Buch lesen: «Mein Onkel der Leopardenmann»
KURT ARBEITER
MEIN ONKEL, DER LEOPARDENMANN
REALE UND SURREALE GESCHICHTEN AUS DEM KONGO, TSCHAD UND SOMALIA
Für meine Frau Tina, die mir die Freiheit gibt, loszufahren, und die Liebe, wieder heimzukommen.
Die Drucklegung dieses Werkes wurde unterstützt durch die Abteilung Kultur im Amt der Tiroler Landesregierung.
2017
© Verlagsanstalt Tyrolia, Innsbruck
Umschlaggestaltung: Roberto Baldissera, Agentur für Grafik, Innsbruck
Layout und digitale Gestaltung: Roberto Baldissera
Druck und Bindung: FINIDR, Tschechien
Fotos von Kurt Arbeiter mit Ausnahme von: 8, 12/13, 42 (oben), 46, 68, 116–131, 219 (alle von Roland Reuter)
ISBN 978-3-7022-3626-7 (gedrucktes Buch)
ISBN 978-3-7022-3647-2 (E-Book)
E-Mail: buchverlag@tyrolia.at
Internet: www.tyrolia-verlag.at
INHALT
In wildere Länder
Arm und reich
Geschichten am Ufer des Kwilu
Malheureusement
Guesthouse Melissa
Claas, der Rais und ich
Die Base Navale von Boma
Brigadegeneral Guillaume Baloko Tangala
Ich bin wieder da
Jazz au jardin
Ronde du fleuve
Im Faltboot am Kongo
Kinshasa-Symphonie
Ein Hoffnungsschimmer im „Kolibri“
Rumble in the jungle – der Reitclub von Kinshasa
Der Osterhase hat keine Löffel
Winter in Kitona
Ein hartes Land
Fred hält Hochzeit
Pferderennen mit Prinzessin Electra
Im Mangogarten von Bakarra
Der Halbmarathon von N’Djamena
Die Casa Zoologique von Koundoul
Somalia/Mogadischu
Am Islamischen Gerichtshof
Giancarlo Marocchino
Eine hart umkämpfte Partie
Epilog
Absacker – Labinot Tahiri und Princ Arbert
Anhang
Erkundungsritt am Chari, Tschad
VORWORT
IN WILDERE LÄNDER
MEIN WEG VON DEN ANKLÖPFLERN ZU DEN FLUSSPIRATEN DES KONGO
„Wenn Sie jetzt vier Monate in den Tschad fahren, kann eine Weiterbeschäftigung nicht gewährleistet werden“, sagt der ORF-Landesdirektor zu mir. Das ist eine ziemlich klare Ansage für seine Verhältnisse.
Ich versuche seinen Blick so unerschrocken wie möglich zu erwidern, aber ich bin sicher, er merkt, dass ich schlucke. Ich bin dreiundvierzig an jenem Sommertag des Jahres 2008. Seit fast zwanzig Jahren arbeite ich für den ORF, durfte Fernsehreportagen aus vier Kontinenten machen und habe mir in meiner Heimat einen gewissen Ruf als Reporter und Moderator erworben. Ein Traumjob, für den ich immer dankbar sein werde. Was mich schreckt an jenem Tag, ist die Aussicht auf die kommenden zwei Jahrzehnte als Moderator im Tiroler Jahreslauf: Zuerst kommen die Neujahrsvorsätze, dann gräbt man irgendwo eine neue, uralte Fasnacht aus, es folgen die Ostergräber, später die Tipps für die Bikinifigur, dann Schultüten, Krapfenschnappen und Halloween, und schließlich tasten wir uns schon wieder über die Anklöpfler zum traditionellen Schlusspunkt des Jahres: der Angst der Haustiere vor der Silvesterknallerei. Und jedes Jahr ein neues Album von Andrea Berg, nicht zu vergessen Howard Carpendale. Wenn ich in Pension gehe, wird er neunzig sein: „Hello again!“
„Ich fahre in den Tschad.“
„Alles Gute“, sagt der Landesdirektor, was ich recht anständig von ihm finde.
Natürlich war nicht Howard Carpendale allein ausschlaggebend für den Entschluss, meinen sicheren Job an den Nagel zu hängen und dem Abenteuer nachzujagen. Vielmehr wusste ich von meinen früheren Reportagen in Afrika, dass es Menschen gibt, die zuallerletzt an die empfindsame Psyche ihrer Siamkatze denken, wenn es draußen kracht. Dass es Gegenden gibt, wo die Schultüte kein Thema ist, weil schlicht keine Schule da ist. Dass Menschen hungern, während wir uns über die Feinheiten der F. X. Mayr-Kur den Kopf zerbrechen. Ich habe echte Probleme schon immer spannender gefunden als selbstgebastelte.
Außerdem lockte das Abenteuer: Einbaum statt Rafting-boot, die Sahara statt Beachvolleyball, Regenwald statt Hofgarten, Berggorilla statt Kasermandl. Los geht’s!
Ich habe seither in Friedensmissionen der NATO und der EU im Tschad, im Kosovo, in der Demokratischen Republik Kongo und der Zentralafrikanischen Republik gearbeitet. Die Voraussetzungen habe ich aus meiner Jugend mitgebracht: ich bin Absolvent der Theresianischen Militärakademie und des Jagdkommandos, und ich parliere recht passabel auf Französisch und auf Englisch.
Ich habe in diesen Jahren so ziemlich alles an Abenteuern erlebt, was ich mir vorgenommen hatte, inklusive Flusspiraten, Wüstenfürsten und einem feuerspeienden Vulkan. Ich möchte keinen Tag missen! – Das ist natürlich Blödsinn. Die zwei Tage zum Beispiel, in denen ich in der kongolesischen Minenstadt Mbuji-Mayi unter meinem Moskitonetz gelegen bin, zähneklappernd und von oben bis unten vergiftet von dem nicht mehr ganz frischen Gürteltier, das mir mein Gastgeber aufgedrängt hatte, auf die könnte ich gern verzichten. Und hie und da hatte ich Erlebnisse, die ich gern eintauschen würde gegen ein unverbindliches Interview mit Helene Fischer im gemütlichen Radiostudio.
Heimweh hab ich natürlich auch manchmal gehabt.
(Wer hätte das nicht, wenn er aus dem schönsten Land der Welt stammt, eine bezaubernde Frau und drei prächtige Kinder hat?)
Immer wieder hab ich mich dann hingesetzt und geschrieben. Im Schein einer Öllampe in den Hügeln am Schwarzen Fluss im Kongo, in meinem Zelt im Hof eines Wüstenforts am Rande von N’Djamena oder in der gemütlichen Albanerbar im Militärcamp von Pristina. Geschichten gab und gibt es ja immer genug, und unter meiner Uniformbluse schlägt noch immer das Herz eines Journalisten, der eine gute Story erkennt. Ich habe – mit einer Ausnahme1 – nie für Zeitschriften geschrieben, sondern für meine Familie und meine Freunde. Um sie auf einen Sprung mitzunehmen in das Land, in dem ich gerade war, und ihnen meine neuen Bekannten vorzustellen. Ob das nun der vierzehnjährige Aimé war, der mit seiner selbstgebastelten Gitarre durch die Kneipen von Kinshasa zog, oder der Oberstleutnant Bandundu, dessen Onkel ein leibhaftiger Werleopard war, wie er mir glaubhaft versicherte. Ich bin davon überzeugt, dass die Art und Weise, wie Menschen denken und handeln, weit mehr über ein Land sagt als Wirtschaftsdaten und politische Kommentare.
Manchmal wollte ich meine Leser auch einfach nur zum Lachen bringen mit den verschrobenen Gedanken, die mir eine Winternacht im Kosovo oder der schwefelige Wind am Vulkankrater des Nyiragongo einflüsterte. Die Geschichte vom Osterhasen zum Beispiel, der bei den Berggorillas im Virunga-Nationalpark lebt, habe ich ursprünglich für meine kleinen Neffen geschrieben. Am Ende hatte ich selbst die größte Gaudi dabei. Ab und zu sind es eben auch die kleinen Highlights, über die wir lachen, die unser Umfeld erhellen.
Ich lade Sie ein, die vorliegenden Geschichten einfach so zu nehmen wie meine Lieben daheim: nicht als streng journalistische oder gar wissenschaftliche Berichte, sondern als Schnappschüsse aus geheimnisvollen Gegenden. Schnappschüsse sind nie neutral, sie zeigen selten das große Ganze, und manchmal sind sie ein bisschen verwackelt. Aber sie sind fast immer nah am Geschehen, oft überraschend, beizeiten sogar entlarvend. Und wenn der eine oder andere Sie zum Schmunzeln bringt, haben wir beide schon gewonnen.
Ich verbleibe mit herzlichen Grüßen aus den wilderen Ländern
Ihr ergebener Kurt Arbeiter,
Abenteurer
1„Der Reitclub von Kinshasa“ für die Internationale Reiterrevue
Faustin
ARM UND REICH
DEMOKRATISCHE REPUBLIK KONGO
DIE DEMOKRATISCHE REPUBLIK KONGO IST EINES DER REICHSTEN LÄNDER DER WELT.
Groß wie ganz Mitteleuropa, reicht es von schneebedeckten Bergen im Osten bis zu weißen Stränden im Westen. Dazwischen schattige Wälder, durchzogen von mächtigen, fischreichen Flüssen, fruchtbares Ackerland und fette Weiden. Aber unter der Krume spielt sich’s erst richtig ab: Gold und Edelsteine, Kupfer und Uran, Erdöl und Erdgas.
DIE DEMOKRATISCHE REPUBLIK KONGO IST EINES DER ÄRMSTEN LÄNDER DER WELT.
Dann nämlich, wenn man es an Einkommen, Sicherheit, Bildung, Gesundheitswesen und Infrastruktur misst, wie es der „Human Development Index“ tut, der jährlich von den Vereinten Nationen erstellt wird. Da findet sich dieser fruchtbare, vor Bodenschätzen überquellende Gigant regelmäßig im tiefsten Keller, gemeinsam mit bitterarmen Wüstenstaaten wie Mali, Niger und Tschad.
Warum das so ist, darüber gehen die Meinungen auseinander. „Weil unsere Politiker und Beamten korrupt bis ins Mark und unfähig bis in die Haarspitzen sind“, sagen die einfachen Kongolesen. Mitnichten, sagen die wenigen, denen ihre Eltern eine westliche Ausbildung bezahlen konnten. Die anhaltende Rückständigkeit des Kongo sei vielmehr auf den verheerenden Einfluss des imperialistischen, kolonialistischen Westens zurückzuführen.
Ich habe mich nie auf Diskussionen darüber eingelassen, wo zwischen diesen beiden Polen die Wahrheit liegt. Tatsache ist: nach mehr als fünfzig Jahren Unabhängigkeit gibt es im Kongo immer noch Regionen, größer als Österreich, neben denen sich das „Herz der Finsternis“ ausnimmt wie ein Platz an der Sonne. Landstriche, in denen Mörderbanden ganze Dörfer abschlachten und die abgetrennten Köpfe ihrer Opfer am Straßenrand aufschlichten. Und niemand gebietet ihnen Einhalt. Dafür bräuchte es nämlich eine funktionierende Armee. Und so was hat die Demokratische Republik Kongo nicht. Es gibt nur einen Haufen bewaffneter Müßiggänger namens FARDC, Forces Armées de la République Démocratique du Congo.
FARDC
Um diese Truppe auf Vordermann zu bringen, hat die EU von 2006 bis 2016 die Beratermission EUSEC in den Kongo entsandt. Ihr Auftrag war es, Verwaltung, Ausbildung und Logistik der FARDC zu organisieren und die notwendigste Infrastruktur auf die Beine zu stellen. Ich war von 2013 bis 2015 mit von der Partie. Wir haben Millionen von Euros investiert, in Unterkünfte, Schulen, Computer, Internet und Stromaggregate. Unsere Berater waren in allen Militärregionen unterwegs, um die kongolesischen Kader zu schulen. Einer unserer Schwerpunkte lag darauf, dass die Soldaten ihren Sold und ihre Verpflegung erhalten sollten. Damit haben wir uns allerdings eine starke Gruppe natürlicher Feinde gemacht, nämlich die höheren Offiziere der FARDC, die es als ihr ererbtes Recht betrachten, Sold und Kostgeld ihrer Männer in die eigene Tasche zu stecken. Dass sie ihre Soldaten damit zum Plündern zwingen, ist ihnen völlig egal.
Rückblickend war EUSEC wie eine Windmühle, gegen die eine Horde von Don Quichottes mit den roten Schulterklappen der kongolesischen Generalität ununterbrochen angeritten ist. Am Ende haben die Don Quichottes gewonnen. „The wind of change“, der die Flügel der Windmühle hätte antreiben sollen, ist in der Großen Flaute der kongolesischen Korruption und Tatenlosigkeit zum Erliegen gekommen. Was wir gelehrt haben, ist schon so gut wie vergessen, was wir gebaut haben, wird bereits vom Urwald überwachsen.
So wie die Mannschaftsdusche in der Unteroffiziersschule von Kitona. Als ich sie zum letzten Mal gesehen habe, war sie voller Brennholz. „Was ist da los?“, habe ich den zuständigen Offizier gefragt.
„Der Abfluss ist verstopft, außerdem benutzen die Rekruten die Duschkabinen immer als Abtritt.“ Alles klar. Den Abfluss zu reinigen und die Rekruten den Unterschied zwischen Dusche und Toilette zu lehren, wäre vermutlich zu viel verlangt. Aber immerhin hat EUSEC den teuersten Holzschuppen Afrikas gebaut, vollverfliest.
Brennholzschuppen, vollverfliest
Das Holz wird übrigens für die Kochfeuer gebraucht. Natürlich hat EUSEC auch eine Truppenküche gebaut. Aber die funktioniert nicht, weil es keinen Strom gibt.
Natürlich hat EUSEC auch ein Stromaggregat installiert. Aber das funktioniert nicht, weil die FARDC nicht einmal die rudimentärsten Wartungsarbeiten ausgeführt haben.
Und so wird die Verpflegung an der Unteroffiziersschule von Kitona in Kesseln über offenem Feuer zubereitet, wie schon zu den Zeiten, ehe die ersten portugiesischen Schiffe in die Kongomündung eingelaufen sind.
Ob das frustrierend ist? – Schon.
Andererseits: Schauen Sie sich unsere Köchin einmal näher an, wie selbstbewusst sie an ihrem Feuer steht, die Herrin des Kessels. Ich schwöre Ihnen: Eine Nirostaküche ist ihr aber so was von wurst. Und Sie sollten die Unteroffiziersschüler sehen, wenn sie sich mittags bei ihr anstellen um ihren Schöpfer Maniokbrei, ihr zuzwinkern und sich die nahrhafte Pampe schmecken lassen wie junge Könige. In der Früh bekommen sie noch ein halbes Baguette, das ist dann die ganze Tagesration. Dennoch sieht man sie beim Morgensport tanzen und lachen. Eine Dusche danach? – Ach, pfeif doch auf den Pipifatz!
Old-school
Frühsport mit Pirouetten
Die Dusche im Gästehaus von Papa Nepa-Nepa funktioniert auch nicht oft und die Klimaanlage überhaupt nicht. Ich steige trotzdem jedes Mal bei Papa Nepa-Nepa ab, wenn ich in Kitona bin. Das Lächeln von Maman Marie, seiner Köchin, funktioniert nämlich immer. Wenn ich ankomme, strahlt sie mich an, dann geht sie in die Küche und kocht mir Bondu, gedünstete Maniokblätter mit Bohnen, warm und nahrhaft. Ich gebe zu, manchmal hätte ich gern was anderes gehabt, zur Abwechslung. Aber Bondu kann Maman Marie eben am besten. Wenn es dunkel wird, setzt sich Papa Nepa-Nepa zu mir. Wir machen uns ein dunkles Bier auf. „Morgen repariere ich die Klimaanlage“, sagt Papa Nepa-Nepa. Ich lache und proste ihm zu. Er lacht auch, und die Klimaanlage ist vergessen. Morgen ist vergessen. Was soll auch „morgen“, wenn heute die Sterne funkeln, die Nacht warm ist und das Bier kühl? Ich gebe zu, ich habe dieses zufriedene Aufgehen im Jetzt nie erlernt, und die völlige Verdrängung des Morgen hat mich dienstlich manchmal zur Weißglut gebracht. Aber irgendwo in meinem verkrusteten Europäerherzen hege ich eine tiefe Sympathie dafür, wenn nicht gar eine Sehnsucht danach. Im Genießen des Augenblicks sind die Kongolesen Weltmeister. In keinem Land habe ich so viele freundliche und fröhliche Menschen getroffen. Sogar die verlotterten Grenzsoldaten, die mich eines Tages bei einer Kajaktour am Kongo abgestoppt und mir mit vorgehaltener Kalaschnikow dreißig Dollar abgeknöpft haben, waren freundlich. Es tut mir immer noch leid, dass ich sie nicht um ein Erinnerungsfoto gebeten habe. Ich bin sicher, sie hätten sich lachend in Positur geworfen.
Ich widme diese Geschichten der Lebensfreude, dem Witz und der Schlitzohrigkeit, mit denen die Kongolesen in ihrem unmöglichen Land zu Rande kommen. Ganz besonders aber Papa Nepa-Nepa (repariere nie deine Klimaanlage, ich wäre bitter enttäuscht!), Maman Marie, meinen kongolesischen Offizierskameraden Major Essebi und Major Lobo, die auch angesichts des beklagenswerten Zustandes ihrer Armee nie ihre gute Laune verloren haben, und nicht zuletzt Tschombe, dem Gärtner unserer Mission, der zwar kaum Französisch konnte, mir dafür aber einige Wörter seiner Sprache Lingala beigebracht hat.
Bo tikala malamu! Gehabt euch wohl!
GESCHICHTEN AM UFER DES KWILU
ODER MEIN ONKEL, DER LEOPARDENMANN
Ich bin ein Glückspilz. Ich durfte im Kongo bei den sogenannten „équipes mobiles mixtes“ dienen, gemischten Teams aus kongolesischen und europäischen Offizieren, die die Militärregionen des Kongo überprüften. Auf diese Art habe ich fast alle Provinzen dieses Riesenlandes kennengelernt. Unsere Arbeit hat sich in erster Linie um zwei Dinge gedreht: Werden die Soldaten regelmäßig bezahlt und verpflegt (damit sie nicht plündern müssen), und werden Waffen und Munition so sicher aufbewahrt, dass sie keine unmittelbare Gefahr für die Umgebung darstellen? Die Kontrolltage waren mühsam, und die Ergebnisse lagen meist auf einer Skala zwischen „ziemlich frustrierend“ und „absolut schockierend“.
Erholt haben wir uns beim gemeinsamen Abendessen, was in Städten wie Kikwit (etwa fünfhundert Kilometer südöstlich von Kinshasa) seinen besonderen Charme hat. In Kikwit gibt es kein Fließwasser, abgesehen vom Fluss Kwilu, und keinen Strom. Aber was soll’s? Alte Geschichten sind ohnehin viel schöner am Lagerfeuer. Und wenn der Wind den Klang der Buschtrommeln vom anderen Flussufer herüberweht, geben sie einen wunderbaren Einblick in die Denkweise ihrer Erzähler.
Schweineparadies
Die Säue fühlen sich wohl im Hafen von Kikwit. Ausgenommen die eine, die uns Gesellschaft leistet. Aber der ist schon alles wurst: Sie dreht sich seit sechs Stunden am Bratspieß von Monsieur Maisha. Monsieur Maisha ist Libanese und führt das einzige Restaurant von Kikwit, das diesen Namen verdient. Er hat sogar drei Gerichte zur Auswahl. Neben Schwein serviert er auch Fisch und Huhn.
Ein Stündchen werde es wohl noch dauern, sagt Maisha. Ob er uns inzwischen ein paar Bier bringen dürfe.
Nur zu, Monsieur. Fünf Mützig1.
Unsere Delegation besteht aus zwei europäischen und drei kongolesischen Offizieren. Wir haben Zeit, und der Garten von Maishas Restaurant ist ein guter Platz zum Warten. Wir vergraben die Zehen im warmen Ufersand und schauen zu, was der abendliche Kwilu an uns vorbeitreiben lässt: tief im Wasser liegende Pirogen, bis über die Bordkante mit Palmölkanistern beladen; Kinder, die auf Baumstämmen reiten; ein Erwachsener, der sich mit der Freude eines kleinen Buben immer wieder in die Fluten stürzt und erstaunlich lang unter Wasser bleibt.
„Ich hab einmal einen gesehen, der hat es eine halbe Stunde ausgehalten“, sagt der Major Essebi vom kongolesischen Generalstab.
„Blödsinn“, bellt der Oberst Laurentiu von der rumänischen Armee. „Niemand hält es so lange aus!“
„Ich habs gesehen.“ Essebi erhebt nicht einmal die Stimme, so sicher ist er sich seiner Sache. „Wir waren mit einer Piroge unterwegs. Plötzlich fiel der Motor aus. Irgendetwas hat die Schraube blockiert. Und dann ist dieser Mann angetrieben mit seinem kleinen Floß, und hat seine Hilfe angeboten. Er ist unter das Boot getaucht und nach einer halben Stunde …“, Essebi schaut den Oberst Laurentiu eindringlich an, „… nach einer halben Stunde ist er wieder aufgetaucht, in der Hand das armlange Stück Holz, das sich in der Schiffsschraube verklemmt hatte.“
„Er hat irgendwo nach Luft geschnappt, wo du es nicht gesehen hast.“ Laurentiu verfällt immer in die Du-Form, wenn er einen Kongolesen belehrt.
Essebi schüttelt nur den Kopf. „Drei-ßig Mi-nu-ten.“ Er betont jede Silbe.
„Drei-ßig Mi-nu-ten!“
„Dann war das ein Krokodilmann“, wirft der Oberstleutnant Bandundu ein.
Da schau her! Ich hätte nicht gedacht, dass dieser Mann Humor hat. Bandundu kommt von der Generalinspektion der kongolesischen Armee, und wenn er auftaucht, ist normalerweise Schluss mit lustig in den staubigen Kanzleien der Provinzgarnisonen. Er überprüft die Abrechnungen der Einheiten, mit kalten Augen hinter kleinen Brillengläsern. Und wenn er grobe Unstimmigkeiten findet, holt er die Schergen vom gefürchteten Militärtribunal. Bandundu macht keine Witze, wird mir klar.
„Ein Krokodilmann“, sagt er noch einmal, als zitiere er einen Paragrafen aus dem Leitfaden zur Verwaltung des Verpflegsgeldes.
„Das gibt’s“, murmelt der dicke Oberstleutnant Mabelo von den kongolesischen Landstreitkräften schläfrig. Dann döst er weiter.
Major Essebi nickt.
Der Oberst Laurentiu holt Luft zu einer empörten Entgegnung, aber Bandundu funkelt ihn warnend an und fährt fort: „Ein Krokodilmann taucht als Mensch unter und verwandelt sich unter Wasser in ein Krokodil. Es gibt viele davon an den Flüssen. Und welche, die sich in andere Tiere verwandeln können. Mein Onkel zum Beispiel, ein Bruder meines Vaters, war ein Leopardenmann. Als ich klein war, hat er uns in der Früh oft eine Gazelle gebracht, die er nachts gejagt hat.“
„Lebt er noch?“, frage ich schnell, Laurentius anhaltende Sprachlosigkeit nutzend.
Bandundu schüttelt bedauernd den Kopf. „Sie haben Jagd auf ihn gemacht und ihn erschossen.“
„Als Mensch?“
„Als Leopard. Normalerweise schleppen sie sich in ein Versteck, wenn sie getroffen werden, und nehmen dort mit letzter Kraft noch einmal ihre menschliche Gestalt an, ehe sie sterben. Aber meinen Onkel haben sie genau ins Herz getroffen. Er ist als Leopard gestorben.“
„Mein Beileid.“
„Danke.“
Das bringt das Fass des Oberst Laurentiu zum Überlaufen. „Jetzt aber Schluss mit dem Unfug! Das ist der gleiche Scheiß wie in meiner Heimat mit den Wölfen und den Fledermäusen! Ich glaube nichts von dem Quatsch. Ich akzeptiere nur Dinge, die sich wissenschaftlich erklären lassen.“
Die Kongolesen zucken ungerührt die Achseln.
„Du sagst also, kein Mensch kann dreißig Minuten ohne Sauerstoff überleben?“, frage ich Laurentiu.
„Genau. Unmöglich!“
„Na bitte“, sage ich. „Damit haben wir den wissenschaftlichen Beweis. Es muss ein Krokodilmann gewesen sein. Ein Krokodil hält es ohne Weiteres eine halbe Stunde aus.“
Laurentiu schnaubt verächtlich, aber meine kongolesischen Kameraden nicken mir anerkennend zu. Endlich ein Mundele2, der versteht, was Sache ist in Afrika.
Bandundu beugt sich vertraulich zu mir. „Ich habe da ein Projekt, Herr Oberstleutnant“, sagt er halblaut.
„Ich bin ganz Ohr.“
„Ich schreibe an einem Buch über diese Tiermenschen. Wir müssen sie ausfindig machen. Die müssen uns helfen, verstehen Sie?“
Ich schüttle vorsichtig den Kopf.
„Ich will damit sagen …“, Bandundu zögert kurz, „… wir müssen sie in die Armee integrieren.“ Er mustert mich fast ängstlich, gewärtig, ein spöttisches Grinsen um meine Mundwinkel flackern zu sehen.
Es ist wohl dieser Blick, der es mir ermöglicht, todernst zu bleiben. „Verdammt gute Idee, Herr Oberstleutnant.“
Bandundus Augen hinter den Brillengläsern beginnen zu leuchten. „Stellen Sie sich vor: eine Krokodilkompanie, eine Leopardenkompanie, eine Schlangenkompanie … schwarze Mambas“, zischt er verschwörerisch. „Niemand könnte uns widerstehen. Und wir würden endlich von einer Armee der Verlierer zu einer Armee der Sieger werden.“ Er lehnt sich mit der Andeutung eines Seufzers zurück, das Abendrot wie den Schein der künftigen Glorie der FARDC3 auf seinem Gesicht.
Die Armee der Demokratischen Republik Kongo hat noch nie gewonnen. Ist immer nur davongelaufen. Vor allen. Seit Jahren halten ein paar hundert Rebellen in Gummistiefeln zwanzigtausend kongolesische Soldaten in der Provinz Kivu in Atem und fügen ihnen eine Schlappe nach der anderen zu. Jahrzehntelang haben Berater aus Europa, Amerika, Russland, China versucht, aus diesem korrupten Haufen eine schlagkräftige Truppe zu machen. Vergebens. Bandundu, der kühle Rechner, hat es erkannt: Der ganze westliche Firlefanz wird nie funktionieren. Die Kongolesen müssen sich selbst helfen. Die Krokodilmänner müssen her.
„Wenn ich fertig bin, übergebe ich mein Buch dem Präsidenten“, flüstert er mir zu.
„Was heckt ihr beiden da schon wieder für abenteuerliche Geschichten aus?“, bellt der Oberst Laurentiu.
„Nichts“, sagt Bandundu.
„Nichts“, sage ich. Schließlich handelt es sich um ein militärisches Geheimnis.
Ehe Laurentiu nachhaken kann, tritt Monsieur Maisha an unseren Tisch. Das Schwein sei jetzt fertig.
Als ich mich durch die knusprige Kruste säble, kommt mir ein beunruhigender Gedanke: Ob es wohl versucht hat, sich zurückzuverwandeln, als ihm Monsieur Maisha die Kehle durchgeschnitten hat? – Es gibt keine Schweinemenschen, beruhige ich mich. Aber ich wage nicht, den Oberstleutnant Bandundu danach zu fragen. Aus Angst, er könnte mit vollem Mund antworten: „Natürlich. Meine Tante zum Beispiel, die hier in Kikwit …“
Tante?
1Mützig: populäres, helles französisches Bier
2Mundele, lingala: ein Weißer
3FARDC: Forces Armées de la République Démocratique du Congo, die kongolesischen Streitkräfte