, lass hören!«

Daniel dachte kurz darüber nach, wie er es am besten ausdrücken sollte. Es fiel ihm schwer, da er sich nicht einmal selbst sicher darüber war, was er erlebt hatte.

»Als ich vorhin mit Raphael alleine war, konnte ich plötzlich Hass fühlen«, fing Daniel an, »und ich meine nicht, dass ich plötzlich wütend geworden bin. Ich konnte Raphaels Hass spüren.«

Vier Augenpaare richteten sich ungläubig auf ihn. »Wie meinst du das, du konntest Raphaels Hass spüren?«, fragte Ranva vollkommen perplex.

»Ich weiß auch nicht. Ich habe Raphael in die Augen gesehen, dann hat plötzlich alles angefangen, sich zu drehen«, antwortete Daniel.

»Du bist es«, flüsterte Gabriel. »Du bist der Engel des Hasses.«

»Und du wirst stark sein«, fügte Ranva hinzu. »Es wird gefährlich werden für dich.«

Automatisch sahen alle zu Wyn. Der hatte sich bisher in Schweigen gehüllt und war nur neben den anderen hergelaufen.

Gabriel stieß ihn kurz mit der Schulter an. »Hey, Wyn, bist du noch bei uns?«, fragte er.

Wyn hob den Kopf. »Was?«

»Hast du gerade überhaupt zugehört?«, wollte Farah wissen.

»Nein«, erwiderte Wyn völlig überrumpelt.

»Immerhin ist er ehrlich«, lachte Gabriel kopfschüttelnd.

Wyn sah ihn bloß verständnislos an.

»Sag schon, was geht in deinem Kopf vor?«, fragte Gabriel.

»Nichts«, antwortete Wyn, doch er wirkte nicht sehr überzeugend.

»Mal abgesehen davon, dass ich es erkenne, wenn jemand lügt«, sagte Gabriel, »sieht man dir an der Nasenspitze an, dass du nicht die Wahrheit sagst.«

Wyn lachte kurz und freudlos auf. »Du würdest mich für verrückt halten«, behauptete er.

»Sind wir nicht alle etwas verrückt?«, fragte Gabriel.

Daraufhin sagte niemand mehr etwas, woraufhin sie schweigend durch die Dunkelheit gingen.

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