Buch lesen: «Melancholie»
László F. Földényi
MELANCHOLIE
Aus dem Ungarischen
von Nora Tahy
Durchgesehen
von Gerd Bergfleth
Marianne Bara gewidmet
INHALT
Vorwort
Die Eingeweihten
Das Gefängnis der Temperamente
Die Ausgesperrten
Die Herausforderung des Schicksals
Die Bestechlichen
Der frühe Tod der Romantiker
Liebe und Melancholie
Die Krankheit
Die Angst vor der Freiheit
Die Leere der Schöpfung
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Personenregister
VORWORT
Der Beginn unter Qualen zeugt von der Schwierigkeit des Unterfangens.
Unter der Hinzuziehung von Begriffen müssen wir über etwas sprechen, was die Begriffe erst angreift, um sie dann, einer Fata Morgana gleich, jeder Erreichbarkeit zu entreißen. Es ist die Grammatik der Wörter, der Klang der Sätze, an die wir uns um Hilfe wenden, doch versuchen sie gerade das zu thematisieren, übersichtlich und einkreisbar zu machen, was diesen Wörtern und Sätzen vorausgeht. Die Sprache ist klangvoll, doch muss sie früher oder später verstummen: Auch sie ist ein Kind des Schweigens. Die Wörter, sie sagen weniger, als wir durch sie auszudrücken wünschen – sie leiten uns fehl, entführen unsere Gedanken ihrem eigentlichen Ziel, und zwar solcherart, dass wir beim Sprechen vielleicht selbst erstaunt feststellen mögen: Wir wollten eigentlich etwas anderes sagen, als die Wörter, die Intonationen und die sprachlichen Strukturen glauben machen. Das Wort sagt weniger, als wir mitteilen möchten – doch die Tatsache, dass sich die Missverständnisse niemals aus unserem Leben verbannen lassen, weist darauf hin, dass es sich hier nicht lediglich um eine technische Unvollkommenheit handelt, sondern um das ureigenste Paradoxon von Sprache, des Sich-Mitteilens: Die Wörter verraten wenig, weil sie zu viel Inhalt in sich tragen; gleich was wir sagen, worüber wir reden, unsere Wörter drücken nicht nur das aus, was wir mitzuteilen wünschen. In ihren Tiefen hält sich eine andere, nicht mitteilbare Welt verborgen, die aber gerade auch diesen Wörtern Leben gibt. Selbstverständlich können wir über diese andere Welt Bemerkungen fallen lassen – aber damit haben wir sie nicht liquidiert, sondern lediglich ihre Grenzen ein wenig hinausgeschoben, indem wir den für uns niemals erreichbaren Horizont etwas erweitert haben. Wörter, Begriffe, der Wichtigkeit des Sprechens bereitet all dies keinen Abbruch – doch muss das Wort, um wahrhaftig Bedeutsamkeit und Bedeutung zu erlangen, mit seinem eigenen Ausgeliefertsein rechnen, seiner eigenen Zerbrechlichkeit gerecht werden. Der Held einer »exemplarischen« Novelle von Cervantes hatte ein Wundermittel eingenommen, um daraufhin dem Gefühl zu erliegen, dass seine Seele sowie sein Körper aus durchsichtigem Glas seien – und je stärker die Angst und der Wahnsinn in ihm überhandnahmen, umso mehr verstärkten sich bei ihm auch Klarsicht und Urteilsvermögen. Und so verhält es sich in etwa auch mit den Wörtern.
Diese eingestandene Schwäche ist tatsächlich eine Schwäche – dies muss festgehalten werden, bevor das mit den Begriffen durchgeführte Spiel es uns vergessen ließe. Im vorliegenden Falle ist dies vielfach richtig. Und eine Folge dieser Unzulänglichkeit der Begriffe ist unter anderem die Melancholie; diese Unzulänglichkeit ist aber nicht bestimmbar so oder so geartet, sodass man ihre Hinfälligkeit ausmerzen und mit der Zeit vielleicht aufheben könnte, sondern etwas, ohne das eine Begriffsbildung unvorstellbar ist. Und wenn von dem Klarsehen und dem Maß der Endgültigkeit, auf denen vielerlei Einsichten beruhen, die eine Säule gebildet wird, dann die andere von der Trübheit der Unfassbarkeit, der Unbegreiflichkeit und der Unbefriedigtheit. Vielleicht daher die Traurigkeit, die den Grund einer jeden den Anspruch auf Endgültigkeit erhebenden Formulierung durchzieht, die Untröstlichkeit, die auch die geschlossensten Gebilde angreift.
Unsere Kultur verwendet in diesem Zusammenhang gern den Begriff der Negativität, des Mangels, doch fragt sich, und dafür liefert uns ebenfalls die Melancholie den Ansatz, ob dasjenige als »Negativität«, als Mangel angesehen werden kann und darf, was aus dem menschlichen Leben nicht wegzudenken ist. Aus einer Art eschatologischer Sicht höchstwahrscheinlich, doch, und auch daran erinnert uns die Melancholie, ist der eschatologische Glaube selbst eine Erscheinung des zur Verdüsterung neigenden menschlichen Seins; und dürfen wir denn nach göttlicher Art aus unserer menschlichen Grundsituation heraus strenge Grenzen zwischen Negativität und Positivität ziehen? Extreme, äußerste Punkte und Grenzen, die gibt es; wird dies doch nicht nur durch unsere Endlichkeit in Gestalt der Vergänglichkeit oder des Todes bezeugt, sondern auch durch jene Grenzen, an die jedes menschliche Bestreben früher oder später gelangt. Es umgrenzen uns aber die letzten, äußersten menschlichen Grenzen nicht gleichsam kreisförmig von außen her, sondern sie sind ureigenste, innerste, zu jeder Zeit und an jedem Ort zu entdeckende Knotenpunkte unseres Seins. Deshalb ist, was von außen als Mangel erscheint (gemeint ist damit, dass die menschliche Existenz begrenzt und nicht allmächtig ist), von innen her als Vollendung zu verstehen; was mit den Augen Gottes gesehen Hinfälligkeit ist, ist nach menschlichem Maße innere Kraft, Fähigkeit. Die Untröstlichkeit ist auch im tiefsten Klarsehen, das Dunkel auch im genauesten Gedankengang enthalten. Das bedeutet aber nicht, dass sie sich gegenseitig ausschalten. Denn wir durchleben unser Leben voneinander abweichend, unvergleichbar, auf einzigartige Weise, und es gibt keine zwei Menschen, in denen Klarsicht und Dunkel, die sich auf das Unendliche richtende Sehnsucht und das zur letztendlichen Hinfälligkeit verdammte Sein in gleichem Verhältnis aufgeteilt wären. In diesem findet sich, wie es erneut von der Melancholie angedeutet wird, die Voraussetzung des Lebens, aber auch des Todes. Nicht die Schwäche und nicht die Kraft, nicht das Klarsehen und nicht das Dunkel ist das, woran wir sterben, sondern die Tatsache, dass ein jedes derselbe Mangel des anderen und Vollendung seiner selbst ist.
Ja, die Melancholie mahnt immer wieder erneut; doch ihre Mahnung kommt nicht von außen, sondern spricht von innen her zu uns. Sie bedarf aber nicht unbedingt der Worte. Sie ist gleichzeitig diesseits und jenseits der Worte gegenwärtig. Sie bringt jene Worte, die sie schließlich ausnehmen, hervor. Damals, als sie einige Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung zum ersten Mal in Worte gefasst wurde, waren die Geburtswehen, die nicht nur das Auf-die-Welt-Kommen der Melancholie, sondern auch des Menschen begleitet hatten, schon in Vergessenheit geraten. Nun steht die Melancholie in voller Rüstung vor uns (obwohl das Bild ziemlich irreführend ist), und die Wörter, die über sie fallen gelassen werden, sind überwiegend beschreibend, gegenständlich. Später, als sich diese Wörter vermehrten, kam jene Zeit, in der sie durch die gesprochenen Wörter geschaffen wurde, in der die Menschen melancholisch zu sein versuchten – doch hatte diese Modeströmung wenig mit der Melancholie an sich gemein. Da aber in diesen Worten, wie allgemein in allen verbalen Erscheinungen, das Äußerste an Irrungen und Wirrungen enthalten ist, ist das sich auf die Melancholie beziehende Gerede ein ausgesprochen schauerliches Unterfangen. Es bedarf eines peniblen Gleichgewichts der Begriffe: Man darf nicht nur über das reden, worum es geht, sondern muss auch die Frage des »Wie« eines solchen Sprechens zum Gegenstand machen. Diese Spirale aber ist unendlich: Über das als Gegenstand behandelte »Wie« muss man auch in irgendeiner Form Wörter bilden. Und diese Form beansprucht wiederum, dass man sie als Gegenstand behandle. In dem Fall von einander aufreibenden und einander abnutzenden Gegenständen und Formen gibt es keine endgültige Lösung: Es geht um die Melancholie, obwohl es doch eigentlich thematisch um die melancholische Grundlage der Wörter gehen müsste. Es ist unser eigener Haarschopf, den wir zur Errettung unserer selbst zu packen versuchen.
Zu jener Zeit, da die Melancholie zum ersten Mal als Begriff erschien, war über sie schon alles gesagt worden. Doch von Anbeginn an ist die Ungenauigkeit des Begriffs, an der auch spätere Epochen nichts ändern konnten, auffallend. Es gibt keine eindeutige und genau treffende Bestimmung der Melancholie. Die Geschichte der Melancholie ist auch die Geschichte einer nie zum Abschluss kommenden Präzisierung der Begriffsprägung, und gerade daraus ergibt sich der Zweifel: Sprechen wir über die Melancholie, so ist sie gar nicht Gegenstand unseres Sprechens, es handelt sich vielmehr um einen Versuch, mit den über sie geprägten Begriffen unsere eigene Lage zu erkennen. Somit vervielfachen sich die Qualen eines Einstiegs, denn wo liegt denn der Beginn? Dort, wo das Thema als Begriff zum ersten Male auftaucht (in der Antike), oder dort, wo unser eigenes Leben sich an den Begriff bindet, um sich nie wieder von ihm zu lösen? Dort, wo sie sich der Form des Begriffs unterwirft, oder dort, wo unser Leben vor dem Begriff zurückschreckend gleichsam zu ihr gelangt? Wir haben gesagt, dass sie dort, wo sie uns erstmals gegenübertritt, mit aller Macht präsent ist. Die Vorsicht, und vielleicht auch die Angst, die am Grunde jeder Vorsicht in uns arbeitet, fordert den Beginn beim Worte, verlangt also, dem Schicksal des Begriffs auf der Spur zu sein. Wenn sich nämlich, wie wir angenommen haben, die Melancholie, die die Worte angreift und sie der Lüge überführt, sowieso in den Worten verborgen hält, dann können wir auch die Fragen unseres eigenen Lebens sowie unsere Zweifel verständlicher, wenngleich nicht antwortfertig, formulieren.
DIE EINGEWEIHTEN
Διὰ τί πὰντες ὅσοι περιττοὶ γεγόνασιν ἄνδρες ἢ κατὰ φιλοσοφίαν ἢ πολιτικὴ ἢ ποίησιν ἢ τέχνας φαίνονται μελαγχολικοὶ ὄντες
»Warum erweisen sich alle außergewöhnlichen Männer in Philosophie oder Politik oder Dichtung oder in den Künsten als Melancholiker?«1 Dieser Satz, mit dem der 30. Abschnitt der in der Schule des Aristoteles zusammengestellten Problemata Physica beginnt, scheint an den Anfang unseres Gedankengangs zu gehören, und an seiner Gültigkeit hat er bis in die heutige Zeit nichts eingebüßt. Und obzwar er aller Wahrscheinlichkeit nach aus der Feder jenes Theophrast von Eresos stammt, der nach Diogenes Laertios das erste, jedoch verschollene Buch über die Melancholie geschrieben haben soll, hielt die Allgemeinheit seit der Antike daran fest, die Autorschaft Aristoteles zuzuschreiben. Bleiben auch wir dabei. Die Begriffe der »herausragenden Persönlichkeit«, der »Außerordentlichkeit« und der »Melancholie« werden hier zum ersten Mal, was zunächst erstaunlich wirken kann, miteinander verwoben und in Zusammenhang gebracht. Die Melancholie, wortwörtlich die schwarze Galle (μελαινα χολή), war im ursprünglichen Sinne des Wortes ein Charakteristikum des Körpers; die Vorzüglichkeit eines Philosophen, Politikers oder Künstlers liegt aber im Geiste, und dies beides, die Zweiheit von Körper und Seele, lässt sich der neueren Anschauung gemäß höchstens mithilfe einer Metapher verbinden und zusammenziehen. Diese Metapher aber fehlt: Die Entsprechung ist bei Aristoteles nämlich direkt; aus diesem Grunde müssen wir versuchen, eine innere Beziehung der beiden Begriffe herauszuarbeiten. Die Begriffe der herausragenden Persönlichkeit und der Außerordentlichkeit sollten auf ihre ursprünglichen Bedeutungen zurückgeführt werden. (Das Verb περττεύω drückt nicht nur Reichhaltigkeit, sondern auch Überfluss an etwas aus.) Wer herausragend, außerordentlich ist, verfügt über etwas, woran es den anderen fehlt: Er ist im Besitz nichtalltäglicher Eigenschaften. Und da das »Herausragen« gleichermaßen körperliches Überragen wie auch geistige Überlegenheit bedeuten kann, ist die Frage, ob wir es als ein geistiges oder als physisches Charakteristikum betrachten, zweitrangig. (Die geistigen Folgen einer körperlichen Veränderung zeigen, dass die Außerordentlichkeit nicht nur auf das eine oder andere beschränkt werden kann.) Wer herausragend ist, sei er es als Dichter, Philosoph, Politiker oder Künstler, ist es nicht nur geistig, sondern dieses sein geistiges Herausragen ist selbst die Folge einer sich in der Tiefe vollziehenden und selbstverständlich nicht nur rein körperlichen bzw. geistigen Veränderung: Wir müssen darin die eigentümliche Beziehung des Menschen zum Leben, besser gesagt, zu seinem eigenen persönlichen Schicksal bemerken. Entscheidend ist dabei das entschiedene Sich-dem-Schicksal-Entgegenstellen, das Aufsichnehmen des Schicksals und seine gnadenlose Verwirklichung. Dies folgt aus der Einsicht, dass das Leben, dessen geistige und körperliche Merkmale zweitrangig und schwer voneinander abgrenzbar sind (wie viele sterben an ihrer Außerordentlichkeit, und wie viele große Geister gehen an irgendeinem körperlichen Gebrechen zugrunde, wie wir zu sagen pflegen, obwohl wir genau spüren, dass es sich jeweils nicht nur um den Körper bzw. nur um den Geist handeln kann), unvergleichlich ist (περισσός bedeutet in der griechischen Arithmetik so viel wie ungerade). Wer herausragend ist, hat seine Außerordentlichkeit der Einmaligkeit des Lebens (seiner Unteilbarkeit und der Unmöglichkeit, es zu vervielfachen) zu verdanken; daher scheint es verständlich, dass dieses eigentümliche Geschenk nicht Frohsinn, auch nicht vertrauensvolle Hoffnung, sondern Melancholie hervorruft. Dadurch wird der scheinbare Widerspruch des aristotelischen Satzes gewissermaßen gedämpft. Doch wie steht es mit der Melancholie, der schwarzen Galle? Selbst eine nur oberflächliche Kenntnis der griechischen Kultur reicht aus, um sagen zu können, dass die Trennung der vergangenen 2 000 Jahre von Körper und Seele, von Geist und Materie in zwei Bereiche, ihr weder als Erfahrung noch als Einsicht bekannt war, dass sie somit die körperlichen Eigentümlichkeiten der schwarzen Galle nicht ausschließlich als körperliches Merkmal betrachtete, sondern sie in die geistige Welt und damit in die Beurteilung des Ganzen des Kosmos hinüberhob; sie hatte solcherart jene Zweiheit, die wir als den Gegensatz von geistigem Herausragen und der für den Körper bezeichnenden schwarzen Galle kennengelernt haben, nicht nur nicht vollendet, sondern von vornherein auch niemals erfahren. Die begriffliche Entfaltung der Melancholie, der schwarzen Galle, verschafft uns tieferen Einblick in diese Anschauung.
Auf erste Spuren eines Zusammenhangs zwischen Galle und Geist (Gemüt) stoßen wir bei Homer, der zwar die schwarze Galle als solche nicht erwähnt, jedoch die schwarze Farbe mit der Vernebelung des Gemüts in Zusammenhang bringt. »Das finstere Herz« des wütenden Agamemnon, »von der Galle schwarz umströmt«,2 ist, obschon unausgesprochen, genauso eine Folge der Veränderung der Galle wie seines Grolls wegen der Weissagung von Kalchas. Zusammen spielen die Galle und die schwarze Farbe erst in Sophokles’ Tragödie Die Trachinierinnen eine Rolle: die »gallichtschwarze Brut«3 des Lernadrachen, die den Pfeil getränkt hat, ist nach den Worten des Dichters giftig (der schwarze Saft, auf griechisch wörtlich μελαγχόλος). Somit hielt der Dramatiker, der als Priester zugleich Arzt war, die schwarze Galle für einen schädlichen Saft, nämlich für ein Gift des Körpers. Die Beschreibung und die Beurteilung dieses Giftes, der schwarzen Galle, wird an den Namen des Hippokrates (Ende des 5. Jahrhunderts) geknüpft. »Der Körper des Menschen enthält in sich Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle, und diese Säfte machen die Natur (Konstitution) seines Körpers aus, und wegen dieser (Säfte) ist er krank oder gesund.«4 Hippokrates führte die Krankheit namens Melancholie zunächst auf ein Sichverfärben der Galle ins Schwarze zurück (μελαγχολία ist eine Krankheit des durch die Galle bestimmten Typs – ό χoλώδhς), nicht direkt auf die schwarze Galle wie in seinen späteren Schriften. Wenn das Verhältnis bei der Mischung der Säfte nicht ausgewogen ist, wähnte er, nachdem er den Begriff der schwarzen Galle eingeführt hatte, bzw. wenn sich einer der Säfte nicht mit den anderen entsprechend vermengt, dann wird der Körper krank. Die Konstitution des menschlichen Körpers hängt von diesem Verhältnis ab, und so bezeichneten die Griechen Beschaffenheit und Vermengung mit ein und demselben Wort: ἡ κρᾶσις. Die kosmozentrische Anschauung der Griechen betrachtete den Menschen als organischen Bestandteil des Alls, sie stellte ihn nicht diesem gegenüber. Die Vermengung, deren Begriff sich ursprünglich auf eine Verbindung der Bestandteile bezog, ist für alles verantwortlich: ebenso für den Zustand des Kosmos wie für den des Menschen, also sowohl für seine Gestalt als auch seinen Charakter, und, wie bald Ptolemäus im Tetrabiblos ausführen wird, auch für jene Kraft, durch die die Sterne beeinflusst werden. Hippokrates selbst befasst sich auffallend wenig mit der Geistigkeit der Gestalt, er wendet seine Aufmerksamkeit eher den körperlichen Komponenten zu – doch trägt jene Anschauung, die sich zur Einheit von Körperzustand und Kosmos bekennt, unausgesprochen auch die Einheit von Körper und Geist in sich. Die Melancholie, sagt Hippokrates, ist eine Krankheit des Körpers: Der dickflüssige Saft der schwarzen Galle erlangt im Verhältnis zu den anderen, dominierenden Körpersäften Dominanz und kann, da das Blut somit vergiftet ist, nun verschiedene Krankheiten, von den Kopfschmerzen über Bauch- und Leberbeschwerden bis hin zur Lepra, erzeugen. Das Blut aber ist die Wiege der Vernunft, des Geistes, so Hippokrates, und daraus lassen sich die geistigen Folgen der das Blut vergiftenden Galle erklären. Die schwarze Galle ist demnach nicht an sich schon eine Krankheit, sondern wird erst durch das schlechte Verhältnis der Mischung dazu. Die sich in erster Linie auf einen geistigen Zustand beziehende Melancholie (schwarze Galle) ist ein ganz eigentümlicher Fall schlechter Mischungsverhältnisse, bei dem sich der körperliche Zustand mit Angst und Niedergeschlagenheit vereint. Es sind die trockenen Typen, die, der Meinung des Hippokrates nach, verstärkt zu dieser Krankheit neigen, die mit dem Austrocknen und der Verdickung der Galle einhergeht, was auch jeweils unter dem Einfluss der Wetterverhältnisse und Jahreszeiten geschieht. In seiner medizinischen Abhandlung Über Luft-, Wasser- und Ortsverhältnisse schreibt er: »Wenn […] in dieser Jahreszeit [Sommer, L. F.] Nordwind herrscht, wenn sie regenarm ist und weder beim Erscheinen des Hundesternes noch bei dem des Arkturos Regen fällt, dürfte es wohl Menschen mit schleimiger Konstitution, denen mit feuchter Konstitution und den Frauen am meisten nützen, für die Menschen mit galliger Konstitution aber ist dies am schädlichsten; dann werden sie allzu trocken, und es treten bei ihnen trockene Augenentzündungen und akute sowie lange Zeit anhaltende Fieberanfälle auf, bei manchen aber auch Melancholie (μελαγχολία)«.5 Obwohl also diese, nämlich die Melancholie, eine durch die Galle erzeugte Krankheit, also körperlichen Ursprungs ist, wirkt sie sich in dem beschriebenen Fall auch auf das Gemüt aus. In dem 3. Buch seiner Epidemien behandelt Hippokrates die Melancholie körperlichen Ursprungs als gestörten Seelenzustand: Die untersuchte, erkrankte Frau leidet unter erhöhtem Schlafbedürfnis, Appetitlosigkeit und schwindenden Kräften, »ihr Gemütszustand ist melancholisch«6 (τὰ περὶ τὴν γνώμην μελαγχολικά). υώμη bedeutet gleichermaßen Gemüt, Sinn, Vernunft, Verstand, Geist, Gefühl, Neigung, Einsicht – all diese Bedeutungen sind in diesem einzigen griechischen Wort enthalten, diese Kargheit an Begriffen erinnert uns an einen relativen Reichtum: Man kann diese Fähigkeiten der Seele und des Geistes nicht verschiedenen Bereichen zuordnen, denn sie repräsentieren eine Einheit in der Seinsanschauung und dem Seinsverständnis, wenn auch im Verborgenen fest mit der vielschichtigen Welt des Körpers verwoben. Das Gemüt und die Gestalt, der Geist und der Körper, und die Melancholie ist ihre Krankheit, υώμη und κρᾶσις: die Einheit der Seele und die auch den körperlichen Zustand bestimmende Vermengung der kosmischen Elemente. Das Sichauflösen und das Erkranken dieser Zweiheit ist die Melancholie – gibt es eine ärztliche Anschauung, die großzügiger und mutiger wäre? Ihr Ursprung ist körperlicher Natur1 (Hippokrates erzählt, dass Demokrit, der nicht nur melancholisch war, sondern über diese Krankheit angeblich auch ein Buch verfasst hat, als er ihn besuchte, gerade ein Tier seziert habe, um den Sitz der Melancholie zu finden), ihre Folge aber weitgehend geistiger Natur. Und umgekehrt: Der Ursprung ist, da körperlich, zugleich kosmisch und übermenschlich (ein Ergebnis des Zusammenspiels von Wind, Land, Jahreszeit und Himmelsrichtung und sogar von Kometen und Sternen), doch zeigt sich die Wirkung im Geistigen und schlägt sich in der von jeder anderen unterschiedenen, unvergleichlichen und sich niemals wiederholenden seelisch-geistigen Individualität nieder. Die Melancholie als Krankheit ist, so Hippokrates, daher das Ergebnis einer Art von Entgleisung, das Gleichgewicht von Mikro- und Makrokosmos hat sich verlagert, die Ordnung (der Kosmos) hat sich gelockert, es hat sich eine Störung eingestellt, und die betreffende Person ist nicht mehr in der Lage, den untrennbaren Gesetzen des Alls und des eigenen Schicksals zu gehorchen. Solcherart spricht Hippokrates einmal von den Melancholikern als den aus sich selbst Heraustretenden, sich in Ekstase Befindlichen, und die Verwendung des medialen, reflexiven Verbes (ἐξισταμένοισι) deutet auf tief greifende Beobachtungen hin: Das Subjekt ist nicht nur einem ihm selbst fremden Willen ausgeliefert, sondern auch Gegenstand seines eigenen Handelns. Der Melancholiker: Er steht außerhalb der gewohnten Gesetze des Lebens, doch das Schicksal, das es so gewollt hat, ist auch sein Schicksal; sein Leben, sein Verhältnis zum Schicksal, bestimmt seinen Zustand (seine Krankheit) mindestens ebenso wie der von ihm nicht überprüfbare Kosmos. Doch sind dies nicht mehr die Worte des Hippokrates – in seiner Welt der aus sich heraus selbstverständlichen Erscheinungen wäre eine Ausführung dieser Gedankengänge fast schon verdächtig gewesen.
Dem am Anfang unseres Gedankengangs stehenden Aristoteles-Zitat haben wir uns ein wenig genähert. Die Melancholiker sind herausragend, sagt der Philosoph, und dies knüpft an die hippokratische Vorstellung an: Wer melancholisch ist, der leidet an alles überschreitenden und sich auf alles erstreckenden Gleichgewichtsstörungen. Hippokrates betrachtet die Melancholie als Krankheit,2 Aristoteles als solch einen erhabenen Zustand, in dem der Kranke zur Hervorzauberung gesunder, den Zeitgeist überdauernder, jeden mit sich reißender Werke in der Lage ist. Aristoteles geht, getreu der hippokratischen Tradition, von der Beobachtung des Körpers aus: Auch er hält einen Überschuss an schwarzer Galle im Vergleich zu den anderen Körpersäften für ungesund, doch als ausschlaggebende, beeinflussende Kraft sieht er die Temperatur der schwarzen Galle an. Derjenige, in dem sich die schwarze Galle allzu sehr erhitzt, ist unbegründeterweise überfröhlich, er wird guter Laune (daraus resultiert auch die aus der Antike stammende Vorstellung einer Beziehung zwischen Melancholie und Manie); bei dem aber, bei dem diese Temperatur zu sehr sinkt, zeigt sich Niedergeschlagenheit und Traurigkeit. Für den Melancholiker als Typ ist bezeichnend, dass sich die Temperatur der Galle auf ein Mittelmaß beschränkt (πρός τὸ μέσον), da er aber demzufolge ein Typ des Mittelmaßes ist, ist er gesund, und da sich in ihm Wärme und Kälte optimal vermengen, ist er zu vielerlei befähigt – er kann in der Politik, in der Kunst, in der Philosophie, in der Dichtkunst Bedeutendes vollbringen, doch befindet er sich wegen der möglichen Erwärmung bzw. Abkühlung der schwarzen Galle zugleich in beständiger Gefahr. Für den melancholischen Menschen ist also ein immerwährender, außerordentlicher Zustand bezeichnend: Einerseits gibt es in ihm ein Übermaß an schwarzer Galle, und das scheint im Verhältnis zu der durchschnittlichen Verteilung der anderen Körpersäfte ungesund zu sein, andererseits ist aber gerade auch in diesem Zustand des Überschusses ein Mittelmaß, das heißt die Gesundheit als Möglichkeit, gegeben. Für die Säfte ist eine schlechte Mischung (δνςκρασία) bezeichnend, für die Temperatur aber die gute, richtige Vermengung (εὐκρασία), das heißt, das Beisammensein von Mittelmaß und Äußerstem charakterisiert den Typ des Melancholikers. Beides schließt sich nicht aus. So steht in der Nikomachischen Ethik zum Beispiel (in einem anderen Zusammenhang): »[D]er Hochsinnige stellt sich durch das hohe Maß der Selbsteinschätzung auf steile Warte. Insofern dieses Maß jedoch ein richtiges ist, trifft er die Mitte«.7 Und ebenfalls Aristoteles ist es, der über das Himmelszelt schreibend bemerkt: »Das Äußerste und der Mittelpunkt sind seine Grenzen«.8 Und ob den Melancholiker eigentlich nicht das charakterisiert, was zugleich Äußerstes und Mittelpunkt ist? Doch bedeutet dies bei Weitem keine unbedingte, friedliche Harmonie: Das Auf und Nieder zwischen den beiden schafft das Gleichgewicht, welches das Zustandebringen von großen Werken und Taten ermöglicht, doch dieses Schwanken macht auch ein beständiges Überschreiten der Grenzen unvermeidlich, ohne das große Werke und große Taten ebenfalls unvorstellbar wären. Die Ordnung des Kosmos wird so vom Melancholiker in einer beständigen Verletzung dieser Ordnung erahnt. Wer daher ein Melancholiker ist, ist keinesfalls eine durchschnittliche Persönlichkeit – aber auch seine Überdurchschnittlichkeit bedeutet nicht, dass er krank sei, ganz im Gegenteil: Wenn man so will, ist er zu gesünderem Leben fähig als der Durchschnitt. Die Kriterien dieser »herausragenden Gesundheit« (vom Standpunkt der Nüchternheit her gesehen: Krankheit) sind jedoch andere als die der durchschnittlichen Gesundheit.
Außerordentliche Persönlichkeiten sind die Melancholiker: Doch was ist es, worin sich diese Außerordentlichkeit zeigt? Darauf gibt Aristoteles keine Antwort, benennt jedoch einige sich allgemeiner Bekanntheit erfreuende Persönlichkeiten, die er für Melancholiker hält: Aias, Sohn des Telamon, Bellerophontes, Herakles, Empedokles, Platon, Sokrates und Lysander. Die drei Erstgenannten sind Helden der griechischen Mythologie, die nächsten drei Philosophen, und der Letztgenannte ist Politiker (Staatsmann). Worin sie gleich auf den ersten Blick übereinstimmen, das ist die übermenschliche Leistung, die sie vollbracht haben. Die Aufgaben von Herakles sind bekannt; ebenso die Gedankenwelten von Platon, Sokrates und Empedokles. Lysander hat den höchsten Gipfel der Macht erklommen, der zu seiner Zeit erreichbar war, Bellerophontes von Korinth hat über die Chimaira, die Solymer und die Amazonen den Sieg errungen. Aias aber, der Sohn des Telamon, König von Salamis, war einer der stärksten, ausgezeichnetsten Krieger des gegen Troja kämpfenden Heeres. Gemein haben sie die Größe, den Heldenmut, die Außerordentlichkeit – aber nicht nur das: Ihre Überdurchschnittlichkeit zeigt sich auch an den Schattenseiten ihrer Lebensläufe.
Aias erhielt noch in seiner Kindheit von Herakles die Gabe der Unverwundbarkeit. Nachdem man ihn aber, seinem Gefühl nach unrechtmäßig, der Waffen des gefallenen Achilles beraubt hatte und sie dem verschlagenen Odysseus zukommen ließ, wurde sein Geist verwirrt. Er schwor sich gegen die Griechen Rache, aber Athene trübte sein Augenlicht, und statt unter seinen Kameraden richtete er unter den in der Nähe weidenden Schafen ein Blutbad an. Als er wieder zu sich kam, war er außerstande, diese Schande zu ertragen, und beging Selbstmord. Aias, »den gefangen hält ein unnahbares Schicksal«,9 so Sophokles, trug die menschliche Natur in sich, doch war diese nicht das Maß seiner Sehnsüchte. Als stärkster Krieger übertraf er alle; wies Athenes Hilfe, darauf vertrauend, dass ihm das Kampfesglück aus eigener Kraft heraus hold sei, zurück. Diese Kraft, das herausragende Heldentum, isolierte ihn aber auch von den anderen; daher der Spott, den sie ihm angedeihen ließen, das Unverständnis, das ihn umgab. Es war nicht sein Verstand, sondern seine körperliche Kraft, die ihn berühmt gemacht hatte, und dennoch, der Überschwang an körperlicher Kraft hat ausgereicht, dass »einsam weidend in seinem Sinn«,10 wie er war, irgendetwas ihn leicht erschüttern und zu Fall bringen konnte. Denn »er liegt da, krankend an düsteren Stürmen«,11 sagen die Kameraden über den nun im Wahnsinn wütenden Aias, der, wieder zu sich kommend, erkennt, dass seine Welt unrettbar erschüttert worden ist: Die körperliche Würde vereint sich hier mit Nichtigkeit. (Ist es denn nicht als Schwäche anzusehen, wegen irgendwelcher Waffen verrückt zu werden?) Doch ist die geistige Schwäche auch ein Zeichen der Maßlosigkeit: Wer so sehr Sehnsucht empfinden kann und auch so sehr in Aufruhr zu geraten vermag, dass ihn der Wahnsinn packt, der muss auch die gewohnte Ordnung der Welt für nichtig halten. Seine Ehre hat er nicht nur gegenüber den Menschen verloren, sondern auch den Göttern gegenüber, die den Wahnsinn auf ihn herabließen. Aus Aias Sicht kann man seinen Zustand aber auch so verstehen, dass die Menschen für ihn im selben Maße aufgehört haben zu existieren, wie sie für ihn an Wichtigkeit verloren haben, und so auch die Götter. Legen wir ihm die Worte des Sophokles in den Mund: »Bin ich doch nicht mehr wert, / Weder zu der Götter Geschlecht noch dem / Der Tageswesen nach Hilfe zu schauen, der Menschen«.12 Er hat seine Beziehungen zur irdischen wie zur göttlichen Welt verloren, er befindet sich außerhalb des Alls. Εκστατικὸς ἐγένετο, sagt Aristoteles; einen ekstatischen Zustand erlangend, gelangt er aus sich selbst heraus. Die innere Störung, die mit einer Auflösung der Weltordnung einhergeht, treibt ihn zum Selbstmord.