Krallenspur

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Krallenspur
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Inhaltsverzeichnis

Titel

Widmung

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Lara Seelhof

Krallenspur


Für meine Mutter,

die mir eine fantasievolle Kindheit gezaubert

und mich in meiner Liebe zu Büchern

immer bestärkt hat.

Ebook-Konvertierung: Tomfloor Verlag

Umschlagzeichnung: Elif Siebenpfeiffer

http://www.elifsiebenpfeiffer.de

Umschlagrechte: © 2017 Lara Seelhof

Umschlaggestaltung: Tomfloor Verlag

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche

Zugänglichmachung.

ISBN 978-3-9818519-1-5 (Epub)

ISBN 978-3-9818519-2-2 (mobi)

ISBN der gedruckten Taschenbuch-Ausgabe 978-3-9818519-6-0

ISBN der gedruckten Hardcover-Ausgabe 978-3-9818519-0-8

Tomfloor Verlag T. Funk

Alex-Gugler-Straße 5 83666 Waakirchen

https://tomfloor-verlag.com

Kapitel 1

Es war das typische Samstagabendpublikum, das in der langen Schlange vor dem Underground, dem In-Club Hanlays, ungeduldig auf Einlass wartete. Da waren reiche Schnösel in maßgeschneiderten Designeranzügen mit ihren attraktiven Begleiterinnen, Frauencliquen in aufreizenden Outfits und Typen, die versuchten, möglichst cool zu wirken, von denen die meisten aber schon reichlich betrunken waren. Und verständlicherweise zeigten sie sich alle nicht erfreut, als er lässig an ihnen vorbei auf den Eingang zuspazierte.

»Hey, stell dich gefälligst hinten an, du Idiot! Vordrängeln is’ nicht. Der glaubt wohl, er ist was Besseres.«

Er ignorierte das wütende Gemurmel. Genauso wie die schadenfrohen Kommentare von denen, die offenbar damit rechneten, dass ihn der finster dreinblickende Türsteher ebenso abblitzen lassen würde wie all die anderen Glücklosen an diesem Abend. Er konnte sich ihre Enttäuschung vorstellen, als ihm der glatzköpfige Riese, der sich mit verschränkten Armen vor dem Eingang aufgebaut hatte, auf sein kaum merkliches Nicken hin höflich die verspiegelte Tür aufhielt.

Die wummernden Bässe waren noch erträglich, als er den Eingangsbereich durchquerte. Im Hauptraum des Clubs änderte sich das allerdings schlagartig. Grell zuckende Lichtblitze empfingen ihn, untermalt von ohrenbetäubend hämmernden Technobeats.

Während er die Treppe hinunterstieg, ließ er seinen Blick flüchtig durch den verspiegelten Raum schweifen. Der Laden war voll. Am Rand der Tanzfläche war das Gedränge am schlimmsten. Hier hatte selbst er Mühe, sich seinen Weg durch die feierwütigen Clubgäste zu bahnen, trotz seines breiten Kreuzes und seiner eins neunzig.

Er schob sich gerade an einer Gruppe von Anzugträgern vorbei, die zwei ihrer Freunde mit lautstarken Rufen zum Wetttrinken anfeuerten, als er einen heftigen Rempler in seiner Seite spürte. Einer der Kerle brüllte ihm etwas zu, das normalerweise im Krach untergegangen wäre. Doch er hatte die Beleidigung sehr genau verstanden. Es war offensichtlich, dass der angetrunkene Mann Streit suchte. Allerdings hatte er nicht die Absicht, sich darauf einzulassen. Ohne sich weiter um den Betrunkenen zu kümmern, drängte er sich an ihm vorbei - doch er kam nicht weit.

Er wich dem Schlag aus, packte seinen Angreifer jedoch an der Kehle. Während er ihn ohne jede Anstrengung hochhob und von sich weghielt, sah er ihm in die Augen. Die Pupillen des Mannes weiteten sich, hilflos zappelte er mit Armen und Beinen in der Luft. Unsanft ließ er ihn wieder herunter, aber noch bevor der Mann sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte, kamen zwei seiner Freunde auf die dumme Idee, sich einmischen zu müssen. Beide landeten auf der Tanzfläche, direkt zu Füßen einer üppigen Blondine. Und wie zuvor den Betrunkenen, fixierte er auch die beiden Kerle am Boden kurz, bevor sein Blick die übrigen Männer der Clique streifte. Nein. Die hatten ihre Lektion offenbar gelernt, starrten ihn zwar wütend an, machten aber keinerlei Anstalten, sich zu rühren.

So ist's brav, Jungs!

Ein entschuldigendes Zwinkern in Richtung der erschrocken dreinblickenden Blondine, dann tauchte er auch schon zurück in das Gewühl und gelangte ohne weiteren Zwischenfall in den hinteren Teil des Clubs, wo sich die Toiletten befanden. Doch die waren nicht sein Ziel, sondern eine Tür, auf der »Privat« stand.

In dem schmalen, schäbigen Flur dahinter gab es keine verspiegelten Wände und statt aufwendiger Lichteffekte hing hier nur eine einzelne nackte Glühlampe von der Decke. Der Vorhang, der das Putzzeug in der Nische gegenüber verdecken sollte, war nur zur Hälfte zugezogen und anstelle von Eimer und Besen streifte sein flüchtiger Blick eine junge Frau und ihren Freund. Der Typ musste das Mädchen stützen, weil es anscheinend zu betrunken war, um alleine stehen zu können, aber ihn schien das nicht weiter zu stören. Er küsste sie leidenschaftlich.

Der Platz war klug gewählt und für jemanden, der die beiden zufällig entdeckte, sah es so aus, als würde es hier gleich zur Sache gehen. Und das würde es auch, aber das ging ihn nichts an. Nicht solange es keine Folgen hatte und niemand von den anderen Gästen mitbekam, was dort in Wahrheit ablief.

Als sich der Kerl ihrem Hals näherte, war er bereits an der Treppe, die in den Keller führte. Der Angestellte, der sie bewachte und ein Zwillingsbruder des Türstehers vor dem Club hätte sein können, machte ihm erwartungsgemäß auf die gleiche wortkarge, aber zuvorkommende Weise Platz.

Am Ende der Steintreppe angekommen, öffnete er die Metalltür und modriger Geruch schlug ihm entgegen. Wieder spendete eine verstaubte Glühlampe dürftiges Licht. Er wandte sich nach links und folgte dem Gang, bis er von einem Holzregal gestoppt wurde, in dem sich allerlei Gerümpel stapelte. Zwischen staubigen Kisten, Stricken und stockfleckigen Tüchern stand im obersten Fach ein Weidenkorb, gefüllt mit leeren Flaschen. Sie klirrten leise, als das Regal nach einem kurzen Druck auf eins der Astlöcher zur Seite glitt. Als es sich von selbst wieder hinter ihm schloss, sah er nicht zurück, sondern durchquerte bereits den Lagerraum, die Tür auf der gegenüberliegenden Seite im Blick.

Sollten sich Clubgäste trotz aller Vorsichtsmaßnahmen doch bis hierher verirren, würde sie hinter der einfachen grauen Metalltür – bereits sie war eine perfekte optische Täuschung – nur ein weiterer Raum mit Kisten und alten Möbeln erwarten. Doch wie alle Eingeweihten sah er den riesigen Messingtürklopfer, der die Form eines Wolfsschädels hatte, ergriff ihn und ließ ihn gegen das edel polierte Eichenholz schlagen, aus dem die Tür tatsächlich war. Ohne eine Antwort abzuwarten, trat er ein.

 

Der blutrote dicke Teppich schluckte jedes Geräusch, als er gemessenen Schrittes das Arbeitszimmer durchquerte. Er hatte erwartet, Gealdor an seinem Schreibtisch vorzufinden, doch der hochgewachsene, schwarzhaarige Mann stand vor dem Kamin. Er schien sein Eintreten gar nicht bemerkt zu haben, denn er wandte ihm weiterhin den Rücken zu und starrte in das flackernde Feuer vor sich.

Wortlos blieb er hinter ihm stehen. Er zögerte kurz, doch dann neigte er den Kopf und beugte sein Knie. Bei seinem Eintreten hatte er sich nicht in dem Raum umgesehen und auch jetzt tat er es nicht. Gealdor hatte ihn schon einmal in seinem elegant möblierten Arbeitszimmer mit der hohen Decke und den silbernen Kerzenleuchtern empfangen. Schweigend hielt er den Kopf gesenkt und verharrte in seiner knienden Position geduldig, bis Gealdor ihn mit einer lässigen Handbewegung anwies, sich zu erheben. Während er sich aufrichtete, drehte sich auch der Mann endlich zu ihm um und dabei blitzten die Silberstickereien auf seinem weißen Seidenkaftan im Kerzenlicht auf.

Gealdor besaß einen ausgesprochen extravaganten Geschmack, aber - ob er ihn nun teilte oder nicht - er musste zugeben, dass er einem gut aussehenden Mann gegenüberstand. Der dunkle Bart betonte Gealdors markante Züge und sein glattes schwarzes Haar trug er inzwischen länger als bei ihrer letzten Begegnung. Es musste ihm bis auf die Schultern reichen, wenn er es nicht wie jetzt mit einem schwarzen Lederband zusammengebunden hatte. Als der Mann seine schmalen Lippen zu einem Lächeln verzog, erschienen unzählige kleine Lachfältchen um seine Augen, und er fühlte sofort den bohrenden Schmerz, denn diese lachenden Augen gehörten doch eigentlich jemand anderem. Jemandem, den er vor sehr langer Zeit verloren hatte.

Doch er zwang sich, seine unbewegte Miene aufrechtzuerhalten, und Gealdor bemerkte sein Unbehagen offenbar nicht. Noch immer lächelnd trat er zu ihm und umarmte ihn.

»Wunderbar, dass du so schnell kommen konntest. Ich fürchtete schon, du wärst zu beschäftigt.«

»Kein Problem.«

Schnell löste er sich aus der für ihn unangenehmen Umarmung und stellte erleichtert fest, dass seine Stimme genauso gleichgültig klang, wie er es beabsichtigt hatte. »Mein Auftrag war bereits erledigt, als ich Eure Nachricht bekam …« Ein zynisches Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Sein Handy hatte genau in dem Moment vibriert, als er das Blut von der Klinge abgewischt hatte. »… und ich hatte den Eindruck, es wäre dringend, Êvrîssê.«

»Allerdings. Das ist es. Aber warum denn so förmlich, mein Lieber?« Gealdors Lächeln wurde eine Spur breiter. »Wir sind doch verwandt.«

»Nun … Ihr seid aber auch ein Mitglied des GraMaars, Êvrîssê …«

Natürlich war das ein Vorwand. Er wusste es und der jüngere Bruder seines Vaters wusste das auch.

»Von mir aus. Wenn du darauf bestehst … Karganî.« Der Spott in Gealdors Stimme war unüberhörbar. »Aber nun genug der Höflichkeiten, ich habe einen Auftrag für dich.«

»Habt Ihr vergessen, für wen ich arbeite?« Seine Stimme klang schärfer, als er es beabsichtigt hatte.

Doch sein Onkel blieb gelassen. »Keineswegs. Die Anordnung stammt selbstverständlich vom GraMaar. Ich wurde in diesem sehr speziellen Fall nur mit der Weitergabe an dich beauftragt.« Er machte eine Pause, als erwartete er eine Reaktion von ihm. Als sie ausblieb, fuhr er fort: »Der Auftrag ist von größter Wichtigkeit und … er muss schnellstens erledigt werden.«

Er war ein aufmerksamer Beobachter und ihm entging nicht, dass sich die Stimmung seines Onkels verändert hatte. Er wirkte jetzt angespannt.

»Außerdem erfordert die ganze Sache absolute Verschwiegenheit. Es ist von allergrößter Bedeutung, dass niemand außerhalb dieser Mauern etwas von unserer Unterredung erfährt. Hast du das verstanden?« Gealdors Stimme klang jetzt geradezu beschwörend.

Es war überflüssig, so etwas von ihm zu verlangen. Er sah auf seinen Arm herab, an dem sich sein Onkel in seiner Erregung festgeklammert hatte, und hob eine Augenbraue.

»Verzeih«, murmelte Gealdor und zog hastig seine Hand zurück. »Aber es wäre fatal, wenn irgendetwas von dem hier nach außen dringt. Irgendwelche dummen Gerüchte … das wäre eine Katastrophe.« Nervös fuhr er sich mit seinen schlanken, blassen Fingern über sein bärtiges Kinn. »Also, kein Wort über Zolandras Prophezeiung. Zu niemandem!«

Zolandra. Verdammt! Natürlich war sie darin verwickelt.

»Und … was besagt diese Prophezeiung?« Er hatte gelernt, seine wahren Gefühle zu verbergen, und gerade jetzt war er sehr dankbar für diese Fähigkeit.

»Nun … ich war der Erste, der davon erfuhr, und natürlich habe ich sofort den Rat informiert. Es geht um eine Tarsûanî und den GraMaar. Das Ganze hört sich vielleicht absurd für dich an, besonders da Zolandra keine Details sehen konnte, aber sie ist sich sicher, dass diese Tarsûanî den Rat vernichten wird. Und du weißt selbst - sie irrt sich nie.«

Er erwiderte den prüfenden Blick seines Onkels gelassen und dadurch offenbar ermutigt, fuhr Gealdor fort: »Und es wird nicht mehr sehr lange dauern, bis sich ihre Weissagung erfüllt. Es wäre also mehr als unklug, sie zu ignorieren oder Zeit zu verschwenden.«

Wie wäre es dann, wenn du endlich aufhören würdest, meine zu verschwenden?, dachte er.

»Daher hat unser ehrenwerter Vorsitzender auch entschieden, dich mit dieser Aufgabe zu betrauen. Und ich habe ihm selbstverständlich zugestimmt. Schließlich bist du der Beste.«

»Und wie lautet mein Auftrag?«, erkundigte er sich und sein Tonfall klang beinahe gelangweilt. Er wusste, dass sein Onkel ihm mit dieser Bemerkung kein Kompliment machen wollte. Es war einfach nur eine Tatsache und auch wenn sie einander normalerweise nicht sehr schätzten, war sogar Gealdor klug genug, in diesem offenbar brisanten Fall kein Risiko einzugehen.

»Oh, sagte ich das noch nicht?« Sein Onkel wirkte einen Moment irritiert. »Du wirst die Tarsûanî finden und eliminieren!«

Wieder zuckte seine Augenbraue nach oben. »Ihr verlangt, dass ich eine Tarsûanî töte?«

»Ja.«

»Nur weil Zolandra behauptet, sie könne eine Gefahr für den GraMaar werden, ohne dass sie tatsächlich etwas Genaueres darüber weiß?«

»Wage es nicht, die Weissagung einer Augurin anzuzweifeln. Das ist Hochverrat!« Gealdors Stimme klang plötzlich schrill. »Außerdem wünsche nicht ich ihren Tod, der GraMaar befiehlt es!«

»Aber es ist gegen unsere Gesetze, eine Tarsûanî ohne Beweis ihrer Schuld zu töten, und diese Prophezeiung ist kein Beweis für mich. Ihr wisst, dass die Zukunft sich jederzeit ändern kann.« Er sagte das vollkommen ruhig, doch auf der Stirn seines Onkels erschien eine steile Falte, die den Unmut über den Widerspruch deutlich verriet.

»Es steht dir nicht zu, über diese Tatsache zu urteilen, Krieger!«, fuhr Gealdor ihn mit harter Stimme an. »Die Tarsûanî ist eine Bedrohung und du wirst tun, was man von dir verlangt. Als GraMaarianer bist du dem Rat gegenüber verpflichtet, vergiss das nicht, Karganî!«

Jetzt musste er sich doch zwingen, nicht die Fäuste zu ballen. »Ich habe bei meinem Leben geschworen, dem GraMaar zu dienen, und das tue ich auch. Immer. Das solltet Ihr nicht vergessen … Êvrîssê!« Diesmal verwendete er den Titel nicht mit der gebotenen Höflichkeit. Er wusste, dass es ihn den Kopf kosten konnte, doch er hasste es, wenn man seine Loyalität infrage stellte.

Sein Onkel schien darüber erstaunlicherweise jedoch nicht verärgert. »Aber sicher wirst du das. Ich habe nichts anderes von dir erwartet. Und sei beruhigt, es ist in diesem besonderen Falle auch nicht gegen das Gesetz. Du erhältst von unserem ehrenwerten Vorsitzenden, stellvertretend durch mich, alle erforderlichen Befugnisse dafür. Eine Generalvollmacht sozusagen. Und natürlich ausreichende finanzielle Mittel.«

Eine Generalvollmacht und genug Geld? Schon allein das war ungewöhnlich. Und dann auch noch übermittelt durch seinen Onkel? Normalerweise erhielt er seine Befehle doch ausschließlich von Corvinius?

»Du bist genau der Richtige für das Problem. Ich wusste, ich kann mich auf dich verlassen.« Gealdor beugte sich vor und klopfte ihm vertraulich auf die Schulter.

Erneut fühlte er sich bei der Berührung unbehaglich und war erleichtert, als sich sein Onkel abwandte, um zu dem kleinen Tisch hinüberzugehen.

»Und der GraMaar weiß das natürlich auch. Du wirst den Auftrag zu unserer Zufriedenheit erledigen und darauf sollten wir anstoßen, meinst du nicht?« Er nahm eine der kostbaren Glaskaraffen und entfernte den gläsernen Stopfen. Als die goldene Flüssigkeit den Boden des schweren geschliffenen Kristallglases berührte, stieg ein kaum wahrnehmbarer Nebelhauch auf. Gealdor sog ihn genüsslich ein. »Ein köstlicher Tropfen! Leider nicht legal, aber was soll’s.«

Er füllte ein weiteres Glas, nahm es und hielt es ihm einladend hin. »Komm, trink einen Schluck mit mir, und dann weihe ich dich in die Einzelheiten ein. Wie ich schon erwähnte, Zolandra konnte uns nicht viel über die Tarsûanî sagen, aber das dürfte doch kein großes Problem für dich sein, nicht wahr?« Sein Onkel lächelte, doch der harte Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass der GraMaar kein Versagen dulden würde.

Doch darüber machte er sich keine Gedanken, während er das Glas entgegennahm. Auch nicht über die verbotene Substanz, die es enthielt, oder dass der GraMaar tatsächlich in Gefahr sein könnte. Ihn beunruhigte etwas ganz anderes.

»Und wie geht es dem guten Corvinius?«, erkundigte er sich scheinbar beiläufig, während er das Kristallglas in seiner Hand nachdenklich betrachtete.

»Oh gut, gut. Ausgezeichnet. Ich weiß, normalerweise hätte er dich über deinen Auftrag informiert, aber er ist in dringenden Geschäften unterwegs und wird erst in einigen Wochen zurückkehren. Unser ehrenwerter Vorsitzender hat daher auch darauf verzichtet, ihn mit dieser Angelegenheit zu behelligen. Wie gesagt, je weniger davon wissen, umso weniger besteht Gefahr, dass etwas davon bekannt wird. Nur so können wir eine Panik oder mögliche Unruhen verhindern. Wir brauchen unter allen Umständen eine stabile Ordnung, verstehst du?« Gealdors Blick fiel auf das unberührte Glas in seiner Hand. »Du trinkst ja gar nicht. Glaub mir, es ist exquisit. Ganz frisch.«

Es stimmte, der Duft war mehr als verlockend und es war schon eine Weile her, dass man ihm so etwas Ausgezeichnetes angeboten hatte. Und was sein Onkel gesagt hatte, klang eigentlich logisch. Wer konnte ihn sonst informieren, wenn Corvinius nicht zur Verfügung stand und niemand davon erfahren sollte? Dass sein Verhältnis zu seinem Onkel kompliziert war, interessierte den Rat natürlich nicht.

Also durfte es auch für ihn bei diesem Auftrag keine Rolle spielen.

Entschlossen setzte er das Glas an die Lippen und leerte es mit einem kräftigen Zug.

Kapitel 2

»Celia! Huhu! Hier sind wir!«

Meine Freundin brüllte so laut über die Köpfe der anderen Schüler hinweg, dass diese erschrocken zusammenzuckten. Ich musste grinsen, denn gleichzeitig winkte sie so heftig wie eine Ertrinkende, die ein vorbeifahrendes Schiff auf sich aufmerksam machen wollte und dieses Schiff war eindeutig ich. Ich hob den Arm, damit sie wusste, dass ich sie bemerkt hatte. Als könnte man Abby Mitchell übersehen.

Während ich mich durch das Gedränge zu ihr vorarbeitete, musste ich daran denken, wie ich ihr das erste Mal begegnet war.

Wir waren beide erst fünf gewesen, aber sie hatte mutig, nämlich unter Androhung einer handfesten Prügelei, einen wesentlich älteren Jungen auf dem Spielplatz davon abgehalten, mir lebende Regenwürmer in den Mund zu stopfen. Von dieser Sekunde an waren wir nicht nur beste Freundinnen, ich kam auch in den Genuss, an ihren zahlreichen verrückten Ideen teilzuhaben.

Mit neun zum Beispiel weigerte sie sich plötzlich, vorwärtszugehen. Sie hielt den Rückwärtsgang eisern durch, bis sie über eine Stufe stolperte und sich den Fuß brach. Drei Tage nach ihrem elften Geburtstag schnitt sie sich sehr zum Ärger ihrer leidgeprüften Mutter ihr blondes langes Haar ab. Stolz und immun gegen alle spöttischen Kommentare trug sie es ein Jahr lang kurz und karottenrot. Mit dreizehn stach sie sich selbst ein Tattoo und ich werde nie den Blick von Mr. Mitchell vergessen, als er zufällig den eigenwillig tätowierten Skorpion am Knöchel seiner Tochter entdeckte. Zu diesem Zeitpunkt beschloss sie auch, Vegetarierin zu werden, weil ihr die armen Tiere leidtaten.

 

Letztes Jahr, und das betrachtete ich als den absoluten Höhepunkt in Abbys Liste durchgeknallter Ideen, wären wir bei dem Versuch, ebensolche armen Tierchen aus einem Versuchslabor zu retten, beinahe auf dem Polizeirevier gelandet. Zum Glück ging die Alarmanlage jedoch los, ehe wir überhaupt über den Zaun geklettert waren.

Seit einigen Wochen hatte sie nun ihre okkulte Phase. Auf ihrem Nachttisch stapelten sich alle möglichen Bücher über Magie, sie trug nur noch schwarze Klamotten und hatte bereits jedem aus unserer Clique die Karten gelegt. Bei dem Gedanken an meine »Prophezeiung« musste ich wieder grinsen. Mal sehen, wann dieser geheimnisvolle Unbekannte auftauchte, in den ich mich verlieben würde.

»Hey C.« Sie umarmte mich. Heute hatte sie sich für ihren Lieblingsrock, Stiefel und eine kurze Jacke entschieden. Natürlich alles in Schwarz. Und Netzstrümpfe.

Na hoffentlich gab das keinen Stress mit Direktor Wilcox.

»Hallo Celia. Hübscher Pulli!«, begrüßte mich Kathy, ein weiteres Mitglied unserer Clique, ehe sie sich wieder ihrer Freundin Sandra zuwandte, die gerade die Story eines Italieners zum Besten gab, den sie während ihrer Ferien in Europa kennengelernt hatte. Erstaunlicherweise war Sandra, die vom Äußeren her dem Klischee eines kalifornischen Beachgirls entsprach – braun gebrannt, sportliche Figur und lange, goldblonde Haare -, vom Temperament viel zurückhaltender als die quirlige und immer gut gelaunte Kathy, die koreanische Wurzeln hatte.

Wie ich trugen auch sie ganz normale Sachen - Jeans, Pulli und Ballerinas -, sodass Abby neben uns noch einen Tick schriller wirkte.

»Ich dachte schon, du hast verschlafen«, lenkte meine Freundin meine Aufmerksamkeit wieder auf sich und zupfte eine ihrer kurzen, in alle Himmelsrichtungen abstehenden und inzwischen ebenfalls pechschwarz gefärbten Haarsträhnen in Form.

Ein Blick auf die Uhr bestätigte mir, dass ich tatsächlich ziemlich spät dran war.

»Das liegt nur an Grandma. Sie wollte unbedingt, dass ich noch frühstücke«, rechtfertigte ich mein verspätetes Auftauchen am ersten Schultag nach den Ferien.

»Oh ja, das kenn ich.« Abby verdrehte wissend die Augen. »Mum lässt uns auch nie ohne aus dem Haus. Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit des Tages«, imitierte sie beinahe perfekt den mahnenden Tonfall ihrer Mutter.

»Aber ich scheine nicht die Einzige zu sein, die spät dran ist.« Ich blickte mich suchend um.

»Die Jungs sind auch noch nicht da«, bestätigte meine Freundin. »Die haben garantiert gestern Abend das Ferienende zu heftig gefeiert und liegen noch in ihren Bettchen.«

»Von wegen Bettchen«, meldete sich prompt eine Stimme, die eindeutig Tyler gehörte. »Wir waren schon vor euch da.« Wie aus dem Nichts stand er hinter uns, dicht gefolgt von seinem Busenfreund.

»Du sagst es, Mann. Brauchten nur dringend noch was zu beißen. Magst du?« Doug hielt Abby grinsend sein Schinkensandwich unter die Nase, die erwartungsgemäß angewidert das Gesicht verzog.

»Weißt du nicht, dass zu viel Fleisch total ungesund ist?«, murmelte sie pikiert.

»Quatsch, ungesund. Das ist pure Energie. Eiweiß, verstehst du? Als Leistungssportler braucht man das«, widersprach Doug ihr schmatzend und klopfte sich stolz auf seine breite Brust.

Er überragte uns deutlich und erinnerte mich immer ein bisschen an einen Grizzlybären. Keine Ahnung, warum, denn dieser »Bär« hier hatte hellblonde, kurz geschorene Haare und jede Menge Sommersprossen auf seiner knolligen Nase, die schon etliche Male gebrochen worden war. Er war Linebacker in unserer Footballmannschaft und deswegen ständig in irgendwelche Auseinandersetzungen mit dem gegnerischen Quarterback verwickelt. Zusammen mit Tyler hing er immer mit uns rum.

»Stimmt’s nicht, Ty?« Doug klopfte seinem Kumpel, der ebenfalls an seinem Sandwich kaute, so derb auf die Schulter, dass dieser sich prompt verschluckte.

»Genau … grrch … Kumpel«, keuchte Tyler und hustete heftig, während sich die Farbe seines Gesichts bedrohlich dem Rotton seiner Haare annäherte.

Er war einen halben Kopf kleiner als Doug, nicht so muskulös, dafür aber drahtig und wendig, was ihm auch seine Position in der Mannschaft beschert hatte, Wide Receiver. Als schnellster Spieler auf dem Feld war es seine Aufgabe, die Bälle des gegnerischen Quarterbacks abzufangen und damit davonzusprinten. Auch seine für einen Jungen erstaunlich zierliche Stupsnase hatte schon einiges abbekommen. Wenn er nicht gerade zu ersticken drohte, war seine Haut blass und wie Dougs mit einem wirren Haufen Sommersprossen übersät.

»Leistungssportler, pah!«, schnaubte Abby missbilligend und setzte schon zu einem ihrer Vorträge über die Auswirkungen übertriebenen Fleischkonsums an, als der Schulgong sie unterbrach.

Eilig sammelten wir unsere Taschen und Rucksäcke ein und verabredeten uns für die Mittagspause in der Schulcafeteria, ehe wir in unterschiedliche Richtungen aufbrachen.

Wenig begeistert machte ich mich gemeinsam mit Kathy auf den Weg zu unserem Unterrichtsraum. Mathematik bei Mrs. Brewster und das am Montagmorgen in der ersten Stunde nach den Ferien, das war eindeutig die Höchststrafe.

Ich war mir sicher, dass der Montag nicht unbedingt mein Lieblingstag der Woche werden würde.

Es wurde auch nicht besser, als ich mich neben Kathy in der zweiten Reihe niederließ. Warum waren wir bloß so spät gekommen? Nun waren nur noch Plätze in den ersten beiden Reihen frei. Weiter hinten und außer Reichweite der gestrengen Lehreraugen hätte ich mich sehr viel wohler gefühlt. Aber ich war offensichtlich nicht die Einzige, die so dachte.

Genervt hob ich meinen Rucksack hoch, angelte nach meinem Ordner und dem Block, aber als ich mich auf die Suche nach meinem Kugelschreiber machen wollte, ließ mich Kathys lautes Schnaufen wieder aufschauen. Sie hockte mit offenem Mund da und als ich ihrem Blick zur Tür folgte, blieb auch mir die Luft weg.

Oh Mann! Sie hatte vollkommen recht. Der Typ war einfach … der Hammer!

Zum Glück war mein Mund wenigstens noch geschlossen, auch wenn ich ansonsten bestimmt genauso dumm guckte wie Kathy. Doch der Neue schien gar nicht zu bemerken, dass ihn jeder im Raum anstarrte.

»Guten Morgen, Herrschaften!«

Nicht nur ich zuckte bei Mrs. Brewsters durchdringender Stimme zusammen. Unbemerkt von uns allen war sie hereingekommen, stellte schwungvoll ihre Tasche auf den Tisch und begann ohne Umschweife mit ihrem Unterricht.

»Wie Sie sich sicher vorstellen können, haben wir in diesem Schuljahr wieder jede Menge Arbeit vor uns. Wir werden in den kommenden Wochen …« Was die gute Brewster genau für uns geplant hatte, bekam ich allerdings nicht mehr mit.

Da dem Neuen nur noch die Reihe vor uns geblieben war, saß er jetzt direkt vor meiner Nase und ich konnte gar nicht anders, als ihn anzustarren, denn aus der Nähe sah er noch heißer aus.

Er war groß und durchtrainiert, aber nicht auf diese übertriebene Art wie Doug, der fast jede freie Minute außerhalb des Spielfeldes seine Muskeln stählte. Dem Neuen schien sein Aussehen wohl eher egal zu sein, denn sonst hätte er kaum eine zerrissene Jeans und ein verwaschenes T-Shirt, das irgendwann einmal schwarz gewesen sein musste, für den ersten Schultag ausgesucht.

Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Direktor Wilcox von seiner Kleiderwahl sonderlich begeistert gewesen war. Vermutlich ebenso wenig wie von seinem lässigen Dreitagebart und den Haaren, die ihm bis weit in den Nacken reichten und nach Schulordnung eindeutig zu lang waren.

Ich unterdrückte ein Seufzen. Man würde ihn garantiert zwingen, sie abzuschneiden und sich anständig zu rasieren, was echt schade war, denn genau dieser nachlässige Look ließ ihn doch so verflixt cool aussehen. Auch jetzt hingen ihm Haarsträhnen in den Augen, während er scheinbar aufmerksam verfolgte, was Mrs. Brewster an die Tafel schrieb.

Vorsichtig sah ich mich um und stellte fest, dass ich die Einzige war, die sich nicht für den Unterrichtsstoff interessierte. Eigentlich kein Wunder. Mrs. Brewster hatte aus gutem Grund den Ruf, die strengste Lehrkraft der Schule zu sein. Aber zum Glück achtete sie nicht auf mich und so würde ich mich weiter meinem speziellen »Studium« widmen können.

Allerdings hatte ER anscheinend gespürt, dass ich ihn beobachtete. Jedenfalls drehte er plötzlich den Kopf und …

Überrascht schnappte ich nach Luft. Es war, als hätte ich einen Stromschlag bekommen, und mir wurde schwindlig. Doch obwohl alles um mich herum verschwamm, sah ich noch immer seine Augen deutlich vor mir. Sie waren grau und der Ausdruck darin alles andere als freundlich. Ich versuchte wegzusehen, aber es gelang mir nicht. Sein eiskalter Blick hielt mich auf eine seltsame Art gefangen.

Es endete abrupt, als mich diese merkwürdige eisige Welle erfasste. Natürlich gab es hier nicht wirklich Wasser, aber es fühlte sich genauso an. Und was auch immer es war, es raubte mir den Atem und riss mich zu Boden. Ich krümmte mich verzweifelt zusammen, während meine Zähne unkontrolliert aufeinanderzuschlagen begannen. Flüssiges Eis schien durch meine Adern zu rinnen und zitternd schlang ich die Arme um meinen Körper, um mich zu wärmen. Doch es half nichts. Ich fror entsetzlich. Aber als ich glaubte, es nicht länger aushalten zu können, verschwand das eigenartige Kältegefühl so plötzlich, wie es gekommen war. Bevor ich aufatmen konnte, geschah jedoch etwas noch viel Schlimmeres. Ich fühlte eine unglaubliche Wut in mir. Nein, Hass. Ich sann auf Rache, aber die Verzweiflung und die entsetzliche Einsamkeit, die gleichzeitig in mir kämpften, raubten mir jede Kraft.

»Nein, bitte nicht, nein …«, hörte ich eine wimmernde Stimme in meinem Kopf und spürte, wie heiße Tränen über meine Wangen liefen. Ich konnte nicht mehr. Bitte, es musste doch endlich aufhören. Es musste einfach …

Aber es gab kein Entrinnen für mich. Die Gefühle verwandelten sich nur in schwarze Rauchschwaden, die höhnisch grinsend um mich herumtanzten und sich dann zu einem riesigen Schleier vereinigten. Ich versuchte, um Hilfe zu rufen, als sich das undurchdringliche finstere Nichts auf mein Gesicht legte und sich den Weg durch meine zusammengepressten Lippen erzwang. Verzweifelt schluckte ich, rang nach Atem, schluckte wieder, würgte … aber es half nichts. Die Schwärze drang tiefer und tiefer, bis in meine Lungen, und dann bekam ich keine Luft mehr …