BEUTEZEIT – Manche Legenden sind wahr

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Aus der Reihe: Manche Legenden sind wahr #1
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Kapitel 7

Te Urewera, Tag eins

Nach nur einer halben Stunde waren Jules Handflächen bereits feucht und kalt. Schweißtropfen rannen zwischen ihren Brüsten hinunter. Während sie sich auf den Weg und die gleichmäßigen Schritte von Private Wrights – oder Leftys – Stiefeln vor sich konzentrierte, fühlte sie sich in diesem Moment wie in einem Horrorfilm, wenn man zu lange den Atem anhielt, weil man mit dem nächsten Schrecken rechnete. Sie zwang sich, langsam wieder auszuatmen, und hoffte, dass niemand sie verdächtigte, kurz davor zu sein, in Panik zu geraten. Am Ende hielten sie sie noch für untauglich.

Anstatt zu Tode verängstigt.

Jeder Schritt führte sie tiefer in den Nebel hinein. Bislang war die Wanderung wenig beschwerlich und der Pfad noch gut ausgetreten und einigermaßen eben gewesen, aber bald schon würden sie die tiefen Täler und steilen Berggipfel erreichen, für die der Nationalpark bekannt war. Trügerische, gnadenlose Bergkämme, die in steile Schluchten hinabfielen und sie an jene lange Nacht erinnerten, als sie sich an die Felsklippe klammerte und auf den verletzten und verdrehten Körper ihrer Freundin hinuntersah, der regungslos am Fuße des Abgrunds lag …

Sie brauchte eine Ablenkung. Aber es war aussichtslos, einen heiteren Plausch mit Richard, Louise oder selbst Lefty führen zu können. Der Pfad war zu schmal und zwang sie daher, im Gänsemarsch hintereinander zu laufen, so wie Peter Pans verlorene Jungen. Jules heftete ihren Blick auf ihre Stiefel und den Pfad und lauschte stattdessen den Geräuschen des Waldes. In den Ureweras wimmelte es von Vögeln. Das ist es! Sie würde sich damit beschäftigen, die Stimmen der einzelnen Vogelarten zu identifizieren. Eine Denkaufgabe. Genau das brauchte sie jetzt.

Angestrengt versuchte sie die einzelnen Vogelgesänge über das Klappern der Rucksäcke und den schweren Schritten der Stiefel hinweg zu isolieren. Das ausgelassene Zwitschern der Tui und Glocken-Schwatzvögel und das schrille Zirpen eines Fächerschwanzes herauszuhören, war einfach. In der Nähe schnalzte ein Kaka. Hin und wieder drang das truthahn-ähnliche Kollern der einheimischen Ringeltauben durch die Bäume, und dann … auch wenn sie sich nicht ganz sicher war … obwohl es möglich war … da war es wieder … das herzzerreißende Klagen eines silbernen Kōkako, etwas weiter entfernt, aber unverkennbar schön. Jules strengte sich an, den Ruf noch einmal zu vernehmen … und erinnerte sich in diesem Moment wieder daran, wieso sie den Wald so liebte. Er war so prächtig, so emsig.

So voller Leben!

Sie sah in den Himmel, bestaunte die mit graugrünen Flechten behangenen Zweige einer Silberbuche und atmete den reichen, feuchten Duft von Laub ein.

Wie dumm! Wie hatte sie das aufgeben können? In der Natur zu sein? Die Reinheit, die Ruhe. Die ganze Zeit über hatte sie dem Wald die Schuld gegeben für das, was Sarah widerfahren war. Für die furchtbare Nacht an dieser Klippe. Der Unfall aber war ein einmaliges Ereignis gewesen. Ein Zufall. Ein unvorhersehbarer Akt Gottes. Der Wald hatte damit nichts zu tun. Wenn sie nicht so stur gewesen wäre, hätte sie das alles weiter genießen können, anstatt sich dessen zu verweigern. Vielleicht hätte es auf sie heilsam wirken können.

Ja, natürlich hatte sie Angst. Wer hätte die nicht, nach allem, was sie durchmachen musste? Die Wälder konnten gefährlich sein. Aber vielleicht war es an der Zeit, ihren Groll zu begraben?

Jules erhaschte einen Blick auf das bunt schillernde Gefieder eines Tuis, der in die lederigen Zweige eines Fünf-Finger-Baums hüpfte, und trotz des Gewichts ihres Rucksacks fühlten sich ihre Schritte nun etwas leichter an.

***

Jugraj Singh klammerte sich fest. Es war nicht das erste Mal an diesem Tag, dass seine Füße unter ihm weggerutscht waren. Schwerfällig lehnte er sich gegen einen Baumstamm und versuchte das Gleichgewicht wiederzuerlangen. Die steilen Böschungen waren so rutschig, und ihr Abstieg von Wasserrinnen durchzogen. Das Profil seiner Stiefel war bereits mit roter Lehmerde verklebt. Da half es auch nur wenig, dass er sich am Ende ihrer Gruppe befand. Teile des Pfades waren durch ihre Schritte erodiert und erschwerten das Vorankommen.

Jug beneidete die Art, wie Miller scheinbar mühelos den Abhang nahm. Der Soldat war geschickt wie eine Bergziege und stieg den Hang mit kurzen, vorsichtigen Schritten hinunter. Jug versuchte die flinke Technik des Mannes nachzuahmen, aber ein falscher Schritt ließ in bereits wieder auf seinen Hintern fallen. Sein Rucksack scharrte hinter ihm über den Boden.

Scheiße!

Er rutschte einen Meter hinab, erinnerte sich aber daran, sich so in den Hang zu legen, wie man es ihm beigebracht hatte, den Körper nahe am Boden, um seinen Schwung abzubremsen.

Aber er rutschte weiter …

Er grub seine Finger in den Matsch und rutschte noch ein Stück ab.

Irgendwo musste er sich festhalten.

Eine Wurzel.

Verdammt! Zu glitschig …

Ein Felsbrocken.

Halt dich fest!

Endlich war sein Fall gestoppt. Jug hielt inne und atmete schwer. Das war verdammt knapp gewesen. Noch etwas länger, und er wäre vor allen anderen unten angekommen.

Er blickte den Abhang hinunter. Miller hatte eine Lücke gebildet und Jug etwas zurückgelassen. Jug versuchte sich deswegen nicht fertigzumachen. Sehen wir der Wahrheit ins Auge, ich bin mindestens doppelt so alt wie Miller. Tatsächlich war Jug, abgesehen von ihrem Führer, der älteste in ihrer Gruppe, und in diesem Moment spürte er jedes einzelne seiner zweiundvierzig Jahre, fühlte sich wie ein alter Karren und genauso klapprig. Er hatte gedacht, dass der Weg bergab leichter werden würde, aber seine Beine begannen vor Erschöpfung bereits zu zittern. Wenn man im Krankenhaus arbeitete, gab es kaum eine Möglichkeit, seine Muskeln zu trainieren. Tja, in jedem Fall war das gerade ein wirklich forderndes Workout. Zumindest würden sie heute nicht mehr sehr viel weiter laufen, aber Jug graute bereits vor dem morgigen Gewaltmarsch. Der zweite Tag war immer schmerzhafter als der erste.

Jug machte sich im Geiste eine Notiz, wieder öfter ins Fitnessstudio zu gehen, wenn sie zurückgekehrt waren, und vielleicht sogar auf die eine oder andere Cremeschnitte zu verzichten. Priya würde das gefallen. Seit der Sache mit ihrem Bruder hing sie ihm in den Ohren, besser auf sich zu achten. Arzt, heile dich selbst, zitierte sie dann gern. Jug wollte nicht wie sein Schwager enden. Mit zwei Kindern im Highschool- und Mittelschulalter war ein Herzleiden das letzte, was er gebrauchen konnte.

Jug blickte nach vorn. Miller war bereits zu weit voraus. Bald würde Jug nicht mehr imstande sein, den Schritten des Soldaten zu folgen. Besser, sich zu beeilen, sonst würde er allein einen Weg nach unten finden müssen. Mit schmerzenden Knochen griff Jug nach der Ranke einer Berchemie und kletterte weiter den Abhang hinunter.

Te Urewera, erster Lagerplatz, Tag eins

McKenna hatte dafür gesorgt, dass sie sich an den Zeitplan hielten, den er bei ihrem morgendlichen Briefing umrissen hatte. Am späten Nachmittag erreichen sie ein grasbewachsenes Lager an einem kleinen Bach. Die Campinghütte der Naturschutzbehörde befand sich am hinteren Ende des Lagerplatzes. Jules sah den Sergeant ein paar schnelle Worte mit de Haas wechseln, der jedoch nur abwinkte. Dann, ein paar Minuten später, verkündete der Geologe: »Wir schlagen hier unser Lager auf. Ich nehme die Hütte.« Alle stellten ihr Gepäck ab und verteilten sich, um einen geeigneten Platz für ihre Zelte zu finden.

»Sollen wir unser Zelt hier aufschlagen? Was meinst du?«, fragte Louise.

Jules betrachtete die Stelle. Sie befanden sich auf der windabgewandten Seite eines kleinen Hügels am Rande des Zeltplatzes, nur einen Steinwurf von der Hütte entfernt. »Scheint mir so gut wie jeder andere zu sein.«

Hockend begann sie herumliegende Äste und Steine zu entfernen. Es mochte vielleicht schon Jahre her sein, seit sie das letzte Mal im praktischen Einsatz gewesen war, aber in der Zeit hatte sie zumindest nicht vergessen, den Lagerplatz nach scharfen Gegenständen abzusuchen, die die Zeltplane beschädigen konnten.

»Und wie lautet Ihre Geschichte, Louise?«, fragte sie.

»Da gibt es nicht viel zu erzählen«, antwortete Louise. Sie warf ein paar Grashalme in die Luft, um die Windrichtung zu testen.

Jules, die immer noch am Boden kauerte, warf einen abgebrochenen Ast in die Büsche. Sie würde besser schlafen, wenn dieser sich nicht in ihren Rücken bohrte. »Niemand, der zuhause auf Sie wartet?«

»Es gab da jemanden, aber wir haben uns vor einer Weile getrennt.«

»Tut mir leid.«

»Muss es nicht. Er war kein großer Verlust«, sagte Louise, zog das Zelt aus der Tasche und breitete die Stoffbahnen aus. »Ich bin stattdessen einem Filmklub beigetreten. Einmal pro Woche treffen wir uns bei einem von uns, um uns Filme anzusehen und zu besprechen. Eine sehr befriedigende Alternative. Die Dialoge sind besser, und für gewöhnlich wird der Streit am Ende des Films beigelegt.«

»Schön für Sie.«

»Obwohl es schon ein ziemlicher Schlag für mich war, dass er ausgerechnet mit meiner besten Freundin fremdgegangen ist«, fügte sie noch hinzu.

Jules steckte die Zeltstangen aus Fiberglas ineinander und verzog das Gesicht. »Autsch.«

»Mhmmhm. Nicht besonders originell, oder? Was ist mit Ihnen? Sind Sie verheiratet?«

Jules schnaubte. »Nein. Der einzige, der zuhause auf mich wartet, ist mein Kater namens Mr. Cato, und um ehrlich zu sein, führen wir eher eine Meister-und Sklave-Beziehung.«

 

»Zumindest wissen Sie, woran Sie bei ihm sind.« Louise hielt die Öffnung des kuppelförmigen Zeltes aus dem Wind, während Jules die Stäbe durch den Stoff schob.

»Oh nein, er geht mir auch fremd«, erklärte Jules über das Zelt hinweg. »Man hat ihn dabei beobachtet, wie er gleich nach dem Frühstück das Haus unserer Nachbarn verließ.« Sie unterbrach kurz ihre Arbeit und hielt sich ihre Hand vor den Mund, um ein vertrauliches Flüstern zu simulieren. »Ich habe ihn dabei erwischt, wie er sich an ihr rieb.«

»Nein!«, rief Louise aus. »Dieser Schuft!«

Sie lachten noch, als sie die Kuppel festzogen und die äußere Zeltplane darüber warfen.

***

Jules zog den Reißverschluss ihrer Jacke gegen die kalte Abendluft zu. Die Gruppe hatte sich an einem Lagerfeuer versammelt, um einander besser kennenzulernen. Zwangsläufig kehrte die Unterhaltung zu der Straßensperre an diesem Morgen zurück.

»Die meisten Leute in dieser Gegend kennen Rawiri Temera zumindest vom Hörensagen«, sagte Nathan Kerei von seinem Platz auf einem umgestürzten Baumstamm. »Manche fürchten ihn auch ein wenig. Er ist dafür bekannt, ein Matakite zu sein …«

»Ein was?«, unterbrach ihn Ben.

»Ein Matakite. So etwas wie ein Wahrsager«, erklärte Coolie dem Australier leise.

»Okay.«

»Er schien sehr aufgebracht zu sein«, sagte Louise, die im Schneidersitz auf einer Unterlegplane neben Jules saß. Ihnen gegenüber, auf der anderen Seite des Feuers, schnitzte McKenna an einem Stück Holz herum, während ihr Kommunikationsoffizier, Anaru Winters, mit dem Rücken gegen einen Rucksack gelehnt saß und im schwachen Licht versuchte, in einer verbeulten Ausgabe von Wer die Nachtigall stört zu lesen.

»Die meisten Menschen hier vertrauen auf das, was der alte Mann sagt. Sie gehen davon aus, dass Temera es sein wird, der ihnen sagt, wenn der Taupō das nächste Mal ausbricht«, sagte Kerei.

Ben lachte. »Als der Taupō das letzte Mal ausbrach, wusste die ganze Welt davon. 186 AD, wenn ich mich recht entsinne. Es gab Berichte, dass die Asche bis nach Griechenland wehte.«

»Heutzutage braucht es keine durchgeknallten Wahrsager mehr«, schimpfte de Haas. »Das Institut für Geologie und Nuklearwissenschaften verfügt über ein Team von Wissenschaftlern, das ausschließlich damit beschäftigt ist, vulkanische Aktivität zu messen. Dieser alte Mann ist nichts weiter als ein Unruhestifter. Und das habe ich ihm auch gesagt. Er versuchte, uns – eine von der Regierung legitimierte Spezialeinheit – daran zu hindern, den Nationalpark zu betreten.«

Coolie fiel ihm ins Wort. »Bei allem nötigen Respekt, Doktor, aber das hier ist deren Land. Die Ngāi Tūhoe weigerten sich, den Vertrag von Waitangi zu unterzeichnen.«

»Und was soll das bedeuten?«, fragte Trigger. »Dass für sie nicht die gleichen Regeln wie für den Rest von uns gelten?«

Kerei nickte. »Zumindest für einige, ja.«

»Sie haben vielleicht nicht den Vertrag unterschrieben, aber das hat sie nicht davon abgehalten, eine enorme Entschädigung der Regierung anzunehmen, oder?«, sagte Singh. »Wie viel war es noch mal? 170 Millionen?«

»Es geht immer nur ums Geld«, sagte Trigger. »Erinnert ihr euch noch, als dieser Stamm in Waikato die Transit New Zealand dazu brachte, den State Highway One umzuleiten …«

»Das waren die Ngāti Naho«, warf Nathan Kerei schnell ein.

»Wer auch immer«, erwiderte Trigger und fuhr fort. »Plötzlich tauchen die Kaumātua, die Stammesältesten auf, forderten eine Opfergabe, um ihren Taniwha zu beschwichtigen, und im Handumdrehen bekam der Stamm eine fette Entschädigung. Nicht falsch verstehen, Nathan und Taine, ich weiß, dass wir hier von euren Leuten reden, aber so wie ich das sehe, graben die Maori immer dann einen alten Taniwha aus, wenn jemand eine Straße, eine Brücke oder irgendetwas anderes bauen will, und fordern ihren Anteil ein.«

»Ein kleiner Preis für zwei Jahrhunderte Unterdrückung«, murmelte Kerei und seine Wangen zuckten dabei.

Jules blickte zu McKenna. Der Sergeant hatte innegehalten und ließ nun sein Schnitzmesser und das Holzstück in seine Tasche gleiten.

»Nun, das Land gehört ja nie jemandem wirklich, oder? Es wird nur geliehen, bis die nächste Generation folgt und darüber wacht«, sagte Richard.

Jules grinste ihn an. Sie beide wussten, dass Richards Satz eins zu eins aus dem Grundsatzdokument von Landsafe stammte.

»170 Millionen.« Miller pfiff durch die Zähne. »Das ist besser, als im Lotto zu gewinnen.«

»Es ist eine Menge Geld«, stimmte Singh ihm zu, der mit dem Band seiner Uhr spielte. »Damit könnte man ein paar Jahre lang die Armee finanzieren.« Er lachte. »Damit hätten wir das IMP-Programm im letzten Jahr vermeiden können.«

»IMP-Programm?«, erkundigte sich Richard.

»Eine Abkürzung. Es bedeutet, bestimmtes Personal zu einer aussterbenden Art zu machen. Stabsfeldwebel hauptsächlich. Die Armee hat sie aus Kostengründen in den Ruhestand geschickt.«

»Wem sagen Sie das. Sie sollten mal die Budgetkürzungen in der Forschung sehen. Stimmt doch, oder, Jules?«, sagte Richard. »Wir sind heutzutage so sehr damit beschäftigt, durch Finanzierungsreifen zu springen, dass uns kaum noch Zeit fürs Forschen bleibt.«

Irgendwo in der Nähe flatterten ein paar Vögel aufgeregt auf. Ihre Silhouetten stiegen lärmend über das Blätterdach.

Ein Schrei hallte über den Zeltplatz.

Kapitel 8

Taine und Coolie waren als Erste bei ihnen. Hinter einem Gestrüpp aus dürrem Mānukā rollten einander umklammernd Eriksen und Lefty über den Boden. Der zehn Kilogramm schwerere Eriksen hielt Lefty von hinten in einem Würgegriff wie aus einem Wrestling-Lehrbuch – sein Knie bohrte sich in Leftys Rücken, während er seinen Unterarm um dessen Hals geschlungen hatte. Mit seinem ganzen Körpergewicht zog Eriksen ihn nach hinten.

Lefty schlug blind nach seinem Gegner aus, doch durch den Würgegriff war er so gut wie bewegungsunfähig.

»Eriksen, lass ihn los«, donnerte Taine, doch Eriksen ließ nicht locker. Lefty lief bereits rot an. »Das ist ein Befehl, Soldat!«

Mit wütendem Blick ließ Eriksen den Grünschnabel los und trat ihn von sich.

Lefty brach auf dem Boden zusammen, umklammerte seine Kehle und sog rasselnd die Luft ein.

»Was zur Hölle sollte das werden?«

Keiner der beiden Männer antwortete ihm.

»Eriksen!«

»Nichts, Boss. Ist was Persönliches.«

»Lefty?«

Lefty, der noch immer im Gras lag, nickte Taine nur kurz zu. Worum es auch ging, die beiden Männer zogen es offenbar vor, es für sich zu behalten.

»Nun, wenn es etwas Persönliches ist«, sagte Taine, »kann es auch bis nach dem Einsatz warten. Danach könnt ihr euch meinetwegen gegenseitig umbringen. In der Zwischenzeit aber erwarte ich, dass ihr euch wie Soldaten der NZDF benehmt. Ist das klar?« Er sah zuerst Eriksen, dann Lefty an. Dann machte er, ohne auf eine Bestätigung der beiden zu warten, auf den Hacken kehrt und lief zum Lagerfeuer zurück.

»Hier gibt’s nichts mehr zu sehen, Leute«, hörte er Coolie noch an die Schaulustigen gerichtet sagen.

Erst jetzt bemerkte Taine, dass de Haas hinter ihm herhechelte, um mit ihm Schritt halten zu können.

»McKenna.«

»Ja?« Taine sah keinen Grund, sein Schritttempo zu verlangsamen.

»Wollen Sie denn wegen der beiden nichts unternehmen?«, wollte de Haas wissen.

»Zum Beispiel?«

»Na ja, sie bestrafen, zum Beispiel. Um für die anderen ein Exempel zu statuieren.«

»Sie sagten, es sei eine persönliche Sache gewesen«, erklärte Taine.

»Aber sie haben sich geprügelt

Taine wirbelte zu dem Geologen herum und stellte fest, dass er auf die kahle Stelle auf dem Kopf des alten Mannes herunterblicken konnte. »Das sind Soldaten. Sie sind darauf trainiert, zu kämpfen, Dr. de Haas.«

»Das genügt mir nicht. Ich möchte, dass diese Männer bestraft werden.«

Taines Nasenflügel bebten. »Das wird nicht nötig sein.«

»Sergeant McKenna, ich hoffe, ich muss Sie nicht daran erinnern, dass ich der Einsatzleiter dieser Spezialeinheit bin.« De Haas richtete sich zu voller Größe auf und reckte sein Kinn nach vorn.

Darauf lief es also hinaus.

»Ich bin mir der Befehlskette voll und ganz bewusst, Doktor. Die Privates Wright und Eriksen sind jedoch Angehörige der New Zealand Defense Force«, erklärte Taine mit ruhiger Stimme, »und unterstehen daher meiner Verantwortung.«

De Haas schnaubte. »Ja, natürlich, und wir haben ja bereits gesehen, wie gut das funktioniert.«

»Das war nichts weiter als eine kleine Auseinandersetzung unter Freunden«, sagte Taine. Er spürte den Puls an seiner Stirn pochen. »Sehen Sie es einfach als übermütige Keilerei am ersten Tag im Ferienlager an. Ich habe ihnen gesagt, dass die Sache damit erledigt ist.« Schulmeisterlich stemmte der Geologe seine Hände in die Hüften. »Ich habe keine Lust, dabei zuzusehen, wie Ihre Leute den Erfolg meiner Expedition aufs Spiel setzen. Wenn Sie sich nicht unter Kontrolle halten können …«

»Wie ich bereits sagte, die Sache ist hiermit geklärt«, erwiderte Taine unterkühlt. »Und jetzt entschuldigen Sie mich.«

***

Auf dem Rückweg in ihr Zelt hielt de Haas Jules und Louise auf.

»Louise, Sie und Dr. Asher werden die Hütte mit mir und Dr. Foster teilen. Ausgehend von der Auseinandersetzung eben halte ich das für das Beste«, erklärte er, wobei er bei dem Wort Auseinandersetzung unsichtbare Gänsefüßchen in die Luft malte.

Das hatte er einfach so entschieden?

Der gequälte Blick, der über Louises Gesicht huschte, verriet Jules, dass ihre Zeltpartnerin darüber genauso wenig begeistert war. Wenn sie jetzt zuließen, dass er sie herumkommandierte, würde er das wahrscheinlich für den Rest ihres Ausflugs tun. Es war besser, ihm gleich und so höflich wie möglich zu erklären, dass sie nicht seine Fußabtreter waren.

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich lieber in meinem Zelt schlafen, Dr. de Haas«, sagte Jules und warf ihm einen entschuldigenden Blick zu. »Ich fürchte, ich bin ein wenig gehemmt, was … ähm … fremde Männer angeht, die im gleichen Zimmer wie ich schlafen.«

»Unsinn. Das ist eine Expedition.«

»Ich würde mich aber sehr viel besser fühlen.«

»Dr. Asher, ich kann nicht für Ihre Sicherheit garantieren, wenn Sie darauf bestehen, in Ihrem Zelt zu bleiben. Ich mache mir große Sorgen über McKennas Befähigung, seine Männer im Zaum zu halten.«

»Ich denke, Sergeant McKenna wird sich für unsere Sicherheit verbürgen …«

»Sie beide werden in der Hütte schlafen«, fiel ihr der Geologe mit hochrotem Kopf ins Wort.

»Ich bin sicher, dass uns beiden nichts geschehen wird, wenn wir zusammen bleiben«, warf Louise eilig dazwischen. »Wir haben unser Zelt in Rufweite der Hütte aufgestellt, sehen Sie? Wenn es irgendwelche Probleme gibt, rufen wir einfach nach Ihnen.«

»Dann hätten wir das ja geklärt«, sagte Jules. Sie nahm Louise beim Arm und warf de Haas ihr umwerfendstes Lächeln zu. »Haben Sie eine gute Nacht, Doktor.«

Da Haas kniff die Augen zusammen. »Wie Sie wollen«, antwortete er verbissen und stakste auf die Hütte zu.

***

Taine nahm Coolie beiseite. »Irgendeine Idee, was mit den beiden los ist?«, fragte er und deutete mit dem Kopf in die Richtung von Eriksen und Lefty. Auf der anderen Seite des Zeltplatzes starrten sich die beiden Soldaten, die dort gerade Wachdienst schoben, feindselig wie zwei Hirschböcke an, die kurz davor waren, ihre Geweihe aneinanderzuschlagen.

Coolie nickte. »Ich habe die Info von Anaru, der sie wiederum von Lefty hat.«

»Und?«

»Es ist Sheryl.«

Taine hätte es wissen müssen. Sheryl Howell. Ein hübsches Mädchen mit einer Schwäche für Männer in Uniformen. Angeblich hatte Sheryl in den letzten Monaten mit mehreren Jungs auf der Linton Basis etwas gehabt, und einer von ihnen war Adrian Eriksen gewesen.

Das Problem dabei war nur, dass sie Leftys Schwester war.

»Sie ist schwanger«, fügte Coolie hinzu.

Das hatte Taine befürchtet. »Lass mich raten. Sie hält Eriksen für den Vater.«

»Mhmmhm. Aber er streitet es ab. Er glaubt nicht, dass das Kind von ihm ist. Er sagte zu Anaru, dass er ganz gewiss nicht das Balg eines anderen großziehen wird, nur weil die Dorfmatratze des Bataillons mal an ihm herumgefingert hat.«

 

McKenna stöhnte innerlich auf. »Und wegen Eriksens Bemerkung über seine Schwester ist Lefty ausgerastet«, fasste er die Situation zusammen.

»Du musst zugeben, dass Sheryl schon eine Nummer für sich ist.«

»Mag sein, aber niemand sieht es gern, wenn der Name der eigenen Schwester durch den Dreck gezogen wird. Na ja, wollen wir hoffen, dass die beiden sich zusammenreißen, bis wir wieder zurück sind. De Haas hält uns schon für eine Bande undisziplinierter Chaoten.«

Te Urewera, Tag zwei

Es war der Vormittag des zweiten Tages, als Jules ihren ersten Schreck bekam – in Form eines Jägers, der unverhofft aus den Büschen zu ihrer Rechten auftauchte.

Der Māori war fett, mit einer breiten Nase und einer Haut, welche dieselbe knorrige Beschaffenheit wie die umstehenden Baumstämme zu haben schien. Ein speckiges gelbes Tuch hing lose um seinen Hals und über die Schulter hatte er sich ein kleines Schwein geworfen. Ein muskulöser Hütehund mit wabbelnden Lefzen strich stumm um seine Beine herum. Der Jäger begrüßte die Gruppe mit einem scharfen Kopfnicken. Der Mischlingshund wedelte mit dem Schwanz.

»Hey«, krächzte er, die Stimme vom seltenen Gebrauch brüchig. Buschmänner wie ihn gab es einige in den Wäldern. Manche waren Eigenbrötler, die die stille Gesellschaft der Tōtara- und Rata-Bäume bevorzugten, andere wiederum versteckten sich vor anderen Menschen oder Lebenssituationen, die sie nicht mehr ertrugen. Sie lebten Monate, manchmal sogar über Jahre in den Wäldern, aber es war das erste Mal, dass Jules einem von ihnen begegnete.

»Ihr kehrt vielleicht besser wieder um, eh?«, sagte der Jäger.

De Hass bahnte sich seinen Weg durch die Gruppe, um dem Jäger gegenüberzutreten. »Was sagten Sie da? Umkehren? Wieso?«

»Dort ist es nicht sicher.«

»Nicht sicher? Was meinen Sie damit, nicht sicher?«

»Tūrehu. Patupaiarehe.«

»Wovon zum Teufel redet dieser Mann?«, giftete de Haas.

Jules zog die Stirn in Falten. Der Geologe hatte Manieren wie ein Gorilla. Sie reichte dem Jäger die Hand. »Hi«, sagte sie lächelnd. »Ich bin Jules.«

»Ira Bidois.« Während er noch das Schwein festhielt, wollte Ira Jules seine freie Hand reichen, aber dann bemerkte er das Blut und den Dreck daran und überlegte es sich anders. Stattdessen wischte er sie an der Rückseite seiner Hose ab. Doch auch das half nichts, denn seine Hosen waren genauso schmierig.

»Sorry.«

Jules grinste. »Kein Problem. Wie ich sehe, haben Sie zu tun. Sie sagten, dass wir diesen Weg nicht weitergehen sollten?«

»Es ist nicht sicher.«

Jules spürte einen irrationalen Anflug von Angst und in Gedanken sah sie wieder Sarah am Grund jener Schlucht vor sich, doch es gelang ihr, sie rasch wieder zu unterdrücken. Das war nur ein verdammter Unfall gewesen, ermahnte sie sich.

McKenna trat zu ihnen. »Ira. Sergeant Taine McKenna. Ich hörte, wie Sie die Patupaiarehe erwähnten?«

Ira nickte.

»Die was?«, plärrte de Haas.

»Patupaiarehe. Das sind hellhäutige Lebewesen, die in den Wäldern leben und sich im Nebel verstecken«, erklärte Kerei. »Man sagt, sie kommen in der Dämmerung hervor, um Ärger zu machen.«

»Ärger«, wiederholte Ira.

»Wer sagt so etwas?«, wollte de Haas wissen.

»Die Patupaiarehe sind Fabelwesen. Wie Elfen. Oder Geister«, erläuterte Kerei.

»Fabelwesen?«, prustete de Haas. »Wir sollen umkehren, weil dieser Spinner hier etwas von irgendwelchen sagenhaften Feen faselt?«

Der Jäger bedachte de Haas mit einem spöttischen Blick. »Eine Menge kluger Leute glauben an die Patupaiarehe. Manche wollen Sie sogar gesehen haben.«

»Herr im Himmel!« Theatralisch warf de Haas die Hände in die Luft. »Erst wollen Sie uns mit ihrem Taniwha Angst einjagen, und jetzt sind es plötzlich alberne Elfen. Wahrscheinlich schwingt sich als Nächstes noch Tarzan persönlich an einer Liane durch die Bäume. Kümmern Sie sich darum, McKenna. Ich habe hier einen Job zu erledigen und keine Zeit, mich um Verrückte wie ihn zu kümmern.« Dann stapfte er zum Rand der Lichtung davon.

Der Jäger, der sich von de Haas Wutausbruch beleidigt fühlte oder zu dem Schluss gekommen war, dass er bereits länger geblieben war, als er willkommen war, wandte sich zum Gehen, sein Hund dicht neben seinen Beinen.

»Warten Sie«, hielt ihn McKenna zurück. »Ich entschuldige mich für Dr. de Haas.«

Ira schwieg. Jules konnte es ihm nicht verübeln, wenn er sich beleidigt fühlte.

»Es tut mir wirklich leid«, sagte McKenna und senkte die Stimme. »Der Mann ist ein Wissenschaftler. Ein Genie, wie man mir sagte. Wobei mir da ein gewisser Unterschied zu bestehen scheint.«

Iras Gesichtszüge entspannten sich zu einem Grinsen. »Klar. Ich verstehe. Machen Sie sich keine Sorgen deswegen. Ich hab ein dickes Fell.«

»Und Sie kennen diese Gegend gut, Ira?«

Ira stellte seine Beine etwas weiter auseinander, um das Gewicht des Schweins auf seinen Schultern besser zu verteilen, bevor er zustimmend sein Kinn nach oben reckte. »Lebe hier schon fast mein ganzes Leben lang.«

»Hier im Busch?«

»Die meiste Zeit schon.«

»Und in der letzten Zeit?«

»Ja, ich bin jetzt seit …« Der Jäger schien die Zeit im Kopf zu überschlagen. »Seit fünf Monaten etwa hier.«

»Und gab es Probleme?«

»In den Wäldern gibt es immer Probleme.«

»Ich meinte kürzlich. Im letzten Monat etwa?«

Der Jäger rollte mit den Schultern und verlagerte erneut das Gewicht seines Schweins. »Ja, das versuche ich Ihnen ja schon die ganze Zeit zu erklären.« McKenna wartete darauf, dass er fortfuhr. »Sind ein paar seltsame Sachen passiert.«

»Seltsam?«

»Unheil, wissen Sie?«

»Welche Art von Unheil?«

Die Augen des Mannes wanderten zum Rand des Waldes. »Elfen …«

»Ich denke, wir sollten hier eine kurze Rast einlegen«, verkündete McKenna. Er sah de Haas über die Lichtung hinweg mit einem Blick an, der deutlich machte, dass er keine Widerworte duldete. »Schätze, es ist schon eine Weile her, seit Ira eine gute Tasse heißen Tee in Gesellschaft trinken konnte.« Er deutete auf einen der jungen Privates. »Read«, rief er.

Read trottete zu ihm. »Ja, Sir?«

»Sie und Miller brauen etwas zusammen. Zeigen wir unserem Besucher doch mal ein wenig Gastfreundlichkeit.«

Read und Miller bereiteten alles für eine Runde Tee vor, während der Rest der Spezialeinheit sich auf der Lichtung verteilte, die Rucksäcke fallen ließ, die Schultern entspannte und den Rücken durchstreckte. Jules sah Jugrai Singh dabei zu, wie sich dieser flach ins Gras legte, den Kopf auf seinem Rucksack und die Arme ausgestreckt.

Ira lehnte seine Waffe gegen einen Baumstamm, dann ließ er sein Schwein auf den Boden fallen, wo es mit einem dumpfen Schlag landete. Der Geruch von Blut und die Gegenwart des toten Tieres versetzten den Hund in helle Aufregung. Er raste los, um mit seinen Zähnen an dem Kadaver herumzuzerren. Der Buschmann versetzte dem Köter einen raschen Tritt, der ihn jaulend ins Unterholz beförderte. Jules zuckte bei dem Anblick zusammen.

»Halt die Schnauze, Tip!« Der Hund kauerte sich unter einen Farn, von wo aus er das Treiben argwöhnisch beobachtete. »Dummer Hund. Seit ein paar Tagen ist er völlig durch den Wind.«

McKenna setzte sich neben Ira auf einen Baumstumpf, klugerweise so, dass der Wind nicht den Geruch des Schweins und des Mannes zu ihm wehte. Jules folgte seinem Beispiel und stellte ihr Gepäck neben die beiden Männer ab. Ganz in ihrer Nähe blieben Coolie und Kerei stehen und lehnten sich gegen Baumstämme.

»Ich bin für Ihre Warnung dankbar, Ira«, sagte McKenna.

Ira nickte.

»Aber die Sache ist die, dass es uns wirklich viel Zeit sparen würde, wenn wir weiter in diese Richtung gehen würden. Was ich aber natürlich nicht tun will, wenn es bedeuten würde, damit meine Gruppe in Gefahr zu bringen. Ich bin für ihre Sicherheit verantwortlich.«

»Ach ja? Was für eine Gruppe ist das?«

»Ein Team von Wissenschaftlern.«

»Und ihr Armeetypen?«

»Personenschutz.«

»Personenschutz? Was für eine Art von Wissenschaft betreibt ihr hier? Atombombentests?«

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