Buch lesen: «Zombie Zone Germany: Auf Sendung»

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Zombie Zone Germany

Auf Sendung

Lea Baumgart

Herausgegeben von Claudia Rapp

© 2021 Amrûn Verlag

Jürgen Eglseer, Traunstein

17/2021

Idee: Torsten Exter

Herausgeberin der Reihe: Claudia Rapp

Lektorat: Claudia Rapp

Umschlaggestaltung: Christian Günther

Atelier Tag Eins - tag-eins.de

Alle Rechte vorbehalten

ISBN TB – 978-3-95869-396-8

ISBN E-Book – 978-3-95869-397-5

Printed in the EU

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar

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Beunruhigt blickte Sam auf das Display seines Smartphones. Der Balken in der rechten oberen Ecke, der den Ladestand seiner Batterie anzeigte, war bereits auf einen äußerst dünnen Strich zusammengeschrumpft. Und der Zombie kam immer näher.

»Los, was soll ich nehmen? Das Beil oder den Spaten?«, wiederholte er seine Frage ungeduldig und blickte auf die beiden Gegenstände hinab.

Der Spaten war rostig, während am Griff der kleinen Axt noch getrocknetes Blut klebte. Die beiden Gegenstände lagen nebeneinander auf den Pflastersteinen, zwischen deren Fugen sich ein kümmerlicher Löwenzahn emporkämpfte.

Sie waren hinter einem Auto in Deckung gegangen. Ein schwarzer Familienwagen wie aus einem Werbespot für junge Eltern, der die Auffahrt zu einem gemütlich wirkenden Einfamilienhaus blockierte. Der Vorgarten zu ihrer Linken mochte einmal grün und gepflegt ausgesehen haben, doch die eine Hälfte des Rasens wucherte wie verrückt und schien überwiegend aus Unkraut zu bestehen. Die andere Hälfte war bereits vollkommen verdorrt. Neben dem eingegangenen Rosenstrauch lag eine angebissene Niere. Sie lag da wie die angefaulten Äpfel, die früher unter dem Baum im Garten seiner Eltern gelegen hatten, wenn sich lange niemand mehr die Mühe gemacht hatte, sie aufzusammeln. Vom Rest ihres Besitzers war nirgendwo eine Spur zu entdecken.

»Woher soll ich das wissen? Du willst doch kämpfen.«

Erneut warf er einen kurzen Blick auf seinen Akkustand. Von Wollen konnte eigentlich keine Rede sein. Die Worte »wollen« und »kämpfen« wären früher in dieser Kombination niemals im Zusammenhang mit Sam gefallen. Aber ihnen lief die Zeit davon. Außerdem konnten sie nicht riskieren, dass bald noch Bekannte ihres untoten Freundes auftauchten. Sam konnte an einem guten Tag vieles sein, aber ein besonders geschickter Kämpfer war er nie gewesen, und nicht einmal der Ausbruch der Apokalypse hatte daran etwas ändern können.

»Was wird auf den Bildern eindrucksvoller aussehen? Du solltest das doch wissen. Du hast früher auch gebloggt.«

»Sam«, sagte Nikki und verdrehte überdeutlich die Augen. »Mein Blog hat sich mit Beauty und Ernährung beschäftigt. Ich könnte dem Zombie da drüben erklären, dass sein Outfit sowas von 2020 ist und dass die Farbe ›Schmutz‹ bei einem so ungesunden Teint eindeutig unvorteilhaft ist.«

Sie strich sich über das blonde Haar, obwohl es sie kaum stören konnte. Wie gewöhnlich trug sie es zu einem strengen Pferdeschwanz gebunden, und ein hellblaues Stirnband stellte sicher, dass es ihr unter keinen Umständen in die Augen fallen konnte. Ein kurzer Moment der Ablenkung reichte in der heutigen Zeit bereits vollkommen aus, um in einem tödlichen Unfall zu enden. Die meisten Unfälle wurden 2022 statistisch gesehen durch Zähne verursacht und waren nicht angenehm.

Sie verzog die Lippen zu einem ironischen Lächeln, als wäre ihr plötzlich noch etwas eingefallen, und dabei zeigte sie die beiden etwas schiefen Schneidezähne in ihrem sonst sehr ebenmäßigen Gesicht.

»Außerdem könnte ich darlegen, warum seine Ernährung zu einseitig ist und wie sich das ausschließliche Verzehren von rohen Menschen auf lange Sicht negativ auf seine Gesundheit auswirken wird, aber da er tot ist, wird ihn das wenig interessieren. Was das optisch ansprechende Zerhacken von Untoten angeht, habe ich leider nicht die geringste Qualifikation.«

Sam schnaubte und griff nach dem Spaten. Was seine Qualifikationen anging, konnte er auch nicht mehr glänzen als Nikki. Er hatte auf seinem Blog Videospiele rezensiert. Noch vor zwei Jahren waren die einzigen Zombies, die er je zerhackt hatte, virtueller Natur gewesen. Aber als die Toten dann aus ihren Gräbern stiegen, hatte sich alles verändert. Jetzt bestand sein Alltag darin, gegen ziemlich reale Leichen zu kämpfen, und wenn er dabei versagte, würde es keinen Neustart für ihn geben. Oder eben doch, aber das wäre dann mit lethargischem Stöhnen und ungewöhnlichem Hunger auf Frischfleisch verbunden.

Wie aufs Stichwort knurrte der Zombie. Es war ein Geräusch, das jedes Mal dafür sorgte, dass sich die Haare auf seinen Unterarmen aufstellten und er das Bedürfnis verspürte, über die Schulter zu blicken. Das Stöhnen kam aus halb zerfetzten Kehlen oder feuchten Gräbern und klang wie eine Mischung aus dem Fauchen eines Raubtieres und dem Knarren eines Sargdeckels.

Im Grunde hatte Sam Glück gehabt, dass er in der Vorstadt wohnte. Das Spielen von Videospielen brachte in der Regel wenig sportliche Betätigung mit sich und erforderte auch kaum echten Mut. In der Großstadt hätte er keinen Tag überlebt. Die Zombies wälzten sich dort zu Tausenden durch die Straßen, und die wenigen Überlebenden hatten eigentlich von Anfang an keine Chance gehabt. Hier draußen auf dem Land hingegen verbreitete sich die Infektion langsamer. Es gab nur eine begrenzte Zahl an Einwohnern, die einen fressen konnten, und es war leichter, sich zu verstecken. Als die große Panik ausbrach, hatten viele Menschen versucht, in die Stadt zu gelangen und den nächsten Flughafen zu erreichen. Die Dörfer blieben verlassen zurück, und es gab kein Futter, sodass die meisten Toten einfach weiterzogen. Sie waren nicht intelligent genug, um Türen aufzubrechen, und die wenigen, die sich in ihren Wohnungen eingeschlossen hatten, statt die kopflose Flucht anzutreten, hatten letztendlich die besseren Überlebenschancen. Sam war damals schlicht zu feige gewesen, das Haus zu verlassen, und einzig diesem Umstand verdankte er jetzt sein Leben. Hier in der Gegend traf man nur hin und wieder mal auf ein einzelnes, umherstreifendes Exemplar wie das, das nun die Straße entlang auf sie zu wankte.

Hastig drückte er Nikki das Handy in die Hand und wies sie an, so viele Fotos zu schießen, wie sie nur konnte, während er selbst den Griff des Spatens fester umklammerte. Das Werkzeug fühlte sich angenehm schwer an in seiner Hand; ein Gefühl, von dem er zu Beginn gedacht hatte, er würde sich niemals daran gewöhnen können, doch nun beruhigte ihn die Gewissheit, etwas zur Verteidigung zu besitzen.

Dann trat er auf die offene Straße.

Vielleicht war es leichtsinnig. Aber es war ja nur einer, rief Sam sich in Erinnerung, nur ein einzelner Zombie. Und der würde gutes Bildmaterial liefern.

Den Spaten hatte er in erster Linie gewählt, weil er über eine größere Reichweite verfügte als das Beil. Wenn Sam eines besaß, so war es ein ausgeprägter Überlebensinstinkt. Er war sich schmerzlich bewusst, dass er kein guter Kämpfer war, und das Einzige, was ihn überhaupt dazu bringen konnte, dieses Risiko einzugehen, war die Hoffnung auf ein gutes Bild. Der Blog war wichtiger als alles andere, denn es gab nicht mehr viel anderes. Dafür nahm Sam sogar die Feindseligkeit in Kauf, die ihm im Lager entgegenschlug. Niemand verstand, warum er den kostbaren Strom, den ihr Generator produzierte, benutzte, um regelmäßig sein Handy aufzuladen. Niemand außer Nikki vielleicht, aber auch bei ihr war er sich nicht immer sicher. Sie hatten nie darüber geredet, warum sie das hier eigentlich taten. Nach einigen Gesprächen im Lager hatte sie sich ihm auf seinen Streifzügen durch die umliegenden Straßen einfach angeschlossen. Erst war es Sam unangenehm gewesen, in ihrer Gegenwart Fotos zu schießen, aber bei ihrem dritten Ausflug waren sie auf eine kleine Horde Zombies gestoßen, die jemand mit einem Springseil an einen Baum gebunden hatte. Sam hatte einfach Bilder davon machen müssen – das Springseil war neon-pink gewesen und hatte einen grandiosen Kontrast zu der fahlen Haut der Untoten gebildet –, und Nikki hatte es unkommentiert gelassen. Sam glaubte, dass sie von Anfang an gewusst hatte, warum er das Lager überhaupt verließ. Er hatte ihr von seinem Blog erzählt.

Was auch immer Nikkis Gründe sein mochten, Sam war es das Risiko wert. Deutschland war abgeschottet, kein Wort drang hinaus oder herein. Beinahe. Diejenigen, die in der Lage wären, Bericht zu erstatten, hatten keinen Internetzugang, kein Handy oder keinen Verstand mehr. Sam verdankte es einzig und allein der Tatsache, dass er so nah an der Grenze lebte, dass er Zugriff auf das Netz ihrer Bewacher hatte. Hinter den riesigen Betonwänden rund um das Land saßen sie, tranken Kaffee, schossen, wenn ihnen irgendjemand oder irgendetwas zu nahekam, und zockten, um sich die Zeit zu vertreiben. Sam konnte sie sich nur allzu gut vorstellen, mit ihren schicken Uniformen, ihren bequemen Betten und ihrem fließenden Wasser. Fairerweise musste er zugeben, dass er an ihrer Stelle wahrscheinlich genau das Gleiche getan hätte. Er war kein Idealist. Zumindest hatte er keine Ideale, die er nicht gegen eine Espressomaschine und Highspeed-Internet eingetauscht hätte.

Nachdenklich wog er den Spaten in Händen, um sein Gewicht ausbalancieren zu können. In den ersten Tagen hatte er sich jedes Mal fast selbst umgebracht, wenn er eine Waffe in die Hand nahm, doch mittlerweile wusste er zumindest einigermaßen, wie er sich zu halten hatte, wie man angriff und auswich. Andernfalls wäre er längst tot.

Der Zombie vor ihm taumelte näher. Er war langsam, und sein Körper bestand hauptsächlich aus Fetzen und unstillbarem Hunger. Sie hatten ihn in Stücke gerissen, bevor er starb. Gedärme hingen aus seinem aufgeplatzten Magen, und er hatte offensichtlich Probleme, das Gleichgewicht zu halten, da seine Mitte viel schmaler war als der Rest seines Körpers. Es sah aus, als könne er jeden Moment entzweibrechen. Außerdem stank er nach Verwesung, Sam konnte es sogar auf die Entfernung von einigen Schritten riechen.

Zombies wie diese waren Sam am liebsten. Sie machten auf den Bildern ordentlich etwas her, mit ihrem fahlen Fleisch und ihren blutigen Eingeweiden. Zudem bewegten sie sich so unbeholfen, dass es leichter war, sich nicht von ihnen erwischen zu lassen. Die schnellen Zombies waren gefährlich. Viele seiner Bekannten waren ihnen schon zum Opfer gefallen.

Er trat einen Schritt näher und hob den Spaten. Am vernünftigsten war es, die Angreifer mit einem schnellen, gezielten Hieb auszuschalten, aber erfahrungsgemäß wusste er, dass das nicht besonders eindrucksvoll aussah. Also tänzelte er stattdessen ein wenig um den Zombie herum, immer knapp außerhalb seiner Reichweite, damit Nikki die Gelegenheit bekam, ein paar gute Fotos zu schießen. Erst nach fast einer Minute ließ er die flache Seite des Spatens auf den Kopf des Untoten niedersausen und vernahm daraufhin ein befriedigendes Knirschen. Die Schädeldecken der Leichen barsten schnell, und nach einem zweiten Schlag sah er graue Gehirnmasse hervortreten. Der Anblick erinnerte ihn an einen aufgeweichten Schwamm.

Hastig machte er einen Schritt zurück, als der Zombie langsam in sich zusammensackte und nach vorne kippte. Die Knie gaben zuerst nach, doch gleich darauf verlor er das Gleichgewicht, und der Oberkörper schlug deutlich vor den Oberschenkeln auf dem Pflaster auf. Irgendetwas schien zu platzen – ein bereits halb verfaultes Organ möglicherweise – und faulige Körperflüssigkeiten spritzen einige Zentimeter in die Höhe.

Vorsichtshalber machte Sam noch einen Schritt rückwärts. Zombie wusch sich nur äußerst schwer wieder aus Kleidung heraus, und er hasste die Flecken.

»Gut gemacht«, lobte Nikki und trat hinter dem Auto hervor.

Obwohl sie fast einen Kopf kleiner war als er, schaffte sie es trotzdem, ihm irgendwie gönnerhaft auf die Schulter zu klopfen. Hätte er so etwas wie Stolz besessen, hätte ihn das vermutlich gekränkt, aber Sams einziger Stolz waren inzwischen die Fotos. Und die hatte er ja bekommen.

»Du hast auf mich gehört und die flache Seite benutzt.«

Natürlich hatte er das, denn es war ein guter Ratschlag gewesen. Wenn man mit der Kante auf das Gehirn eines Zombies zielte, lief man Gefahr, dass diese im Schädel stecken blieb und man plötzlich ohne Waffe dastand. Noch vor zwei Jahren hätte er niemals gedacht, dass er solche Tipps einmal brauchen könnte. In den amerikanischen Computerspielen besaßen immer alle Schusswaffen. Sam fand das ein wenig unfair und höchst irreführend. Mit einer Schusswaffe hätte er sich deutlich wohler gefühlt als mit einem Spaten.

Hinter ihnen stöhnte es.

Beinahe genervt drehte Sam sich um. Seine Ruhe hatte man inzwischen kaum noch irgendwo. Früher, als die Städte voller Menschen gewesen waren, hatten alle nur auf ihre Handys geblickt und einander in Frieden gelassen. Heute konnte man kaum noch einen Fuß vor die Tür setzen, ohne dass jemand etwas von einem wollte. Einen kurzen Imbiss deiner Innereien zum Beispiel.

Zwischen den ordentlichen Reihenhäusern strauchelten zwei Zombies die Straße entlang auf sie zu. Bei dem Zustand ihrer Verwesung war es schwer zu sagen, ob sie einmal männlich oder weiblich gewesen waren; dem kleineren von ihnen klebten jedoch einige lange Haarsträhnen am Kopf, und Sam stellte mit Beunruhigung fest, dass die Leiche noch weitgehend intakt war. Der Größere schleifte sein Bein in einem seltsamen Winkel hinter sich her, doch der andere sah aus, als könne er seine Bewegungen bei Bedarf womöglich noch beschleunigen. Und Bedarf würde wahrscheinlich eintreten, sobald er die Witterung von zwei frischen Snacks aufnahm, was auf diese Entfernung nicht mehr lange dauern konnte.

»Ich übernehme den Großen und du den Schnellen?«, schlug Sam nach einer kurzen, aber realistischen Betrachtung seiner kämpferischen Fähigkeiten vor.

»Ich bitte dich«, schnaubte Nikki und drückte ihm das Smartphone in die Hand.

Der Bildschirm blieb auch unter seiner Berührung schwarz, und Sam nahm an, dass der Akku sich nun endgültig verabschiedet hatte. Eigentlich war das ziemlich schade, denn er wusste, dass Nikki immer für ein Foto gut war.

Entschlossen schritt sie nun auf die beiden Untoten zu, das Beil lässig auf ihre Schulter gestützt.

Sie trug ein schwarzes Top und sehr massive Stiefel. Sam konnte nicht umhin zu denken, dass er sich vor der ganzen Zombie-Sache niemals mit einem Mädchen wie Nikki angefreundet hätte. Er hatte Mädchen, die sich mit Mode und ausgewogener Ernährung beschäftigten, immer für langweilig und austauschbar gehalten. Er war ganz schön naiv gewesen.

Die beiden Untoten hoben nun gleichzeitig den Kopf. Es war keine fließende Geste mehr, überspannt von Muskeln und Haut, sondern das abrupte Zurechtrücken von Gelenken. Es wirkte umso unheimlicher, da nichts Menschliches in der Bewegung lag. Unwillkürlich überkam ihn das Bedürfnis zurückzuweichen, doch Nikki überbrückte die letzte Distanz zu der tödlichen Gefahr blitzschnell, bevor sich die beiden darüber klarwerden konnten, woher der Geruch nach warmer Mahlzeit rührte.

Geübt riss sie den Fuß nach oben und trat den größeren Zombie so gezielt gegen das Becken, dass er zurücktaumelte. In der Zwischenzeit hatte sie das Heft des Beils bereits tief in den Schädel des anderen gegraben, der daraufhin vor ihr zusammensackte. Auch die schnellen von ihnen waren nicht so schnell wie die Lebenden – solange die sich wirklich beeilten. Den größten Teil der Bevölkerung hatten sie durch bloße Überzahl und unerschöpfliche Ausdauer kleingekriegt, doch wenn man sie direkt angriff, war es relativ einfach, sie zu überrumpeln. Natürlich kannte er außer Nikki kaum jemanden, der einen direkten Angriff auf einen Zombie für eine gute Idee hielt, aber bei ihr hatte es bisher immer funktioniert.

Der andere Untote hatte sich jetzt wieder gefangen und stolperte erneut auf sie zu. Da er jedoch Probleme mit seinem Bein hatte und sich dadurch fast in Zeitlupe bewegte, konnte sie das Beil abermals ohne besondere Eile schwingen.

Sam hatte nicht einmal genug Zeit darüber nachzudenken, ob er ihr vielleicht hätte helfen sollen, dafür hatte sie die beiden bereits zu schnell ausgeschaltet. Im Gegensatz zu ihm war Nikki von Anfang an sehr sportlich gewesen. Damals an der Uni hatte sie einen Yoga-Kurs besucht, hatte sie ihm erzählt. Yoga. Nun ja, man lernte nie aus.

Jetzt drehte sie sich grinsend zu ihm um, aber erst, nachdem sie einige Schritte von den nun wirklich leblosen Leichen zurückgetreten war. Das war noch so eine goldene Regel. Niemals einem am Boden liegenden Zombie den Rücken kehren, solange man sich noch in seiner Reichweite befand. Bei den Toten heutzutage wusste man nie; sie waren einfach nicht mehr so tot wie früher.

»Eigentlich habe ich diesen Selbstverteidigungskurs ja gegen Arschlöcher gemacht, aber gegen Zombies ist er auch ganz nützlich«, verkündete sie amüsiert und sah dabei sehr zufrieden aus.

Im Lager wirkte sie nie so glücklich wie auf offener Straße, und manchmal sorgte Sam sich deshalb. Ihm machte es nicht viel aus, eingesperrt zu sein. Auch vor den Zombies hatte er die Wohnung nicht öfter als nötig verlassen, aber er konnte erkennen, dass viele der anderen Überlebenden seine Einstellung nicht teilten. Wie Nikki wurden sie leichtfertig und etwas zu risikofreudig, aus dem Drang heraus, sich zu bewegen und frei zu sein. Für Sam ähnelte das schon fast einer Art Todessehnsucht, aber er hütete sich, das Thema anzuschneiden.

»In dem Kurs haben sie euch bestimmt nicht beigebracht, eine Axt zu verwenden«, stellte er trocken fest, während sie zu ihm aufschloss.

Gelassen zuckte Nikki mit den Schultern. Wie immer schien sie sich seine Worte nicht allzu sehr zu Herzen zu nehmen.

»Und was machen wir jetzt?«, wollte sie stattdessen wissen.

Sam blickte auf das Smartphone, das er immer noch in der Hand hielt. Der Bildschirm blieb schwarz, obwohl das Plastik in seiner Hand sich sehr warm anfühlte.

»Wir sollten zurück zum Lager, Fotos können wir heute eh keine mehr schießen.«

Scheinbar resigniert seufzte Nikki auf.

»Schon? Und ich dachte wir wären hier, um Spaß zu haben.«

Je näher sie dem Lager kamen, desto gepflegter wirkte die Gegend. Weniger Schutt lag umher, und sämtliche Häuser sahen aus, als hätten ihre Bewohner sich nur auf einen längeren Urlaub begeben.

Natürlich hatte es militärische Maßnahmen gegeben, als die Seuche ausbrach, doch konzentrierten sich diese vornehmlich auf das Landesinnere. Explosionen und Zerstörung hatten Häuser niedergerissen und im Kampf gegen die Zombies auch viele Möglichkeiten, sich zu verbarrikadieren, vernichtet.

Die Landesgrenzen hingegen waren schnell gesichert worden, damit das Virus sich nicht hinüberschlich und die ganze Welt bald nur noch in die Zukunft torkelte, statt voranzuschreiten. Die benachbarten Nationen hatten ein erstaunliches Engagement entwickelt, als es darum ging, die eigene nationale Sicherheit zu schützen, und Deutschland hatte es nicht gewagt, mögliche Unterstützung durch einen kleinen Querschläger im Eifer des Gefechts zu gefährden. Doch Unterstützung war nie gekommen; stattdessen hatten die anderen Länder sich offenbar zurückgelehnt und das Spektakel begutachtet. Viel zu lange war Deutschland davon ausgegangen, dass man die Lage wieder unter Kontrolle bekommen würde. Es war keine Katastrophe; es war bloß so etwas wie die Vogelgrippe, und solange man sich regelmäßig die Hände wusch und ausschließlich in die Armbeuge nieste, würde alles bald wieder vorbei sein. Nun, schnell vorbei gewesen war es tatsächlich.

Die meisten Leute waren so sehr überrascht worden, dass sie es nicht einmal geschafft hatten, die kopflose Flucht in irgendeine Richtung anzutreten.

Sams eigene Eltern waren losgefahren, um die Einkäufe fürs anstehende Wochenende zu erledigen, und einfach nicht mehr nach Hause gekommen. Oft fragte er sich, ob er nach ihnen hätte suchen sollen, doch ihm war ebenso klar, dass nicht seine Feigheit die Schuld daran trug, dass er sie verloren hatte. In dem plötzlich ausartenden Chaos hätte er sie so oder so nicht wiedergefunden. Dass er nicht ebenfalls zerfleischt worden war, während er seiner Mutter dabei half, die Einkäufe zu tragen, verdankte er einzig und allein der Tatsache, dass er auch freitags gerne ausschlief.

Wortlos schritten sie um die Autos herum, die verlassen auf der Straße standen. Nikkis Schritte hallten lauter auf dem Asphalt wider als seine eigenen, doch sie sprach kein Wort. Eigentlich sprach sie nie, wenn sie an diesen Autos vorbeikamen. Er vermutete etwas dahinter, eine Trauer, die sich nicht in Worte fassen ließ. Aber genau aus diesem Grund hatte es keinen Sinn zu fragen, und vielleicht fürchtete er sich auch ein wenig vor der Antwort. Die Geschichten, die man sich heute erzählte, hatten für gewöhnlich kein glückliches Ende.

Von Wracks konnte man nach nur zwei Jahren noch nicht sprechen, aber dennoch strahlten die liegengebliebenen Autos Tod aus. Ironischerweise waren es die Toten, die weiterlebten, und die Gegenstände, die starben, weil niemand sie mehr benutzte.

Diese Fahrzeuge hier waren von denen zurückgelassen worden, die versucht hatten, sich bis zur holländischen Grenze durchzuschlagen, und dabei gescheitert waren. Einige hatten es bis zur Grenze geschafft; im Lager gab es einige von ihnen. Doch genützt hatte es niemandem. Soweit Sam wusste, war nie jemand durchgekommen, nicht einmal am Anfang. Nicht einmal Politiker oder Promis hatten es in ihren Privatflugzeugen hinausgeschafft, nach allem, was man im Internet so las. Im Internet las man aber natürlich so einiges.

Vor ihnen kam allmählich der hohe Wall in Sicht, der das gesamte Lager zum Landesinneren hin abgrenzte.

Auch auf der anderen Seite gab es Zäune, doch die waren viel niedriger, durchlässig fast und eher ein Symbol als eine tatsächliche Abwehr.

Sie lebten so nah an der Grenze, dass sie sich beinahe an den nächsten Stützpunkt schmiegten. Die Fläche dort wurde von der niederländischen Armee und Mitgliedern der NATO freigehalten, die sicherstellten, dass die Untoten nicht zu nahe an ihre eigenen Linien gelangten.

Das verschaffte ihnen als Zufluchtsort den großen Vorteil, nur eine Seite sichern zu müssen, und die Möglichkeit, von Zombies eingekesselt zu werden, schied für sie dankenswerterweise fast gänzlich aus.

Obwohl sie sich von den Soldaten keine direkte Hilfe versprechen konnten, profitierten sie doch indirekt von ihrer Anwesenheit, und es war ihnen gelungen, sich eine sichere Zone zu schaffen, wie man sie in Deutschland wohl nur noch selten antraf.

Sam hatte die Gegend hier nie verlassen, aber manchmal kämpften sich einzelne Überlebende zu ihnen durch; geschundene Gruppen von nie mehr als drei Mann, die in der irrigen Hoffnung aufgebrochen waren, man würde die Grenze für sie – und nur für sie – öffnen. Jeder glaubte daran, die eine Ausnahme zu sein, die es aus dieser Hölle hier herausschaffen würde.

Die Berichte, die die Neuankömmlinge mit sich brachten, waren fürchterlich.

Nahrungsmittel und Medikamente stellten hin und wieder ein Problem dar, aber alles in allem hatten sie die Lage gut im Griff, und auch der Komfort konnte sich für eine Zombie-Apokalypse wohl sehen lassen. Manchmal vermisste Sam allerdings frisches Obst aus sonnigeren Gefilden, den Eintopf seiner Mutter und natürlich das Pay-TV-Programm.

»Hey, Felix, mach das Tor auf, wir sind’s«, rief Nikki neben ihm zu der Mauer aus Holz empor, die sie in der Anfangszeit eilig zusammengezimmert und nach und nach weiter verstärkt hatten.

Ein junger Mann mit äußerst dichtem Bart lehnte sich vor, um sie über die Brüstung hinweg näher in Augenschein nehmen zu können. Wahrscheinlich behinderte die dicke Brille seine Sicht, doch offenbar war er trotzdem nicht gewillt, sie abzunehmen. Sein Leben verdankte er vermutlich einzig der Tatsache, dass selbst Zombies nicht den Drang verspürten, ihn zu verspeisen. Felix war Veganer.

»Yo, Nikki, Sam, wusste gar nicht, dass ihr heute draußen unterwegs wart. Wartet, ich lass euch rein.«

Sein Kopf verschwand, als er die Leiter hinunterstieg, um ihnen zu öffnen.

Felix war einer der wenigen anderen jüngeren Menschen, die es in ihr Lager geschafft hatten. Zwar lag die Aachener Universität ganz in der Nähe, doch die meisten Studierenden wohnten in der Stadt und hatten es nicht geschafft, der Invasion zu entkommen. Außerdem studierten viele dort Maschinenbau, und die Zombies waren unter den restlichen leblosen Gestalten viel zu spät bemerkt worden.

Sam hatte doppelt Glück gehabt: freitags keine Vorlesungen, und das Haus seiner Eltern lag äußerst praktisch in Uni-Nähe, sodass es sich nicht gelohnt hatte, sich eine eigene Wohnung in Aachen zu nehmen. Hätte er nicht eine so starke Aversion gegen die Möglichkeit eines Nebenjobs gehabt, wäre er bestimmt als Zwischenmahlzeit geendet.

Das Tor schwang auf und offenbarte den Blick auf eine Nachbarschaft, die genauso aussah wie die, die sie gerade durchschritten hatten. Die Häuser wirkten allerdings weniger verlassen, die Autos waren nicht einfach auf der Straße stehengelassen worden, sondern parkten ordentlich in den Auffahrten. In den Vorgärten wurde Gemüse angebaut.

Sam war praktisch seit der Gründung dieser Kommune hier. Nachdem die Sichtungen von Zombies aus dem Fenster im ersten Stock immer seltener wurden und die Konserven seiner Eltern allmählich zur Neige gingen, hatte er das Haus verlassen und war kaum zwei Straßenzüge später auf eine Gruppe Überlebender gestoßen. Sie hatten den Plan gehabt, einen Bereich nahe der Grenze zu sichern und sich dort einzurichten, bis alles vorbei wäre. Das war vor knapp zwei Jahren gewesen; die Bretterverkleidungen der Umzäunung waren stabiler geworden und die Tomatenpflanzen waren der Sonne entgegengewachsen. Und sie waren immer noch hier.

Das Haus, in dem Sam seine gesamte Kindheit verbracht hatte, stand nicht weit entfernt, und manchmal machte er sich zu Fuß auf den Weg, um seinen Kleiderschrank aufzustocken oder die alten Fotoalben durchzublättern. In letzter Zeit ging er jedoch immer seltener; er hatte gelernt, dass es nichts änderte.

»Wie ist es draußen so?«, wollte Felix wissen und sah Sam dabei kaum an.

Er war es gewohnt – und eigentlich war es ihm auch ganz recht –, dass die Menschen normalerweise Nikki ihre ungeteilte Aufmerksamkeit schenkten.

»Ruhig. Zombies hin und wieder«, antwortete sie und zuckte gelangweilt mit den Schultern.

Viel mehr gab es eigentlich auch nicht zu sagen. Die Welt gehörte nun den Toten, und das hatte sie sehr still gemacht. Keine Geräusche mehr von der Autobahn, keine Radios, die durch offene Fenster nach draußen plärrten, keine Gespräche, keine Unterhaltungen und kein Gelächter mehr; nur noch Hunger.

»Ich war schon lange nicht mehr draußen«, bemerkte Felix und strich sich nachdenklich durch den Bart. »Früher schon, aber seit alle damit angefangen haben, ist es einfach nicht mehr dasselbe.«

»Sicher«, sagte Nikki trocken und nickte zur Leiter hinüber, die aussah wie billig im Baumarkt erworben. Vermutlich hatte sie vor der Apokalypse ein trauriges Dasein in irgendeiner Garage gefristet und war erst jetzt ihrer eigentlichen Bestimmung zugeführt worden. Nun bildete sie den einzigen Aufstieg zu der Brüstung, die die gesamte Vorderseite ihres Lagers umspannte.

»Sollte da oben nicht jemand Wache halten?«

»Ja, klar, schon«, erwiderte Felix lapidar. »Ist aber doch eh nie was los da draußen.«

Er trug ein kurzärmeliges Hemd, das trotz der heraufziehenden Wärme bis oben hin zugeknöpft war. Bald würde der Sommer erneut die Straßen erobern, und die Hitze würde den Asphalt zum Glühen und die toten Körper zum Verwesen bringen. Sam erinnerte sich noch an das letzte Jahr. Der Gestank war unerträglich geworden, und die Fliegen hatten das vergiftete Fleisch umschwirrt wie an einem warmen Grillabend.

Erst als Sam von Nikki am Arm gepackt und in Richtung der Häuser fortgezogen wurde, kletterte die Wache auf ihren Posten zurück. Vielleicht hätte Sam beunruhigt sein sollen, aber im Laufe dieser zwei Jahre war die ständige Furcht allmählich abgeklungen. Was zu Beginn noch schrille Panik in ihnen ausgelöst hatte, war bald schon zur Routine geworden, gemischt mit der Trauer um das, was einmal gewesen war.

»Ist der Typ eigentlich zu fassen?«, fragte Nikki mit einem genervten Schnauben.

Die meisten Menschen schienen ihr auf die Nerven zu gehen – ob tot oder lebendig.

»Du musst das verstehen«, warf Sam beschwichtigend ein. »Für ihn ging die Welt unter, als der letzte Starbucks schloss.«

Nikki brach in klirrendes Gelächter aus. Ihr Lachen war hoch und vielleicht ein klein wenig unangenehm wie zerbrechendes Glas. Und es war vermutlich der einzige Grund, warum sie sich überhaupt mit Sam abgab. Mit Sicherheit hätte sie coolere und auch nützlichere Freunde finden können, aber nach all dieser Zeit war er der Einzige, der sie noch zum Lachen brachte.

Nebeneinander schritten sie auf eines der Gemeinschaftshäuser zu. Obwohl sie fleißig Solarzellen von Häuserdächern montiert und an Generatoren herumgewerkelt hatten, reichte der selbst produzierte Strom nicht annähernd aus, um die gesamte Nachbarschaft zu versorgen. Ein paar leidenschaftliche Heimtechniker und ein pensionierter Elektriker hatten es jedoch geschafft, drei der Häuser an ein Stromnetzwerk anzuschließen, das diese auf dem Stand der Technik hielt. Der Strom wurde sorgfältig eingeteilt für Kühlmittel, gekochte Lebensmittel und einen gelegentlichen Wäschedurchlauf. Hin und wieder auch für das Aufladen eines einzelnen Handys, obwohl das hier niemand gerne sah.

Die Gemeinschaftshäuser standen allen offen und wurden nicht als Privatwohnungen der Überlebenden genutzt. Das größte von ihnen war mit hellem Klinker verputzt worden und hatte schon vor ihren Umbaumaßnahmen Solarzellen auf dem Dach gehabt.

Der kostenlose Auszug ist beendet.

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120 S.
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9783958693975
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