Buch lesen: «Minarett»

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www.lenos.ch

Leila Aboulela

Minarett

Roman

Aus dem Englischen von Irma Wehrli


Die Autorin

Leila Aboulela, geboren 1964 in Kairo, wuchs als Tochter einer ägyptischen Mutter und eines sudanesischen Vaters in Khartum, Sudan, auf. Sie studierte Ökonomie und Statistik an der dortigen Universität sowie Ökonomie und Politikwissenschaft in London. Ab 1990 Dozentin und wissenschaftliche Assistentin in Aberdeen, Schottland. Nach Jahren in Jakarta, Dubai, Abu Dhabi und Doha lebt sie seit 2012 wieder in Aberdeen. Aboulela veröffentlichte fünf Romane, zwei Erzählungsbände und Hörspiele. Ihre Werke wurden mehrfach ausgezeichnet und in rund fünfzehn Sprachen übersetzt. leila-aboulela.com

Die Übersetzerin

Irma Wehrli, geboren 1954 in Liestal. Studium der Anglistik, Germanistik und Romanistik. Schwerpunkt ihrer Übersetzungstätigkeit sind englische und amerikanische Autoren des 19. Jahrhunderts und der klassischen Moderne (Hardy, Wilde, Kipling, Mansfield, Hawthorne, Whitman, Cather, Wolfe u. a.). Für ihre Übertragung des Romans Of Time and the River von Thomas Wolfe wurde ihr 2011 das Zuger Übersetzer-Stipendium zugesprochen, 2017 wurde ihr die Ehrendoktorwürde der Universität Basel für ihr Gesamtwerk als Kulturvermittlerin verliehen. Für den Lenos Verlag übersetzte sie 2019 When the Emperor Was Divine von Julie Otsuka.

Titel der englischen Originalausgabe:

Minaret

Copyright © 2005 by Leila Aboulela

E-Book-Ausgabe 2020

Copyright © der deutschen Übersetzung

2020 by Lenos Verlag, Basel

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Lenos Verlag, Basel

Coverfoto: Sandrine Vivès-Rotger

eISBN 978 3 85787 984 5

Inhalt

Die Autorin

Die Übersetzerin

Bismillâh al-rachmân al-rahîm

Erster Teil: Khartum, 1984/85

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Zweiter Teil: London, 2003

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Dritter Teil: London, 1989/90

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierter Teil: 2003/04

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

Achtundzwanzig

Neunundzwanzig

Dreissig

Fünfter Teil: 1991

Einunddreissig

Zweiunddreissig

Sechster Teil: 2004

Dreiunddreissig

Vierunddreissig

Fünfunddreissig

Sechsunddreissig

Anmerkungen der Übersetzerin

Minarett

Bismillâh al-rachmân al-rahîm 1

Ich bin gesunken, tief gesunken. Ich bin abgerutscht an einen Ort, wo die Decke niedrig ist und man sich kaum bewegen kann. Meistens finde ich mich damit ab. Meistens begehre ich nicht auf. Ich nehme mein Urteil an und grüble nicht und schaue nicht hinter mich. Aber manchmal bringt eine Veränderung die Erinnerung zurück. Der gewohnte Trott wird gestört, und ein Neuanfang lässt mich jäh erkennen, wozu ich geworden bin, wie ich da auf einer Strasse voller Herbstlaub stehe. Die Bäume im Park gegenüber sind wie poliertes Silber und Messing. Ich blicke auf und sehe das Minarett der Moschee von Regent’s Park über den Bäumen. Ich habe es noch nie so früh am Morgen gesehen, in diesem verletzlichen Licht. London ist am schönsten im Herbst. Im Sommer ist die Stadt aufgedunsen und schäbig, im Winter wird sie von der Weihnachtsbeleuchtung geflutet, und der Frühling, die Zeit der Geburt, ist immer enttäuschend. Jetzt ist ihr bester Moment, jetzt ist sie mit sich im Reinen, wie eine reife Frau, deren Schönheit nicht mehr taufrisch ist und doch seltsam betörend.

Mein Atem dampft. Ich bleibe stehen, um auf einen Klingelknopf zu drücken, die Adresse steht in meinem Notizbuch. Um acht, hat sie gesagt. Ich huste und befürchte, auch in Gegenwart meiner neuen Arbeitgeberin husten zu müssen, so dass sie sich sorgt, ich könnte ihr Kind anstecken. Aber vielleicht neigt sie nicht zu Ängstlichkeit. Ich kenne sie ja noch nicht. Ich habe sie erst einmal gesehen, letzte Woche, als sie auf der Suche nach einer Hausangestellten in die Moschee kam. Sie wirkte elegant und in Eile. Ihr Seidentuch war nachlässig um Kopf und Nacken geschlungen, und als es verrutschte und ihr Haar entblösste, nahm sie sich nicht die Mühe, es wieder zurechtzuzupfen. So sind manche Araberinnen – eine reiche Studentin, Ende zwanzig, die das Leben im Westen auskostet … Aber ich kannte sie trotzdem noch nicht. Sie war nicht sie selbst, als sie mich ansprach. Die wenigsten Leute sind in einer Moschee ganz bei sich. Sie sind kleinlaut, und ein fragiler, vernachlässigter Teil ihrer selbst beherrscht sie.

Hoffentlich hat sie mich nicht vergessen. Hoffentlich hat sie sich nicht umentschieden und ihr kleines Mädchen in eine Kinderkrippe gegeben oder jemand anders genommen. Und hoffentlich bleibt ihre Mutter, die das Baby bis jetzt gehütet hat, nicht noch länger in Grossbritannien, und es braucht mich gar nicht mehr. Auf der St John’s Wood High Street ist viel los. Männer im Anzug und junge Frauen in topmodischen Kleidern steigen in neue Autos und brausen zu ihren tollen Arbeitsplätzen davon. Das ist eine piekfeine Gegend. Pastellrosa und viel Platz, wie es Leuten mit Geld vergönnt ist. Die Vergangenheit nagt, doch es sind nicht Besitztümer, die ich vermisse. Ich will keinen neuen Mantel, sondern möchte bloss meinen alten öfter reinigen lassen können. Ich wünschte nur, man hätte mir nicht so viele Türen vor der Nase zugeschlagen: die Türen von Taxis und Schulen, von Kosmetiksalons und Reisebüros, mit denen ich auf den Haddsch2 gehen könnte …

Als jemand sich an der Türsprechanlage meldet, sage ich mit hoffnungsvoll angespannter Stimme: »Salam alaikum, ich bin’s, Nadschwa …« Sie erwartet mich, alhamdulillâh.3 Ich werde vom Geräusch des Summers fast euphorisch. Ich stosse die Tür auf, und Holzwände umgeben mich: wohlkonservierte und gepflegte Vergangenheit. Das ist ein wunderbares Haus, würdevoll und behäbig. Altes, umsichtiges Geld, von Generation um Generation mit Liebe und Sorgfalt gehätschelt. Nicht wie das Geld meines Vaters, das ein Regime eingetrieben und Omar verschwendet hatte. Und auch ich war leichtsinnig mit meinem Anteil gewesen und hatte nichts Nützliches damit angefangen. In der Eingangshalle hängt ein Spiegel. Er zeigt eine Frau mit weissem Kopftuch im unförmigen beigen Mantel. Die Augen sind zu hell und die Wimpern zu lang, aber trotzdem sehe ich unscheinbar und verlässlich aus und bin im richtigen Alter. Ein junges Kindermädchen könnte nachlässig sein und ein älteres sich über Rückenschmerzen beklagen. Ich bin im richtigen Alter.

Der Aufzug ist altertümlich, so dass ich an der Tür rütteln muss. Der Lärm dröhnt durch die elegante Stille des Hauses. Ich will den Knopf ins zweite Stockwerk drücken, aber auf dem ersten Knopf steht eins bis drei, auf dem zweiten drei bis vier und auf dem dritten vier bis sechs. Ich versuche mir einen Reim darauf zu machen, bin aber noch immer verwirrt. Ich beschliesse, lieber die Treppe zu nehmen. Über mir fällt eine Tür ins Schloss, und eilige Schritte kommen die Stufen herunter. Ein hochaufgeschossener junger Mann mit spriessendem Bart und Lockenschopf taucht vor mir auf. Ich halte ihn auf und frage ihn wegen des Aufzugs.

»Das sind die Nummern der Wohnungen und nicht der Stockwerke.« Er spricht Englisch, als wäre es seine Muttersprache, aber sein Akzent ist nicht von hier. In London errät man die Herkunft der Leute nur mit Mühe. Wäre er Sudanese, so würde er als hellhäutig gelten, aber ich kann ja nicht wissen, ob er einer ist.

»Ach so, danke.« Ich lächle, doch er erwidert das Lächeln nicht.

Stattdessen wiederholt er: »Sie müssen einfach auf die Nummer der Wohnung drücken, zu der Sie wollen.« Seine Augen sind wässrig braun, und es glänzt kein Scharfsinn darin, ganz im Unterschied zu Anwar, sondern Intuition. Ja, vielleicht ist er empfindsam, aber nicht besonders klug, nicht so schlagfertig und blitzgescheit wie die meisten jungen Leute.

Ich danke ihm noch einmal, und er neigt ein wenig den Kopf und zuckt mit den Schultern, um den Riemen seiner Tasche zurechtzurücken. Die Jugend gibt uns einen Vorgeschmack auf das Paradies, heisst es. Als er sich entfernt und das Gebäude verlässt, wird alles wieder wie sonst.

Ich fahre hoch, öffne die Lifttür, betrete einen eleganten, gesaugten Teppich und mache hoffnungsvolle Schritte auf die Wohnung zu. Ich werde mit dem kleinen Mädchen auf den Platz gegenüber gehen. Ich werde mit ihr zur Moschee gehen und es so einrichten, dass ich mit den anderen beten und danach die Enten in Regent’s Park füttern kann. Sehr wahrscheinlich hat die Wohnung Satellitenfernsehen, und ich kann einen ägyptischen Film bei ART und die Nachrichten auf al-Dschasîra sehen. Letzte Woche hörte ich einen Vortrag, und diese Worte sind mir im Gedächtnis geblieben und haben mich am meisten berührt: Die Gnade Allahs ist weit wie das Meer. Unsere Sünden sind ein Lehmklumpen im Schnabel einer Taube. Die Taube sitzt auf einem Zweig am Rand dieses Meers. Sie muss bloss ihren Schnabel öffnen.

Erster Teil

Eins

»Omar, bist du wach?« Ich schüttelte den Arm über seinem Gesicht, der seine Augen verdeckte.

»Hmm.«

»Steh auf.« Sein Zimmer war angenehm kühl, weil er die beste Klimaanlage im Haus hatte.

»Ich kann mich nicht rühren.« Er nahm den Arm vom Gesicht und blinzelte mich an. Ich wich mit dem Kopf zurück und rümpfte wegen seines Mundgeruchs die Nase.

»Wenn du nicht aufstehst, nehme ich das Auto.«

»Im Ernst, ich kann nicht … ich kann mich nicht rühren.«

»Na, dann fahre ich ohne dich.« Ich ging an seinem Schrank und dem Michael-Jackson-Poster vorbei zum anderen Ende des Zimmers. Dort schaltete ich die Klimaanlage aus. Das Gerät verstummte geräuschvoll, und die Hitze lauerte draussen und wartete darauf, sich hereinzustürzen.

»Warum tust du mir das an?«

Ich lachte und sagte munter: »Das wird dich aus den Federn jagen.«

Unten trank ich Tee mit Baba. Er sah immer so gut aus am Morgen, frisch geduscht und nach Rasierwasser duftend.

»Wo ist dein Bruder?«, brummte er.

»Kommt wohl gleich runter«, sagte ich.

»Und wo ist deine Mutter?«

»Es ist Mittwoch, sie geht ins Fitnesstraining.« Es verblüffte mich stets, wie unbeirrbar Baba Mutters Terminkalender vergass und wie seine Augen hinter den Brillengläsern besorgt ins Leere blickten, wenn er von ihr sprach. Er hatte nach oben geheiratet, um voranzukommen. Seine Lebensgeschichte bestand darin, wie er es aus bescheidenen Verhältnissen zum Stabschef des Präsidenten brachte, nachdem er in eine alte, vermögende Familie eingeheiratet hatte. Ich hörte mir die Geschichte ungern an, sie verwirrte mich. Ich glich allzu sehr meiner Mutter.

»Verwöhnt«, murmelte er über seiner Teetasse, »ihr seid alle drei verwöhnt.«

»Ich werde es Mama sagen, dass du so über sie sprichst!«

Er verzog das Gesicht. »Sie ist zu nachsichtig mit deinem Bruder. Das ist nicht gut für ihn. Als ich so alt war wie er, schuftete ich Tag und Nacht; ich wollte es zu etwas bringen …«

O nein, dachte ich, komm nicht wieder damit.

Man muss es mir angesehen haben, denn er sagte: »Natürlich willst du nicht auf mich hören …«

»O Baba, tut mir leid.« Ich herzte ihn und küsste ihn auf die Wange. »Wunderbares Parfum.«

»Paco Rabanne.« Er lächelte.

Und ich lachte, denn keinem Vater in meinem Bekanntenkreis lag so viel an seiner Kleidung und an seinem Aussehen wie ihm.

»So, es wird Zeit«, sagte er, und das Ritual seines Abschieds begann. Der Boy erschien aus der Küche und trug seine Aktentasche zum Auto. Mûssa, der Fahrer, sprang aus dem Nichts herbei und öffnete ihm den Schlag.

Ich sah zu, wie sie davonfuhren, und dann stand nur noch der Toyota Corolla in der Auffahrt. Er hatte Mama gehört, aber letzten Monat hatten Omar und ich ihn geschenkt bekommen. Mama besass jetzt ein neues Auto, und Omar benutzte sein Motorrad nicht mehr.

Ich sah in den Garten hinaus und auf die Strasse dahinter. Es waren keine Fahrräder unterwegs. Ich hatte einen Verehrer, der unentwegt an unserem Haus vorbeiradelte. Manchmal kam er drei- oder viermal am Tag. Seine Augen waren hoffnungsfroh, dabei verachtete ich ihn. Aber blieb die Strasse wie jetzt leer, so war ich enttäuscht.

»Omar!«, rief ich von unten. Wir würden zu spät zur Vorlesung kommen. Zu Beginn des Semesters, unseres allerersten an der Universität, waren wir immer sehr rechtzeitig aufgebrochen. Doch sechs Wochen später entdeckten wir, dass es angesagt war, erst in letzter Minute aufzutauchen. Alle Dozenten erschienen zehn Minuten nach der vollen Stunde und kamen in die Säle voll erwartungsvoller Studenten hereingerauscht.

Ich hörte keinen Ton von oben und sauste wieder die Treppe hoch. Nein, das Bad war leer. Ich machte die Tür zu Omars Zimmer auf, und der Raum war wie erwartet ein Brutofen. Doch da lag er in tiefem Schlaf hingestreckt und schnarchte. Er hatte das Bettzeug abgestrampelt und lag schweissnass und erschlafft da.

»So, das reicht. Ich fahre jetzt, ich hab nichts mehr mit dir zu schaffen.«

Er rührte sich ein wenig. »Was’n?«

In meiner Stimme lag Ärger, aber ich hatte auch Angst. Angst vor seiner Schläfrigkeit, an der keine Krankheit schuld war; Angst vor seiner Lethargie, über die ich mit niemandem sprechen konnte.

»Wo ist der Schlüssel?«

»Hä?«

»Wo ist der Autoschlüssel?« Ich warf seine Schranktür auf.

»Nein, in meiner Jeans … hinter der Tür.«

Ich zog den Schlüssel aus der Tasche, und Münzen fielen heraus und eine Schachtel Benson & Hedges.

»Wehe, wenn Baba das erfährt.«

»Mach die Lüftung wieder an.«

»Nein.«

»Bitte, Nana.«

Ich liess mich durch den Kosenamen ein wenig erweichen. Die Zwillingssymbiose packte mich, und vorübergehend war ich es, die sich so erhitzt und todmüde fühlte. Ich schaltete die Klimaanlage wieder ein und stapfte aus dem Zimmer.

Ich kurbelte das Autofenster hoch gegen den Staub und damit der heisse Wind mein Haar nicht zerzauste. Gern hätte ich mich wie eine emanzipierte junge Studentin gefühlt, die selbstbewusst am Steuer ihres eigenen Autos sass. War ich schliesslich nicht eine emanzipierte junge Frau, die ihren Wagen eigenhändig zur Universität fuhr? In Khartum gab es nur wenige Autofahrerinnen, und an der Universität waren nicht mal dreissig Prozent der Studenten Mädchen – wenn das nicht Grund für zu viel Selbstvertrauen war. Trotzdem war es mir lieber, wenn Omar auch da war, wenn Omar fuhr. Ich vermisste ihn.

Ich fuhr langsam, blinkte jedes Mal und achtete auf die Radfahrer. Bei der Ampel an der Gumhurîjastrasse klopfte ein kleines Mädchen an mein Fenster und bettelte mit gesenktem Kopf und leerem Blick. Weil ich allein war, gab ich ihr einen Geldschein. Wäre Omar dabei gewesen, so hätte ich ihr eine Münze gegeben – er verabscheute Bettler. Sie griff mit ungläubigem Staunen nach den fünf Pfund und eilte zurück auf den Gehsteig. Als die Ampel auf Grün wechselte, fuhr ich weiter. Im Rückspiegel sah ich, wie andere Kinder und ein paar verzweifelte Erwachsene das Mädchen umringten. Staub wirbelte auf, und ein Streit entbrannte.

Mit schweissnassen Händen klopfte ich an die Tür des Hörsaals 101. Ich war eine Viertelstunde zu spät. Drinnen hörte ich Doktor Baschîr ein weiteres Kapitel Buchhaltung, mein ungeliebtestes Fach, dozieren, aber mein Vater wollte, dass Omar Wirtschaft studierte. Und ich wollte, nach Jahren an einer Mädchenschule, mit Omar zusammen sein. Ich klopfte noch einmal lauter und drehte mutig am Knauf. Die Tür war geschlossen. Also hatte Doktor Baschîr seine Ankündigung wahr gemacht, keine Zuspätkommenden in seinen Vorlesungen zu dulden. Ich drehte mich um und ging zur Cafeteria.

Meine Lieblingscafeteria war im rückwärtigen Teil der Universität. Sie lag am Blauen Nil, aber das dichte Laub der Bäume verdeckte den Blick auf das Wasser. Der schattige Morgen und der Duft der Mangobäume beruhigten mich allmählich. Ich setzte mich an einen Tisch und tat so, als würde ich meine Notizen lesen. Sie sagten mir nichts und erfüllten mich mit Leere. Ich ahnte, wie viele Stunden es brauchen würde, auswendig zu lernen, was ich nicht begriff. Als ich aufblickte, sah ich, dass Anwar al-Sir an einem Nachbartisch sass. Er war in seinem letzten Studienjahr, und man wusste, dass er Bestnoten bekam. Heute war er mit seiner Zigarette und einem Glas Tee allein. Auf dem Campus waren die meisten ungepflegt, aber er hatte immer saubere Hemden an, war glattrasiert und trug sein Haar kurz, obwohl längere Frisuren Mode waren. Omar trug sein Haar genauso wie Michael Jackson auf dem Cover seines Albums Off the Wall.

Anwar al-Sir war Mitglied der Demokratischen Front, des studentischen Zweigs der Kommunistischen Partei. Vermutlich hasste er mich, schliesslich hatte ich ihn in einer nadwa4 voller Witz und Verachtung über die Bourgeoisie herziehen hören. Die Familien mit Ländereien, die Kapitalisten, die Aristokraten, sie seien schuld an dem Schlamassel, in dem sich unser Land befinde, sagte er. Ich unterhielt mich mit Omar darüber, aber der fand, ich nähme das zu persönlich. Omar hatte keine Zeit für Leute wie Anwar, er hatte seine eigenen Freunde. Sie tauschten untereinander Videos von Top of the Pops und wollten alle einmal nach Grossbritannien gehen. Omar fand, es sei uns unter den Engländern bessergegangen und es sei schade, dass sie nicht mehr da waren. Ich passte auf, dass er in seinen Aufsätzen in Geschichte und Wirtschaft nichts dergleichen schrieb, denn alle Lehrbücher und Dozenten waren sich einig, dass der Kolonialismus an unserem Entwicklungsrückstand schuld war.

Es wäre kindisch gewesen, mich woandershin zu setzen. Aber ich fühlte mich unbehaglich Auge in Auge mit Anwar. Er lächelte mich an, und das verblüffte mich. Er liess mich nicht aus den Augen. Meine Bluse fühlte sich zu eng und mein Gesicht zu erhitzt an. Ich muss gestöhnt haben, denn er sagte: »Es ist heiss, was? Und du bist Klimaanlagen gewohnt.« Sein Ton war spöttisch.

Ich lachte. Als ich antwortete, klang meine Stimme fremd in meinen Ohren, als ob sie nicht mir gehörte: »Aber ich mag es lieber heiss als kalt.«

»Warum?« Er warf seine Zigarettenkippe weg und wischte Sand mit den Füssen darüber. Seine Bewegungen waren sanft.

»Das ist doch natürlicher, nicht?« Zwei Tische trennten uns, und ich fragte mich, wer wohl den ersten Zug machen, aufstehen und zum Nachbartisch gehen würde.

»Kommt drauf an«, sagte er. »Ein Russe würde vielleicht die Kälte natürlich finden.«

»Wir sind aber keine Russen.«

Sein Lachen war angenehm, und dann verstummte er. Sein Schweigen enttäuschte mich, und ich überlegte mir, wie ich das Gespräch wieder in Gang bringen könnte. Schnell stoppelte ich mir im Kopf ein paar Sätze zusammen: Du hast doch einen Bruder, der in Moskau studiert. Mir ist die Klimaanlage im Auto ausgestiegen. Weisst du, Doktor Baschîr wollte mich nicht mehr reinlassen. Aber ich verwarf alle als einfältig und fehl am Platz.

Das Schweigen begann zu dröhnen, bis mein Herzklopfen das Vogelgezwitscher übertönte. Ich stand auf und verliess die Cafeteria, ohne ihn anzuschauen oder mich zu verabschieden. Es war fast zehn und Zeit für die Makroökonomie.

Der Dozent liess die Präsenzliste zirkulieren. Ich trug mich ein, nahm einen anderen Stift und schrieb in steileren Buchstaben Omars Namen auf das Blatt.

Als die Makro-Vorlesung um war, wartete Omar vor dem Saal auf mich.

»Gib mir den Autoschlüssel.«

»Hier. Und vergiss nicht, dass wir um zwölf Geschichte haben. Bitte lass dich da blicken.«

Er runzelte bloss die Stirn und eilte davon. Ich machte mir Sorgen um ihn. Sie liessen mich nicht los. Schon als ich klein war, hatte meine Mutter zu mir gesagt: »Pass gut auf Omar auf, du bist das Mädchen, du bist die Ruhige und Vernünftige. Pass auf Omar auf.« Und Jahr um Jahr nahm ich meinen Bruder in Schutz. Ich spürte seine Schwachheit und kümmerte mich um ihn.

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