Die Reise nach Hause

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Die Vision

Mike wachte in einer fremden Umgebung auf. Als er richtig zu sich kam, fiel ihm jäh alles wieder ein. Seine Augen schossen durch den Raum und es war offensichtlich, dass er sich weder in seinem Apartment, noch in einem örtlichen Krankenhaus befand. Alles war still. Die Stille war überwältigend, beinahe unheimlich. Kein Laut war zu hören, nur sein eigener Atem! Keine vorbeifahrenden Autos, kein Surren der Klimaanlage – absolut nichts! Mike versuchte, sich etwas aufzurichten.

Er schaute nach unten und bemerkte, dass er sich auf einer Art Liege befand. Bettzeug war keines da, doch er trug die gleiche Kleidung wie zur Zeit des Überfalls. Er fasste sich an den Hals. Sein letzter bewusster Gedanke war gewesen, sein Hals sei zerquetscht, doch zu seiner Erleichterung konnte er keine Verletzung feststellen. Im Gegenteil, Mike fühlte sich richtig gut! Vorsichtig tastete er verschiedene Stellen seines Körpers ab. Seltsam, nichts tat ihm weh, nirgends schien er verletzt. Doch diese Stille! Sie machte ihn wahnsinnig; kein Laut drang an seine Ohren. Auch das Licht war ganz merkwürdig: Es schien von nirgendwo und überall herzukommen. Es war strahlend weiß – ein Weiß, so bar jeder Farbe, dass es seinen Augen weh tat. Er beschloss, seine Umgebung näher zu untersuchen.

Sie hatte etwas Gespenstisches. Er war nicht in einem Raum – aber auch nicht draußen! Es gab nur ihn, die Liege und den weißen Boden, der sich ins Endlose auszudehnen schien. Mike legte sich wieder zurück. Jetzt wusste er, was passiert war: Er war tot. Man musste kein Experte für Weltraumraketen sein, um zu merken, dass nichts von dem, was er wahrnahm, mit der physischen Welt übereinstimmte. Aber wieso hatte er noch einen Körper?

Mike beschloss, etwas ganz Banales auszuprobieren. Er kniff sich, um festzustellen, ob es weh tat. Er zuckte zusammen und schrie »Au!«.

»Wie fühlst du dich, Mike?«, fragte eine wohltuende männliche Stimme.

Mike drehte den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme kam. Was er sah, war ein Anblick, den er für den Rest seines Lebens nicht vergessen würde. Gleichzeitig empfand er eine engelhafte Präsenz, das Gefühl tiefer Liebe. Mike verließ sich immer zuerst auf das, was er FÜHLTE und dann erst auf das, was er SAH. Er hatte sich diese Reihenfolge zur Gewohnheit gemacht, wenn er nach seinen Erfahrungen gefragt wurde; und im Augenblick sah er eine Gestalt in Weiß, die ihm ein wenig unheimlich, aber dennoch wunderschön erschien. Ob sie wohl Flügel trägt?, fragte er sich. Wie albern! Mike lächelte der Erscheinung zu und konnte sich nur schwer vorstellen, dass sie wirklich existierte.

»Bin ich tot?«, erkundigte er sich gefasst und respektvoll bei der Wesenheit.

»Ganz und gar nicht«, sagte die Gestalt, indem sie auf Mike zukam. »Es ist nur ein Traum, Michael Thomas.« Die Erscheinung näherte sich, offenbar ohne zu gehen. Mike bemerkte, dass das Gesicht des »Mannes« undeutlich und verschwommen blieb; und doch vermittelte es ihm ein Gefühl von Geborgenheit, von Sicherheit und Behütet-Sein. Er konnte nicht anders als weitersprechen – er fühlte sich so wundervoll!

Die Gestalt war weiß gekleidet, trug jedoch weder ein Gewand noch einen Anzug. Ihr Kleid erschien wie lebendig und bewegte sich mit ihr, als sei es ihre Haut. Auch ihr Gesicht wirkte verschwommen. Mike konnte weder Falten, noch Knöpfe oder Umschläge erkennen; ebenso wenig, wo der Stoff endete und die Haut begann; und doch war das seltsame Gewand nicht eng anliegend. Es schien leicht und fließend – oder auch leuchtend – und verschwommen. Die Vision war für Mikes Wahrnehmung noch eindrucksvoller, weil das Weiß ihres Gewandes in den unvorstellbar weißen Hintergrund der Umgebung überging. Nur schwer ließ sich erkennen, wo die Gestalt endete und der Hintergrund begann.

»Wo bin ich? Vielleicht ist das eine dumme Frage, aber sicher habe ich das Recht, es zu erfahren«, sagte Mike mit dünner Stimme.

»Du bist an einem heiligen Ort«, antwortete die Gestalt. »Ein Ort, den du selber erschaffen hast, und ein Ort voller Liebe. Das ist es, was du im Augenblick fühlst.« Das engelhafte Wesen verneigte sich vor Mike, und schien den ohnehin schon hellen Raum mit noch mehr Licht zu füllen.

»Du hast es erraten: Ich bin ein Engel.«

Mike zuckte nicht mit der Wimper. Er wusste, die Erscheinung vor ihm sprach die Wahrheit. Die Situation – wie sonderbar sie auch scheinen mochte – war außerordentlich real. Mike fühlte alles ganz klar.

»Sind alle Engel Männer?« Mike bedauerte seine Worte, sowie er sie ausgesprochen hatte. Was für eine blöde Frage! Dies war offensichtlich etwas ganz Besonderes. Wenn es ein Traum war, dann war er jedenfalls nicht weniger wirklich, als das, was Mike bisher erlebt hatte.

»Ich bin nur das, was du sehen möchtest, Michael Thomas. Ich besitze keine menschliche Gestalt; mein Aussehen soll dir helfen, dich wohl zu fühlen. Und nein – nicht alle Engel sind Männer. In Wirklichkeit haben wir kein Geschlecht. Und wir haben auch nicht alle Flügel.«

Mike musste lächeln bei dem Gedanken, dass vielleicht alles, was er sah, seine eigene Kreation war. »Und wie siehst du in Wirklichkeit aus?«, fragte er, inzwischen entspannt genug, um normal mit diesem liebevollen Wesen zu reden. »Warum kann man dein Gesicht nicht erkennen?« Eine, unter diesen Umständen, berechtigte Frage.

»Meine Form würde dich in Erstaunen versetzen, und bei ihrem Anblick käme dir eine merkwürdige Erinnerung an sie; denn auch du selbst siehst so aus, wenn du nicht auf der Erde bist. Es ist eine Form, die sich nicht beschreiben läßt; deshalb werde ich fürs Erste weiter so erscheinen, wie bisher. Was mein Gesicht betrifft, so wirst du es schon bald zu sehen bekommen.«

»Wenn ich nicht auf der Erde bin?«, forschte Mike.

»Das Leben auf der Erde ist zeitlich begrenzt; doch das weißt du selbst, nicht wahr? Ich kenne dich gut, Michael Thomas. Du bist ein spiritueller Mann und hast erkannt, dass der Mensch ein ewiges Wesen ist. Viele Male hast du dafür gedankt, und wir, hier auf meiner Seite, haben jedes deiner Worte gehört.«

Mike war still. Es stimmte, er hatte in der Kirche und zu Hause gebetet; doch sich vorzustellen, alles sei tatsächlich gehört worden, fiel ihm schwer. Diese Wesenheit in seinem Traum kannte ihn also?

»Wo kommst du her?«

»Von zu Hause.«

Die liebevolle Wesenheit schien jetzt direkt vor Mikes kleiner Liege zu leuchten. Sie neigte den Kopf zur Seite und wartete geduldig, während Mike alles auf sich wirken ließ. Er spürte, wie ihm ein Schauer über den Rücken lief. Tief im Inneren wusste er, dass die Wahrheit in ihrer ganzen Größe vor ihm stand; er brauchte nur zu fragen, und ein Strom von Weisheit würde sich ergießen.

»Du hast recht!«, antwortete der Engel auf Mikes Gedanken. »Was du jetzt tust, wird deine Zukunft verändern. Du fühlst es selbst, nicht wahr?«

»Kannst du meine Gedanken lesen?«, wunderte sich Mike, ein wenig verlegen.

»Nein. Wir können sie fühlen. Dein Herz ist nämlich mit dem Ganzen verbunden und wir reagieren, wenn du uns brauchst.«

»Wir?« Jetzt begann es gruselig zu werden. »Ich sehe nur dich.«

Der Engel lachte und es klang unbeschreiblich. Was für eine Energie in diesem Lachen steckte! Mike fühlte, wie jede Zelle seines Körpers mit der Fröhlichkeit des Engels in Resonanz schwang. Alles, was der Engel tat, war neu und übertraf das gewöhnliche Leben; und tief in Michaels Unterbewusstsein weckte es die Erinnerung an etwas Wunderbares. Mike war hingerissen von der Stimme, sagte aber nichts.

»Ich spreche zu dir mit der Stimme eines Einzelnen, doch sie ist Ausdruck für die Stimmen Vieler«, erklärte der Engel, indem er die Arme ausstreckte und mit seinen Bewegungen die merkwürdige Gewand-Haut ins Fließen brachte. »Es gibt viele Wesen im Dienst eines jeden Menschen, Michael. Das wird dir offenbar werden, wenn du beschließt, dass es so sein soll.«

»ICH BESCHLIESSE ES!«, rief Mike mit lauter Stimme. Wie hätte er solch ein Angebot ausschlagen können! Doch dann wurde er ein wenig verlegen, als habe er sich vor einem Matinee-Star wie ein kleines Kind benommen. Eine Weile sagte er nichts und beobachtete, wie der Engel leicht auf und ab schwebte – beinahe wie auf einem hydraulischen Mini-Lift. Wieder fragte sich Mike, wie viele seiner Wahrnehmungen wohl auf Sehgewohnheiten beruhten, die geprägt waren durch Filme, die Kirche oder große Kunstwerke. Abermals herrschte Stille – was für eine Stille! Der Engel tat offenbar keine Äußerung, ohne dass Mike ihn fragte.

»Darf ich dich etwas zu meiner Situation fragen?«, erkundigte sich Mike respektvoll. »Ist dies tatsächlich ein Traum? Es kommt mir so wirklich vor.«

»Was ist denn ein menschlicher Traum, Michael Thomas?« Der Engel näherte sich ein wenig. »Ein Traum ist das Eintauchen in dein biologisches und spirituelles Bewusstsein; durch den Besuch dieses Bewusstseins erhältst du Informationen von meiner Seite der Dinge – manchmal im übertragenen Sinne. Wusstest du das? Ein Traum erscheint euch vielleicht anders als eure Realität, er ist der Realität Gottes jedoch viel ähnlicher als alles, was ihr normalerweise erlebt! Als dir dein Vater und deine Mutter damals im Traum erschienen sind – was war das für ein Gefühl? Kam es dir wirklich vor? Es war Wirklichkeit. Erinnerst du dich an die Woche nach dem Unglück, als sie dich besuchten? Tagelang danach hast du noch geweint. Es war IHRE Realität. Ihre Botschaften an dich waren wirklich. Die beiden lassen dich auch jetzt noch an ihrer Liebe teilhaben, Michael, denn sie sind ewig – so wie du. Was die Fragen zu deiner Situation betrifft: Was glaubst du, warum du diesen Traum jetzt hast? Aufgrund deiner Situation; nur deswegen bist du hier zu Besuch, und genau zur richtigen Zeit.« Mike freute sich über den Redefluss des wunderschönen Wesens, das ihm immer vertrauter vorkam.

 

»Werde ich alles heil überstehen? Ich glaube, ich bin schwer verletzt und liege irgendwo bewusstlos, vielleicht im Sterben.«

»Kommt darauf an«, sagte der Engel.

»Worauf?«, wollte Michael wissen.

»Was möchtest du denn wirklich, Michael?«, fragte der Engel liebevoll. »Sag uns, was du WIRKLICH willst. Überlege dir deine Antwort gut, Michael Thomas, denn die Energie Gottes nimmt vieles wörtlich. Im übrigen – wir wissen, was du weißt. Du kannst deiner eigenen Natur nichts vormachen.«

Michael wollte bei seiner Antwort ehrlich sein. Die Situation wurde mit jedem Augenblick realer. Er erinnerte sich sehr gut an die lebhaften Träume von seinen Eltern, direkt nach deren Unfall. Sie waren zusammen zu ihm gekommen – in den wenigen Stunden, in denen er in jener furchtbaren Woche überhaupt schlafen konnte; und sie hatten ihn umarmt und ihn spüren lassen, wie sehr sie ihn liebten. Sie hatten ihm erklärt, es sei für sie der richtige Zeitpunkt gewesen, fortzugehen – was immer das bedeuten mochte. Mike hatte es nicht akzeptiert.

Seine Eltern hatten ihm auch gesagt, ihr Tod sei unter anderem arrangiert worden, weil ihr Dahinscheiden ein Geschenk für Mike sein sollte. Er hatte sich immer gefragt, worin wohl das Geschenk bestand, aber schließlich war es nur ein Traum gewesen, oder nicht? Nun sagte der Engel, es sei Wirklichkeit. Was Mike im Augenblick erlebte, erschien ihm zweifellos real; vielleicht waren die Botschaften seiner Eltern ja auch real, so wie dieser Engel es war, oder ist. Diese Art Traum oder Vision ist ziemlich verwirrend, dachte er frustriert!

Was ist es, was ich will?, fragte er sich nun. Er dachte an sein Leben und an all die Dinge, die ihm im letzten Jahr passiert waren. Er wusste, was er wollte, aber er hatte das Gefühl, es war nicht in Ordnung, darum zu bitten.

»Es passt nicht zu deiner Größe und Erhabenheit, deine tiefsten Wünsche in dir zu verschließen«, ließ der Engel sich hören.

Zu dumm!, dachte Michael. Der Engel weiß schon wieder, was mir durch den Kopf geht. Es gibt nichts, was ich verbergen kann.

»Wenn du es schon weißt, warum stellst du mir diese Frage?«, erkundigte er sich. »Und was soll das bedeuten: meine Erhabenheit?« Zum ersten Mal zeigte der Engel kein Lächeln, sondern etwas anderes. Es war ein Ausdruck von Verehrung, von Ehrfurcht!

»Du hast keine Vorstellung davon, was und wer du bist, Michael Thomas«, sagte der Engel ernst. »Du glaubst, ich sei schön? Wenn du sehen könntest, wie du aussiehst! Eines Tages wird es geschehen. Was deine Gedanken und Gefühle betrifft – natürlich kenne ich sie. Ich bin hier, weil ich zu denen gehöre, die dich unterstützen; daher bin ich in vieler Hinsicht eng mit dir verbunden. Es ist eine Ehre für mich, vor dir zu erscheinen; doch nur deine eigene Absicht kann jetzt eine Veränderung bewirken. Du kannst selbst entscheiden, ob du mir sagen möchtest, was du dir in diesem Augenblick, als Mensch am meisten wünschst. Die Antwort muss aus deinem Herzen kommen, laut und hörbar, für alle – sogar für DICH. Was du jetzt tun wirst, ist auch für viele andere von entscheidender Bedeutung.« Mike hatte aufmerksam zugehört. Er musste seine Wahrheit aussprechen, auch wenn es vielleicht nicht das war, was der Engel hören wollte. Er dachte einen Moment nach, dann sagte er: »Ich möchte NACH HAUSE gehen! Ich hab’ dies Leben als Mensch satt.« Da! Jetzt war es heraus. Er wollte weg. »Aber ich will mich nicht drücken vor etwas, das wichtig ist in Gottes Plan«, fuhr er leidenschaftlich fort. »Einerseits erscheint mir das Leben so sinnlos; andererseits habe ich aber gelernt, dass ich als Ebenbild Gottes zu einem besonderen Zweck erschaffen wurde. Was soll ich denn tun?«

Der Engel schwebte an die Seite der Liege, so dass Mike ihn besser sehen konnte. Dieser Traum, diese Vision oder was immer es sein mochte, war verblüffend. Mike hätte schwören können, dass es nach Veilchen duftete – oder war es Flieder? Warum nach Blumen? Wahrhaftig – der Engel hatte einen Geruch! Und je näher er kam, umso schöner war er. Michael spürte auch, dass der Engel über die Unterhaltung erfreut war. Er fühlte es, obwohl er seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen konnte.

»Sag mir, Michael Thomas, ist deine Absicht rein? Willst du wirklich das, was Gott will? Du möchtest nach Hause, aber du bist dir gleichzeitig eines größeren Planes bewusst – deshalb willst du uns nicht enttäuschen und dich spirituell nicht unangemessen verhalten.«

»Ja«, sagte Mike. »Genau so ist es. Ich möchte aus meiner Situation heraus, aber gleichzeitig scheint mein Wunsch widersprüchlich zu sein – er scheint mir egoistisch.«

»Und wenn ich dir sagte, du kannst beides haben?«, fragte der Engel mit einem Lächeln. »Und, dein Verlangen nach Hause zu kommen ist nicht selbstsüchtig, sondern natürlich und steht auch nicht im Gegensatz zu deinem Wunsch, den tieferen Sinn deines Menschseins anzuerkennen?«

»Aber wie? Bitte erkläre mir, wie ich beides haben kann«, wollte Mike jetzt aufgeregt wissen.

Der Engel hatte Mikes Herz gesehen, und zum ersten Mal ging er spirituell auf ihn ein.

»Michael Thomas von reiner Absicht – um zu entscheiden, ob dies dein Weg sein kann, muss ich dir, bevor ich mehr dazu sage, noch eine Frage stellen.« Der Engel schwebte ein wenig zurück. »Was glaubst du davon zu haben, wenn du nach Hause gehst?«

Mike dachte darüber nach. Sein Schweigen hätte bei einer normalen Unterhaltung seltsam gewirkt, aber der Engel verstand ihn vollkommen und wusste, dass dies ein geheiligter Augenblick für Michael Thomas’ Seele war. Nach irdischer Zeitrechnung schwieg Michael zehn Minuten oder länger; doch der Engel rührte sich nicht und sagte kein Wort. Er zeigte weder Ungeduld noch Ermüdung. Mike begann zu begreifen, dass diese Wesenheit tatsächlich zeitlos war, und die Ungeduld eines Menschen – für den nur die lineare Zeit Realität besaß – nicht empfinden konnte.

»Ich möchte geliebt werden und dort sein, wo Liebe ist«, war Mikes Antwort. »Ich möchte Frieden in meinem Leben.« Er machte eine Pause. »Ich möchte mit den Problemen und belanglosen Auseinandersetzungen der Leute um mich herum nichts zu tun haben. Ich möchte keine Geldsorgen haben. Ich möchte mich BEFREIT fühlen! Ich habe es satt, alleine zu sein. Ich möchte für andere Wesen im Universum etwas bedeuten. Ich möchte wissen, dass mein Leben einen Sinn hat und dazu beitragen, im Himmel – oder wie immer ihr es nennt – ein adäquater Teil von Gottes Plan zu sein. Ich möchte eigentlich gar kein Mensch sein. Ich möchte sein wie du!«

Er machte erneut eine Pause. »Das ist es, was nach Hause gehen für mich bedeutet.« Der Engel schwebte wieder ans Fußende der Liege.

»Dann, Michael Thomas von reiner Absicht, sollst du auch empfangen, wonach du strebst!« Es war, als strahlte der Engel in noch hellerem Licht – wenn es denn möglich gewesen wäre. Über seinem leuchtenden Weiß lag nun ein goldener Schimmer. »Du musst jedoch einem vorherbestimmten Weg folgen und du musst es freiwillig tun, aus eigenem Entschluss und Antrieb. Dann wirst du mit einer Reise nach Hause belohnt. Willst du das tun?«

»Ja, das will ich«, erwiderte Mike. Es war der Anfang eines wundervollen Gefühls, das sich vielleicht mit dem Wort »Liebeswäsche« beschreiben ließ. Die Luft schien sich zu verdichten. Der Schein des Engels begann, die Liege zu durchdringen und umspülte Mikes Füße. Schauer liefen Mikes Rücken hoch, und ohne sein Zutun begann er in einer so schnellen Schwingung zu vibrieren, wie er es noch nie erlebt hatte. Es war fast wie ein Summen, so schnell. Es fuhr seinen Körper hinauf bis in seinen Kopf. Seine Wahrnehmung veränderte sich, und es zuckten kleine blaue und violette Blitze auf – in starkem Kontrast zu dem intensiven Weiß, auf das er seit Beginn dieser ganzen Geschichte geschaut hatte.

»Was ist los?«, fragte Mike voller Angst.

»Deine Absicht ist dabei, deine Realität zu verändern.«

»Ich verstehe nicht.« Mike war entsetzt.

»Ich weiß«, sagte der Engel mitfühlend. »Hab’ keine Angst Gott in dein Wesen zu integrieren. Es ist ein Verschmelzen, um das du gebeten hast und es wird dir auf deiner Reise nach Hause zugutekommen.«

Der Engel wich von Mikes schmalem Bett zurück, als wolle er Platz machen.

»Bitte geh’ noch nicht fort!«, rief Mike, immer noch erschüttert und verängstigt.

»Ich passe mich deiner neuen Größe an«, sagte der Engel ein wenig amüsiert. »Ich gehe erst weg, wenn wir vollzählig sind.«

»Ich verstehe das immer noch nicht, aber ich habe keine Angst«, log Mike. Wieder lachte der Engel und erfüllte den Raum mit einem Klang, dessen Fröhlichkeit und Liebe Mike überraschten. Mike erkannte, dass es hier keine Geheimnisse gab, also sprach er weiter. Er musste wissen, was das für ein Gefühl war. Der Engel lachte.

»Was passiert eigentlich, wenn du lachst? Es berührt mich sehr, und ich habe noch nie so etwas gefühlt.« Der Engel freute sich über die Frage.

»Was du hörst und fühlst ist ein Attribut, das einzig und allein die göttliche Quelle besitzt«, sagte der Engel. »Humor ist eine der wenigen Eigenschaften, die ungehindert von unserer Seite auf eure Seite wechseln können. Hast du dich je gefragt, warum Menschen wohl die einzigen biologischen Wesen auf der Erde sind, die lachen? Man könnte meinen, auch Tiere lachen, aber sie reagieren nur auf Reize. Ihr seid die Einzigen, die den echten Funken spirituellen Bewusstseins haben, das euch dazu befähigt; ihr allein könnt einen abstrakten Gedanken oder eine Idee in Humor verwandeln. Das heißt, euer Bewusstsein ist der Schlüssel. Glaub mir, es ist heilig. Und deshalb ist es auch so heilend, Michael Thomas von reiner Absicht.«

Diese Erklärung war ausführlicher, als alles, was der Engel bis hierher geäußert hatte. Mike glaubte, dass er noch einige Schätze der Wahrheit aus ihm hervorlocken könnte, bevor seine Zeit abgelaufen wäre. Eifrig versuchte er es.

»Wie lautet dein Name?«

»Ich habe keinen.« Wieder herrschte Stille. Eine lange Pause entstand. Tja, dachte Mike, jetzt sind wir wieder bei den einsilbigen Antworten.

»Als wer bist du bekannt?«, bohrte er weiter.

»ICH BIN allen bekannt, Michael Thomas, und weil DAS ICH BIN allen bekannt ist, deshalb existiere ich.« *

»Das verstehe ich nicht«, entgegnete Michael.

»Ich weiß.« Wieder schwieg der Engel, was sich jedoch nicht gegen Mike richtete. Vielmehr respektierte er Mikes Naivität – man konnte in dieser Situation kaum mehr von Mike erwarten –, so wie Eltern die Neugier ihres Kindes verstehen, wenn es Fragen über das Leben stellt. Alles, was der Engel tat und sagte, geschah mit Liebe. Mike wusste, es war besser, nicht länger zu drängen und zum Wesentlichen zu kommen.

»Was ist der Weg, von dem du sprichst, lieber Engel?« Mike fühlte sich einen Moment unwohl bei der Anrede »lieber«, aber irgendwie passte sie zu der Art des Engels. Er war wie Eltern, Bruder, Schwester und Geliebte zugleich. Ein Gefühl, das Mike nicht so bald vergessen würde. Er sehnte sich, in dieser Energie zu bleiben und hatte Angst, sie wieder zu verlieren.

»Wenn du in deine Realität zurückkehrst, Michael, bereite deine Sachen für ein Abenteuer vor, das eine Weile dauern wird. Sobald du so weit bist, bekommst du den Anfang des Weges gezeigt. Er führt dich zu sieben Häusern des Geistes – auch Spirit genannt – und in jedem Haus triffst du eine Wesenheit wie mich; jede erfüllt eine andere Aufgabe. Deine Reise mag Überraschungen und sogar Gefahren mit sich bringen, doch kannst du sie jederzeit abbrechen, ohne dafür verurteilt zu werden. Mit der Zeit wirst du dich verändern und viele Dinge lernen. Es wird deine Aufgabe sein, die Merkmale Gottes zu studieren. Wenn du in allen sieben Häusern gewesen bist, wird dir die Tür gezeigt, durch die du nach Hause gehen kannst. Und, Michael Thomas von reiner Absicht«, der Engel machte eine Pause und lächelte, »es wird ein großes Fest stattfinden, wenn du diese Türe öffnest.«

Mike wusste nicht, was er sagen sollte. Er empfand eine gewisse Erleichterung, fühlte sich aber auch nervös bei dem Gedanken jetzt ins Ungewisse zu reisen. Was würde er vorfinden? Sollte er es tun? Vielleicht war das Ganze nur ein Traum und einfach Unsinn! Was war denn überhaupt Realität?

»Was du jetzt vor dir hast, ist Realität, Michael Thomas von reiner Absicht«, sagte der Engel, der wieder einmal Mikes Gefühle las. »Dort, wohin du zurückkehrst, ist eine zeitlich begrenzte Realität, eigens eingerichtet, damit Menschen darin lernen können.«

 

Michael brauchte seine Zweifel nur zu fühlen und schon wusste es der Engel. Wieder empfand er, dass diese neue Art der Kommunikation zwar etwas indiskret, aber zweifellos auch eine Ehre für ihn war. Im Traum, überlegte Mike, ist man in Kontakt mit dem eigenen Gehirn. Deshalb kann man keine Geheimnisse vor sich selbst haben. Vielleicht war es daher auch in Ordnung, wenn er in dieser Form mit einem Wesen redete, das seine Gedanken kannte. Außerdem entsprach das, was der Engel sagte, ja genau dem, was in Mike vorging. Er begann sich wohl zu fühlen in dieser »Traumrealität«, und war nicht darauf erpicht, in eine Wirklichkeit zurückzukehren, die ihr nachstand.

»Was jetzt?«, fragte Mike zögernd.

»Du hast die Absicht erklärt, diese Reise zu machen. Deshalb wirst du nun in dein menschliches Bewusstsein zurückkehren. Es gibt jedoch einige Punkte, die du auf deinem Weg beachten musst: Die Dinge sind nicht immer so, wie sie scheinen, Michael. Im Laufe der Zeit wirst du dich der Realität nähern, die du jetzt mit mir erlebst. Vielleicht musst du daher – wenn du der Türe von Zuhause näher kommst – ein neues Verhalten entwickeln, das ein bisschen …«, der Engel pausierte, »…AKTUELLER ist, als bisher.« Mike verstand zwar nicht, wovon die Rede war, hörte aber aufmerksam zu.

Der Engel fuhr fort: »Es gibt noch eine Frage, die ich dir jetzt stellen muss, Michael Thomas von reiner Absicht.«

»Ich bin bereit«, erwiderte Michael, der sich keineswegs selbstbewusst fühlte, jedoch aufrichtig bereit war, weiterzumachen. »Wie lautet die Frage?« Der Engel schwebte näher ans Fußende der Liege.

»Michael Thomas von reiner Absicht, liebst du Gott?« Mike war über die Frage erschrocken. Natürlich, dachte er. Warum wurde er danach gefragt?

Rasch erwiderte er: »Da du mein Herz sehen kannst und meine Gefühle kennst, musst du doch wissen, dass ich Gott liebe.« Es herrschte Stille, und Mike wusste, dass der Engel sich freute.

»Wahrhaftig!« Es war das letzte Wort, das von den unsichtbaren Lippen dieses wunderbaren Wesens kam, das ihn offensichtlich von Herzen liebte. Der Engel streckte die Hand aus und machte eine Bewegung, als durchtrenne er Mikes Kehle. Wie konnte er so weit reichen? Augenblicklich hatte Mike das Gefühl, Hunderte von Leuchtkäfern seien in seinen Hals geflogen und veränderten etwas an seiner Person. Mike spürte keinen Schmerz, aber plötzlich musste er erbrechen.


* Engl.: I AM known by all – and THAT I AM known by all; therefore, I exist. (A.d.Ü.)