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Buch lesen: «Bis zum Nullpunkt des Seins»

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I. Das Geruchsklavier

Aromasia saß im Garten ihres Hauses und sah träumerisch ins Blau des schönen Sommertages vom Jahre 2371. Sie folgte mit ihren Blicken den kleinen dunklen Wolken, welche sich hier und da plötzlich in der Atmosphäre bildeten und einen Regenguss herabströmen ließen; oder sie spähte nach den fliegenden Wagen und Luftvelozipeden aus, die zu ihren Füßen in buntem Gewühle die breite Straße erfüllten. Denn der Garten Aromasias befand sich in der luftigen Höhe von ungefähr hundert Metern über dem Erdboden auf dem Dache ihres Hauses.

Man sah sich genötigt, die Wohnhäuser in so gewaltigen Dimensionen aufzutürmen und die Gärten über ihnen anzubringen, da man den Raum der ebenen Erde dem Ackerbau vorbehalten musste. So reich bevölkert war der Erdball, dass man jedes Plätzchen dem Anbau der Halmfrucht und der Ernährung des Schlachtviehs widmen musste, um die Gefahr einer Hungersnot abzuwenden.

So wogten denn am Boden die Getreidefelder, wo immer Luft und Licht es gestatteten; darüber standen auf festen, hohen Säulen die Gebäude der Menschen, in deren unteren Stockwerken die Industrie ihr geschäftiges Leben trieb. Weiter oben folgten Privatwohnungen, und die Krone des Ganzen bildeten anmutige Gärten, deren freie und gesunde Lage sie zum beliebtesten Aufenthalte machte.

Die Aufeinanderfolge von fünfzehn bis fünfundzwanzig Stockwerken war übrigens durchaus nicht mit Unbequemlichkeiten verbunden; denn der Luftwagen war das gewöhnliche Verkehrsmittel; und wollte man wirklich einmal zu Fuß ausgehen, so fanden sich die Treppen durch treffliche Hebe- und Senkvorrichtungen ersetzt. In den Städten – und deren gab es unzählige – waren außerdem die einzelnen Stockwerke längs der Straßenfront durch Galerien verbunden; ihre Benutzung war bequem und praktisch, aber – wie es so geht, man weiß nicht immer, warum – bei der feinen Gesellschaft galt sie nicht für standesgemäß; sie diente nur dem kleinen Geschäftsverkehr und Hausgebrauche. Ebenso hielt man es für unpassend, ja, es war sogar straßenpolizeilich verboten, innerhalb der Stadt mit den leichten Fahrzeugen sich höher als die Dächer der Häuser zu erheben oder quer über Privatbesitz durch die Luft zu fliegen. Natürlich gab es auch immer mutwillige und unartige Übertreter dieser Sitte, und wenn es früher, im rohen Neu-Mittelalter, der Übermut der männlichen Jugend nicht verschmähte, in weinseliger Nacht allerlei Unfug an Schildern und Hausklingeln zu verüben, so kam es auch heute wohl vor, dass sich am Morgen ein Fenster mit schönen Bildern verklebt fand oder ein wohlverpacktes Bukett zum Schornstein hereinspazierte.

Aromasia Duftemann Ozodes, die allverehrte Künstlerin, seufzte leise, nachdem sie wieder vergebens in der Menge der Luft-Droschken nach dem Ziele ihrer Sehnsucht gesucht hatte.

»Wo nur Oxygen bleiben mag?«, klagte sie sanft in den wohltönenden Lauten der deutschen Sprache. Denn wenn man auch im gewöhnlichen Verkehre sich fast ausschließlich der neu eingeführten Universalsprache zu bedienen pflegte, so sprach man doch die zarten Empfindungen des Herzens in den süßen Klängen der ursprünglichen Muttersprache aus.

»Merkwürdig«, fuhr sie fort, »dass er nicht nach seiner Gewohnheit längst zu mir geeilt. Schon neun Uhr vierundachtzig Minuten siebzig Sekunden?Man teilte den Tag in zweimal zehn Stunden à 100 Minuten à 100 Sekunden.

Und auch Magnet kommt nicht – aber die Dichter sind unpünktlich. Er sinnt gewiss auf ein Grunzulett; und dazu braucht er Zeit.«

Das Grunzulett ist nämlich eine neue Dichtungsform, welche die Vorzüge des Sonetts, des Gasels, der alcäischen Strophe und des Familienromans in sich vereinigt, leider aber nur in der modernen Universalsprache zu leisten ist, weil seine Hauptschönheit darin besteht, dass Alliteration und Reim durch eigene Selbstvernichtung sich zu einer neuen Form, der »in sich zurückkehrenden unendlichen Lautquetsche«, verbinden.

Jetzt griff Aromasia nach dem neben ihr liegenden Doppelfernrohr und sah scharf nach einer Stelle der Vorstadt, welche ungefähr 25 Kilometer von ihrem Standpunkte entfernt sein mochte; eine jener schon erwähnten kleinen Wolken erhob sich gerade darüber.

»Es ist Oxygen«, sagte sie beruhigt bei sich, indem sie das Fernrohr sinken ließ. »Ich erkenne seine Maschine. Er ist also beschäftigt und wird erst später erscheinen. So muss ich mir denn bis zu seiner Ankunft die Zeit nach eigenem Geschmack vertreiben. Wohlauf, meine getreue Kunst! Ihr gewaltigen Gedanken der großen Duftmeister sollt mir die schleichende Stunde verkürzen und meine Seele in die Regionen wunschlosen Wahnes tragen!«

Sie trat auf die Versenkung und befand sich wenige Augenblicke später in ihrem geschmackvoll eingerichteten Zimmer. Ein Instrument in der Gestalt eines Pianinos stand in der Mitte. Sie öffnete den Deckel und griff in die Klaviatur des Ododions; bald schwelgte sie in den Wonnedüften einer Fantasie von Riechmann, und harmonische Wohlgerüche durchströmten das Zimmer.

Das Ododion (von οδωδη, der Geruch) oder Geruchsklavier wurde im Jahre 2094 von einem Italiener namens Odorato erfunden und im Laufe der Zeit, entsprechend den Fortschritten der Chemie, bedeutend vervollkommnet. Das Instrument unserer Künstlerin war aus einer deutschen Fabrik und zeichnete sich durch seinen großen Umfang an Gerüchen aus; es reichte von dem als unterste Duftstufe angenommenen dumpfen Keller- und Modergeruche bis zum Zwiblozin, einem erst im Jahre 2369 entdeckten äußerst zarten Odeur. Jeder Druck auf eine Taste öffnete einen entsprechenden Gasometer, und künstliche mechanische Vorrichtungen sorgten für die Dämpfung, Ausbreitung und Zusammenwirkung der Düfte.

Nachdem man die Musik auf einen solchen Höhepunkt der Vervollkommnung gebracht hatte, dass das Ohr unmöglich mehr ertragen konnte, hatte man seine Aufmerksamkeit der so sehr vernachlässigten Nase zugewandt. Die Feinheit des Geruchsorgans war freilich bei der Menschheit in der Rückbildung begriffen; aber warum sollte man diese nicht steuern können? Kein anderer Sinn wirkt gleich lebhaft auf unsere Ideenassoziation wie der des Geruchs; es lag nahe, ihn künstlerisch dazu zu verwerten, bestimmte Vorstellungen und Empfindungen in uns hervorzurufen. Man studierte die Eigentümlichkeiten und Wirkungen der Gerüche, fand die Gesetze ihrer Harmonie und Disharmonie, anfänglich auf empirischem, später auch auf theoretischem Wege, die Chemie stellte immer wohlfeiler die notwendigen Aromen her, und nachdem das Ododion erst als Kuriosum gezeigt und auf Rundreisen durch die Städte von aller Welt angestaunt worden war, bürgerte es sich bald in den Familien, im Privatkreise ein.

Die größten Duftmeister, zuerst Naso Odorato, dann Stinkerling, Frau Schnüffler, Riechmann, Aromasias Eltern selbst, Herr Duftemann und Frau Ozodes, eine Griechin, leisteten Ododionpiecen, welche den Tonwerken der größten Musiker dreist an die Seite gestellt werden konnten, und bald war das Ododion, das namentlich in seiner Verbindung mit der menschlichen Stimme hinreißend wirkte, so in allen Häusern eingebürgert wie vor fünf Jahrhunderten das Klavier. Töchter und Söhne räucherten in ihren Mußestunden darauf herum, und die Nachbarn klagten und jammerten über die Stümperei, die Geruchsüberladung und Nasenmarter gerade so, wie man früher über das Flügelspiel und die Ohrenquälerei herzog.

Aromasia Duftemann Ozodes aber war eine Künstlerin im wahren Sinne des Worts. Ihre Duftakkorde umstrickten die Seele mit Allgewalt. Springauf, Flieder und Rosen führten die Träume in die holde Zeit des Sommers und der jungen Liebe; aber allmählich verschwimmen diese Düfte, wir glauben vor verwelkten Blumen zu stehen, und ein Gemisch von Jasmin und Schnittlauch durchzieht das Gemüt mit unendlicher Wehmut. Und nun aus der Ferne, durch diese Wehmut hindurch, riechen wir den Hohn, den Leichtsinn des Treulosen im Dufte des Weines; mehr und mehr umhüllen uns Alkoholdämpfe – da, wie ein Aufschrei des Entsetzens, ein Missgeruch! Pulver ist es, dann dunkle Grabesluft… Noch einmal im unendlichen Schmerz erheben sich die Duftakkorde, dann verduften sie in stiller Resignation…

Aromasia ließ die Hand sinken. Da fühlte sie dieselbe ergriffen und mit heißen Küssen bedeckt.

Magnet Reimert-Oberton war unbemerkt zum Fenster herein luftvelozipediert und zu ihren Füßen niedergesunken. Noch bebte seine Seele im Nachgefühl des Spieles Aromasias.

Magnet führte wie alle Leute einen Doppelnamen. Der rechtlichen Gleichstellung der Frauen gemäß behielten die Kinder sowohl den Namen der Mutter als den des Vaters; verheirateten sie sich, so ließen die Töchter den Namen des Vaters, die Söhne den der Mutter fort und nahmen dafür den des Gemahls hinzu.

Reimert-Oberton war ebenfalls Künstler, und zwar Dichter. Nach unseren Begriffen würde man ihn als einen unerträglichen Realisten bezeichnen, dem damaligen Zeitalter aber galt er nicht nur als ein übermäßiger Idealist, sondern auch als weichlicher Romantiker. Denn er stand noch auf dem Standpunkte der Dichter des dreiundzwanzigsten Jahrhunderts, welche sich gern in das Zeitalter des Dampfes zurückträumten, in jene Tage, als die Menschen noch gezwungen waren, zu den Bergen aufzusehen. Er verzweifelte an der Macht der Poesie in einem Jahrhundert, in welchem man den rechnenden Verstand vergötterte, und pries die Zeit des Neumittelalters glücklich, in welcher es nicht darauf ankam, an ein heiliges Wunder zu glauben und mit Klopfgeistern zu verkehren. Eine Neuerung jedoch hatte er versucht, welche ein Verdienst um die Literatur bildete, nämlich die Einführung der begrifflich strengen wissenschaftlichen und technischen Bezeichnungen der Vorgänge in die Poesie an Stelle der auf einer veralteten Anschauung beruhenden so genannten poetischen. Übrigens dichtete er meist deutsch und verfasste nur die Grunzuletts in der Universalsprache.

»O große Aromasia«, rief er jetzt, »des vierundzwanzigsten Jahrhunderts erhabenste Ododistin! Ihnen gehört der Schwingungszustand meiner Gehirnzellen, ihnen bebt jede Nervenfaser meines Rückenmarks! Wie die Flur den durch die mit Wasserdämpfen gesättigte Morgenluft stark absorbierten Sonnenstrahlen entgegenseufzt, so zittern nach den Düften ihres Ododions die zarten Häute meiner Nase!«

»Magnet«, erwiderte Aromasia, mit dem Finger drohend, »seien Sie nicht unartig! Sie vergessen wieder, was wir ausgemacht haben – Ihre Anbetung ist gestattet, aber in geziemenden Grenzen. Sie verdienten wirklich, dass Ihnen mein Bräutigam einen Regenguss über den Hals schickte. Ich will Oxygen darum bitten!«

»Grausame! Ich fürchte keine Kondensation – die lebendige Kraft meines heißen Blutes wird die Wassermolekel auseinandertreiben.«

»Warten wir das ab! Übrigens wissen Sie selbst, wie sehr Sie übertreiben. Ihre Schmeicheleien müssen mir wie Spott klingen, denn ich kenne zu gut meine schwachen Kräfte, welche die Ideale meiner Nase nicht erreichen. Wo bleibt die Gedankentiefe eines Riechmann in meinem Gedüftel. RiechenAromasia sagte: »Räuchen Sie.« Man hatte zur Unterscheidung vom Intransitivum »riechen« das Transitivum »räuchen« gebildet und sagte: Die Rose riecht, roch, hat gerochen; der Mensch räucht, räuchte, hat geräucht. Leider müssen wir noch beim Alten bleiben. Sie hier diesen einfachen Übergang vom aromatischen Drei-Duft durch den halben Mollgeruch in die Schlussozodie. Was liegt nicht alles in diesem einfachen Zuge! Kraft, Todesmut, Stärke, Stiergebrüll, die ganze Geschichte der Erfindung des elektromotorischen Schnellwagens, Menschengröße, Gewitter, Winzertanz und sogar die Elemente der Kometbahn von neunzehnhundertachzig. Das kann aber auch nur ein Richard Riechmann.«

»Sie sind zu bescheiden. Haben doch auch Sie schon die Überwindung des Materialismus durch den Kritizismus und die Vollendung des Nikaragua-Kanals auf dem Ododion dargestellt.«

»Es sind schwache Versuche! O Magnet, arm wird uns der Meister erstehen, welcher das Geruchsdrama der Zukunft schafft! Riechmann? Ihm mangelt die gestaltende Kraft der Sprache – ach, Magnet, warum sind Sie kein Duftkünstler?«

»Weil ich leider nur ein Dichter bin, aber ein schlechter. Doch nicht in der Zukunft dürfen Sie unsere Ideale suchen, greifen Sie zurück in die Vergangenheit.«

»Ich bitte Sie, Shakespeare, Goethe…«

»Viel zu veraltet, nein – aber Anton Feuerhase und sein Trauerspiel ›Die letzte Lokomotive‹! Das ist Poesie! Denken Sie an die Schlussszene mit der Musik von Brummer – die Ododionbegleitung ist, glaub‘ ich, von Stinkerling —, wie der Kessel platzt, der unselige Lokomotivführer, der im Zwiespalt der Pflichten zwischen der Rettung des Publikums und des Eigentums der Bahnverwaltung untergeht, in die Luft geschleudert, mitten zwischen den Trümmern, nachdem er schon die Kinnlade und ein Bein verloren, hinunterdonnert zu den Wagons.

 
Vergebens, Dampf, dass du den Atem hemmst!
Der Eilzug stürzt! Ade, mein Bein! Bremst! Bremst!
 

Wenn dann der Vorhang fällt und die Musik das Geräusch der Bremsen noch nachtönen lässt, dann erst fühlt man, was die Dichtkunst vermag. Und mir gelingt es nicht einmal, ein armseliges Grunzulett ins Deutsche zu übertragen.«

»Aber es gelingt Ihnen, so manches Gemüt zu erheben über die Gewöhnlichkeit des Lebens und sich unabhängig zu fühlen vom verwirrenden Urteil der Menge. Und das ist es, was ich an unserer Kunst preise.«

»Nicht alle werden es Ihnen zugeben. Die Partei, welche sich den Namen der ›Nüchternen‹ gegeben hat, behauptet, dass nur durch die Bildung des Verstandes ein Fortschritt der Menschheit möglich sei; dass die intellektuelle Entwicklung, wie sie die Emanzipation von der Naturgewalt geleistet habe, auch allein im Stande sei, von den Leidenschaften zu befreien und die Menschheit ihrer sittlichen Vollendung und mehr entgegenzuführen; ja, dass wir den Errungenschaften der Wissenschaften allein den hohen Kulturzustand der Gegenwart in ethischer Beziehung verdanken, unsere Toleranz, unsere Milde, unsere Reinheit der Gesinnung.«

»Magnet, Sie erinnern mich zur Unzeit an diesen unseligen Parteistreit, der so tief in die Verhältnisse unseres Lebens eingreift. Sie wissen, dass hier der einzige Punkt liegt, der mich von Oxygen trennt, dass hier allein unsere Meinungen auseinander gehen. Und doch kann ich nicht anders, wie lieb ich meinen Bräutigam habe – es ist meine heiligste Überzeugung, dass allein dem Einflusse der Künste, insbesondere der Ododistik, auf den Menschen die Erhebung der Sittlichkeit und die Förderung der Zivilisation zugeschrieben werden kann: Nur zu oft macht diese Meinungsverschiedenheit uns bittere Stunden, und ich fürchte…«

»Nicht doch Aromasia! Sie sagten selbst so oft, dass bei der Gewohnheit unserer Zeit, jegliches Urteil gelten zu lassen und die Sache von der Person zu trennen, eine persönliche Anfeindung aus einem Streite der Anschauungen überhaupt nicht mehr entstehen könne. Wie mögen Sie solche Befürchtungen durch die aus den Bewegungen ihrer Mundhöhle resultierenden Schallwellen ausdrücken?«

»Weil ich gar nicht so sicher bin, dass unser Zeitalter wirklich auf einer so gepriesenen Höhe objektiver Betrachtung steht. Wäre es nur ein rein theoretischer Streit, um den es sich handelte, so wollte ich mich beruhigen. Aber wie oft auch die Nüchternen dies behaupten mögen, es ist nicht wahr. Hier liegt ein Gegensatz vor, der tief in der Natur des Menschen begründet ist, der immer bestanden hat und bestehen wird und sich gegenwärtig nur in dieser Form ausspricht. Wir sind nicht mehr im Stande, in tödliche Feindschaft zu geraten, weil einige religiöse Dogmen bei dem einen anders lauten als beim Nachbar, aber der unauslöschliche Kampf entgegengesetzter Ideale äußert sich dafür im Parteihader der ›Nüchternen‹ und der ›Innigen‹. Die Namen sind unglücklich genug gewählt. Die Nüchternen sind die allerschlimmsten Fanatiker; wenn sie sich auf die ›nüchterne Überlegung‹ berufen, so lügen sie. Ihre innerste Gemütsanlage ist eben fremd und abgeneigt den warmen Empfindungen einer ideal fühlenden Seele, die das Leben erfasst wie es sein soll, und nicht zergliedert, wie es ist.«

»Seien Sie nicht so böse, Aromasia«, tröstete Magnet. »Bei diesen Leuten sind nun einmal die Zentralorgane der Geruchsempfindungen, das Subiculum des Ammonshorns oder die Spitze der ›hakenförmigen‹ Windungen schlecht entwickelt. Ihr Gehirn ist einer feinen Duftempfindung nicht zugänglich, und sie werden eine Aromasia nie verstehen.«

»Und Oxygen?«

Magnet schwieg. Sanft irrten Aromasias Finger über die Tasten, die zarte Wohlgerüche ausströmten.

Eine Luftdroschke schwirrte vor das Fenster, Oxygen führte sie. Er stellte die Schraube des Apparates horizontal, so dass die Drehung derselben den Wagen nur schwebend erhielt, ohne ihn fortzutreiben, befestigte das Fahrzeug am Fenster und trat mit freundlichem Gruß ins Zimmer.

Aromasia eilte ihm entgegen und begrüßte ihn herzlich. Ihr folgte Magnet. Oxygen näherte sich, Aromasia an der Hand führend, dem Fenster und blickte in ein dort aufgestelltes Mikroskop.

»Allerliebst«, sagte er, »ich gratuliere, Aromasia. Selten habe ich einen so vorzüglichen Urschleim gesehen wie diesen hier. Prächtig gelungen.«

»Dir zu Liebe Oxygen«, erwiderte seine Braut. »Ich weiß, wie sehr du dich freust, wenn ich mich deiner kleinen Lieblinge annehme. So habe ich manche Stunde vor dem Mikroskop gesessen und der Zellbildung zugesehen.«

Es war damals Mode, den so genannten Urschleim, das niedrigste organische Gebilde, aus anorganischen Stoffen zu ziehen. Professor Selberzelle hatte den Triumph gehabt, die erste zweifellose Urzeugung zu beobachten, und statt mit Papageien oder Schoßhündchen spielten Damen und Herren in ihren Mußestunden jetzt unter dem Mikroskop mit den zarten Urschleimtypen.

»Du bist später als gewöhnlich gekommen«, fuhr Aromasia fort. »Du hattest viel zu tun?«

»Leider, ich bin sehr mit Bestellungen überhäuft, das Wetter ist bei uns ausnahmsweise trocken, und ich habe alle Mühe, Wasser genug zu schaffen. Und heute hatte ich besonders viel zu besorgen, denn ich wollte mich für morgen frei machen. Ich habe dir nämlich einen Vorschlag mitzuteilen – ich denke, Magnet, du wirst auch dabei sein?«

Nun entwickelte Oxygen seine Idee.

Oxygen Warm-Blasius war seines Zeichens nichts Geringeres als Wetterfabrikant; das heißt, er war Besitzer eines großen Etablissements, welches Apparate herstellte und verlieh, um Veränderungen in der Atmosphäre künstlich hervorzurufen. Dies geschah durch chemische und physikalische Kräfte; da wurden Dämpfe entwickelt, große Luftmassen erhitzt oder abgekühlt, obere Luftschichten in niedere Regionen gesogen, tiefere hinaufgepresst, Wolken gebildet und zerstreut. Oxygens Geschicklichkeit hatte sein Etablissement zu einem sehr beliebten gemacht.

»Ich habe also für morgen meine Geschäfte bereits geordnet«, fuhr er jetzt fort, »um mit euch eine kleine Partie für den ganzen Tag zu arrangieren. Es ist nämlich gerade morgen einer der so sehr seltenen Tage, an denen die ganze nördliche Erdkugel heiteres Wetter besitzt, und wir können daher unsern Ausflug beliebig einrichten, ohne künstlicher Hilfe zu bedürfen oder irgendeine Störung befürchten zu müssen.«

»Und wohin willst du?«, fragte Magnet.

»Ich schlage vor, nach dem Niagarafall zu fahren. Anfänglich dachte ich an die Nilquellen, aber dort waren wir erst im Winter, und in den Tropen ist auch der Aufenthalt in gegenwärtiger Jahreszeit nicht gerade angenehm.

»Zum Niagara«, rief Aromasia, »das hast du gut ausgedacht, Oxy! Aber da müssen wir wohl zeitig hinaus?«

»Wenn wir um sechs Uhr abfahren, so haben wir übrig Zeit, auch ohne unsere Maschine zu sehr anzustrengen. Selbst wenn wir uns vier StundenZur Bequemlichkeit für den Leser des 19. Jahrhunderts (wir begnügen uns, für diesen zu schreiben) sind hier solche Stunden genommen, von denen 24 auf einen Tag gehen. am Fall aufhalten, können wir um zehn Uhr abends wieder zurück sein. Sechs Stunden brauchen wir zur Hinfahrt. Ich würde aber vorschlagen, lieber schon um vier oder ein halb fünf Uhr, gleichzeitig mit der Sonne, aufzubrechen. Da wir nach Westen fahren, können wir unsere Geschwindigkeit so wählen, dass wir der entgegengesetzten Drehung der Erde ganz genau das Gleichgewicht halten und sie für uns paralysieren. Wir genießen dann, den Blick zurückgewendet, das Schauspiel eines sechsstündigen Sonnenaufgangs, der sich auf dem Atlantischen Ozean ganz prachtvoll macht.«

Altersbeschränkung:
12+
Veröffentlichungsdatum auf Litres:
30 August 2016
Umfang:
70 S. 1 Illustration
Rechteinhaber:
Public Domain

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