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Title

Prolog

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Epilog

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Kora Kutschbach

Impressum

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Kora Kutschbach

Copyright 2011 Kora Kutschbach

published at epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN 978-3-86931-992-6

Prolog

13.Dezember,

Viele Menschen, die mir begegnet sind, nennen es das Paradies. Und widersprechen kann man ihnen nicht. Ich selbst bin nicht sicher, ob es ausreichend Worte gibt, jene Idylle, die Joe, die Kinder und ich augenblicklich erleben dürfen, zu beschreiben. Spektakulär, faszinierend, atemberaubend - sind nur wenige Attribute, die uns während der vergangenen sechs Wochen wirklich jeden Tag über die Lippen kamen. Das Campervan-Abenteuer quer durch Neuseeland bekommt uns allen unwahrscheinlich gut, und Joe und ich bemerken, wie sehr sich Finn, Ava und Emily bereits mit dem Land, dessen Herrlichkeit uns stets aufs Neue in den Bann zieht, und den Leuten, deren herzliches Wesen uns allerorts willkommen heißt, identifizieren. Besonders begeistert sind sie von dem Gedanken endlich einmal wieder ein sommerliches Weihnachtsfest zu verbringen. Wer könnte ihnen diese Vorfreude verübeln?

Noch schlummern die Kinder im Campervan und erinnern dabei an Engel, die kein Wässerchen trüben könnten. Müssen ihre Batterien erst einmal richtig aufladen, nachdem die vergangenen Tage sehr kräftezehrend, aber jede Sekunde wert waren. Während für Finn die Kajaktour durch die wunderschöne Golden Bay hätte tagelang hätte weitergehen können, verloren Em und Ava ihre Herzen an die Pferde, auf denen wir einen einzigartigen Ritt entlang der Dünen unternahmen. Joe kam gar nicht hinterher, Aufnahmen mit der Fotokamera zu machen. Und ja, unsere Wanderung durch den Nationalpark hatte es in sich, kein Zweifel. Aber belohnt wurden wir mit unvergleichbaren Eindrücken einer brillanten Vielfalt an einheimischer Flora und Fauna. Und die Kinder liebten unser Familienfotoshooting am Strand, zu welchem der malerisch goldenen Sonnenuntergang den perfekten Hintergrund bot und zugleich der Golden Bay alle Ehre machte.

Ich weiß ziemlich genau, dass all meine Schilderungen für Außenstehende klingen müssen wie übertriebene Bilderbuchfantasien, haha. Aber das ist mir auch egal, denn das hier ist schließlich mein Familienreisetagebuch. Und nein, es sind keinesfalls Beschreibungen übertriebener Traumwelten, sondern ganz persönliche und ehrlich Eindrücke. Die Kinder finden es hier toll à la 'absolut gigantisch' und 'ohhh, ich möchte hier bleiben'. Sie wissen ganz deutlich zu schätzen, was ihnen das Land, dieser riesige Abenteuerspielplatz, zu bieten hat, auch wenn sie dies und jenes mit Kinderaugen sehen und die unglaubliche Bedeutung hinter schützenswerter Natur und zu erhaltenden Traditionen noch nicht genau einzuordnen wissen. Aber kommen die drei heute mit dem Haka oder einem Kiwi in Berührung, werden sie später einmal an jene Kindheitserfahrungen zurückdenken und erkennen, wie was seine ursprüngliche Richtigkeit hat.

Finn ließ uns am vergangenen Montag mehr als ein Dutzend Mal wissen, dass es der beste dreizehnte Geburtstag war, den er sich hätte wünschen können. Seine Freunde würden ihn garantiert um die Stunden auf dem Surfbrett, welche er im Wasser verbrachte, beneiden. Später wolle er einmal dafür sorgen, dass jeder Mensch jene Art von 'outdoor experience' (er verdrängt das Deutschsprechen sogar schon) zu schätzen weiß und der Natur Gutes tut. Dieses Wissen ist es, das Joe und mich unheimlich stolz auf unsere drei Vagabunden macht.

Gerade kehrt Joe mit einem breiten Grinsen zurück. Er war noch vor Sonnenaufgang aufgebrochen, um direkt vom Ozean aus eine grandiosen Blick auf die aufgehende Sonne zu haben, um viele, viele Fotos zu machen. Oh, ich liebe seine Fotos. Sie lassen mich träumen. Und sich jenes Träumen bis ins hohe Alter zu bewahren ist unbezahlbar, denn was sonst verleiht uns neuen Lebensmut, Kraft und Optimismus?

-Zuerst träumst du, dann erwachst du, dann lebst du!- Jene Worte haben mir meine Eltern mit auf den Weg gegeben und ich gebe sie mit größter Wonne an meine Kinder weiter, denn sie bergen einen immensen Funken wahrhaftig erlebter Lebenserfahrung mehrerer Generationen unserer Familie in sich.

K.S.

-1-

Ich bin Ava Louisa Swan! Dieser so simpel erscheinende Satz, kostete mich unendlich viel Kraft, Überwindung und Zuspruch; die mich behandelnden Ärzte und Psychologin unendlich viel Geduld und meinen Bruder unendlich viele schlaflose Stunden.

Nicht, dass ich zu einer Lüge gezwungen worden wäre, denn ich bin Ava Louisa Swan, aber gerade dieses „ich bin”, war ein für mich zu diesem Zeitpunkt ein unerträglicher Zustand, der mir bittere Tränen in die Augen trieb, den Hals zuschnürte und das riesige Loch in meinem Herzen jedes Mal aufs Neue ein Stückchen weiter aufriss.

Ich konnte und wollte nicht verstehen, aus welchem Grund sich die komplette Aufmerksamkeit der Ärzte auf mich richtete, sich die Krankenschwestern rührend um mich bemühten und das von schwarzen Augenringen und tiefen Sorgenfalten gezeichnete, mittlerweile ausgemergelte Gesicht meines Bruders stets einen Funken Hoffnung zeigte, sobald ich meinen starren Blick von dem marine-blauen Vorhang des Fensters abwandte oder sich meine geballten Fäuste leicht entspannten. Weshalb wollte jeder, dass es mir besser ging, sei es auch nur ein kaum messbares Bisschen? Weshalb wollte jeder diesen gottverdammten Satz: „Ich bin Ava Louisa Swan” von mir hören? Weshalb wollte niemand einsehen, dass es kein „ich bin” mehr gab? Meine äußere Hülle existierte zwar, aber mein Inneres bestand nur noch aus Schmerz, niemals enden wollendem Schmerz; Leere, niemals mehr zu füllender Leere; und Verzweiflung, niemals zuvor empfundener Verzweiflung. Kurz gesagt, mein Inneres war gefüllt mit entsetzlicher Trauer!

Hätte ich nun auch nur ein winziges Wort gesprochen oder hätte ich dem Drang nach Entspannung auch nur für einen kleinen Moment nachgegeben, hätte ich riskiert, einen Teil dieser Trauer zu verlieren. Und das durfte ich nicht zulassen, denn mit dieser Trauer wäre dann der letzte Strohhalm, an den ich mich mit aller noch verbliebenen Macht klammerte, verschwunden. Nein, das durfte nicht geschehen!

Heute kann ich das Handeln der Ärzte und Schwestern nachvollziehen, heute empfinde ich die Ambitionen meines Bruders als dankbare Hilfe und heute weiß ich, wie dumm und egoistisch meine Gedanken und mein Verhalten waren. Aber ich bezweifle auch, dass man in meiner damaligen Situation von „Gedanken” und „Verhalten” sprechen konnte. Erstens war ich nicht mehr Herr meiner Gedanken im herkömmlichen Sinne und zweitens verhielt ich mich nicht, sondern resignierte! Eine Ausnahmesituation, die wir, mein Bruder und ich, zu überwinden hatten. Nein, überwinden mussten, um in ferner Zukunft einmal wieder klar und bewusst „denken” und uns verantwortungsvoll und unbeschwert „verhalten” zu können. Der Weg zu diesem, für jeden anderen Menschen alltäglichen Ziel, sollte lang und mühevoll und mehr als beschwerlich werden, aber irgendwie, und oftmals weiß ich gar nicht genau wie, haben wir es geschafft!

 

Ich bin dir unendlich dankbar, mein geliebter Finn! Gemeinsam sind wir durch die lodernde Hölle gegangen, gemeinsam haben wir das Verließ der totalen Verwirrung hinter uns gelassen! Doch du warst schon immer der Stärkere von uns beiden! Du warst mein Fels in der Brandung, die mich davonzureißen drohte. Du warst die ewige Flamme, die mich durch die tiefste aller Dunkelheiten führte. Du glaubtest an mich, als ich mich längst aufgegeben hatte. Du bist mein Engel auf Erden. Du bist immer für mich da. Wie habe ich einen Bruder wie dich verdient? Ich weiß es nicht! Ich weiß nur, dass ich ohne dich nicht mehr Ava Louisa Swan wäre. Ich habe dich unwahrscheinlich lieb und schätze dich als unersetzbaren Teil meines nun wieder frohen Herzens!!!

-2-

Nachdem ich mein Leben nach verbissenem Kampf und mithilfe der aufopfernden Unterstützung einiger ganz besonders wertvoller Menschen in geordnete Bahnen gelenkt hatte, mir das Leben von Tag zu Tag wieder weniger schwer fiel und ich schließlich auch wieder die wunderbaren Seiten des Seins entdeckt habe, kam ich nach langem Hin- und Herüberlegen zu dem Entschluss, diese Geschichte, meine ganz persönliche Geschichte, in Worten auf Papier festzuhalten.

Es ist nicht so, dass ich mich nach dem noch größeren Ruhm sehne, Bewunderung erwarte oder als leuchtendes Vorbild gesehen werden möchte. Nein, ganz und gar nicht! Im Gegenteil, bis vor einiger Zeit mied ich es, im Mittelpunkt zu stehen, erwiderte Komplimente nur mit einem schwachen Lächeln und sah überhaupt keinerlei Grund, mich jemals wieder derart zu engagieren, dass ich auch nur annähernd als Vorbild gesehen werden könnte. Zur Erleichterung aller, habe ich mittlerweile jene gewisse Scheu verloren und neuen Mut gefasst, sodass ich keine Hemmungen mehr habe, auch ab und an ein Lob oder konstruktive Kritik anzunehmen. Aufgrund nahezu unglaublicher Geschehnisse, musste ich von einem Tag auf den anderen lernen, dass das Schicksal sowohl sehr positive als auch grauenvoll negative Überraschungen für einen bereithält. Dennoch strebe ich mit der Veröffentlichung meiner bisherigen Lebensgeschichte nicht danach, Everybody's Darling zu werden. Mir liegt nur daran zu beweisen, dass es möglich und nötig ist, auch aus dem tiefsten Tal der Tränen wieder emporzusteigen, sich von den engsten Ketten der Verzweiflung zu befreien sowie den unüberwindbar scheinenden Mauern der Einsamkeit zu entkommen, um zurück in das aufgeweckte, kostbare Getümmel des Lebens zu finden.

Das Schreiben war, neben der grenzenlose Liebe meiner Familie und Freunde, die beste und wirkungsvollste Medizin! Das Schreiben war mein Heilmittel, das mir half die schmerzenden Wunden allmählich zu schließen. Das Schreiben ist noch immer mein Geheimrezept gegen die wiederkehrende Melancholie, die ich wohl nie vollkommen hinter mir lassen werde. Inzwischen ist das Festhalten meiner Gedanken, Erinnerungen und Zukunftspläne wie zu einer Droge geworden, der ich nicht mehr entkommen kann, in diesem Fall auch nicht mehr vollständig entkommen möchte. Papier ist geduldig! Und Geduld war das einzige Mittel, das mir anfangs zu helfen vermochte. Auf diese Weise konnte ich meine Verzweiflung offenbaren, meine Wut bändigen, meine Hoffnungen schüren oder diese unbeschreibliche Leere füllen. Ich habe, solange ich denken kann, schon immer gern ein zweites Leben zwischen den Seiten dicker und spannender Wälzer und selbst geschrieben Abenteuer geführt, aber dieses zweite Leben wurde zeitweise zu meinem Einzigen. Mein Tagebuch war für mich wie ein Freund; besser noch, wie meine Schwester, der ich meine Gedanken anvertrauen kann; oder wie meine Mum, die stets ein offenes Ohr für meine Ängste hat; oder wie mein Daddy, mit dem ich die ver- rücktesten Ideen aushecken kann!

Wenn man sein Leben in einem Tagebuch festhält, ist man in der Lage, seinen Emotionen freien Lauf zu lassen und in einer eigenen Traumwelt zu leben. Man muss sich für seine geäußerten Gedanken nicht rechtfertigen, muss nicht jedes Wort in die Waagschale legen, sondern kann sich frei fühlen. Wenn man allerdings nur noch in einer solchen Traumwelt lebt, wird dies gefährlich und nimmt längerfristig kein glückliches Ende. Aus heutiger Sicht bin ich froh, noch rechtzeitig zu dieser Erkenntnis gefunden zu haben. Jedoch möchte ich meinem imaginären Tagebuchfreund dafür danken, stets für mein Wohl gesorgt zu haben und mein Antrieb gewesen zu sein!

Doch so geduldig eine Seite Papier sein mag, so wenig wahren Zuspruch kann sie einem geben. Nur echte Menschen aus Fleisch und Blut, mit Herz und Seele sind dazu in der Lage.

Auch das zu erkennen und zu akzeptieren war ein langer, steiniger Weg für mich! Aber ich ging diesen Weg nicht allein!

Isabella und Mickey, danke, dass ihr mich in den düstersten Momenten meines Daseins in den Arm genommen habt und mir durch eure pure Anwesenheit, euer unerschöpfliches Verständnis und eure unerschütterliche Freundschaft Stück für Stück den Weg zurück in ein lebenswertes Leben gezeigt habt.

Ein Lächeln sagt mehr als tausend Worte! Dank euch entdeckte ich jenes Lächeln und sogar das herzliche Lachen neu! Ich bin unheimlich stolz auf euch! Ihr habt mehr Stärke bewiesen, mehr Einfühlungsvermögen gezeigt und mir mehr Liebe entgegengebracht, als ich je hätte erwarten dürfen! Ihr seid meine wahren Helden!

Meinen vier Schätzen, die mich stets geliebt und mir vertraut haben, die mir immer Wärme und Geborgenheit entgegengebracht haben und die mir den dringend notwendigen Lebensmut zurückgegeben haben, möchte ich an dieser Stelle genauso viel und noch viel mehr Liebe und Kraft zurückgeben!

Oma Louisa und Opa Otto, Granny Ava und Gramps Allister, ich liebe euch, umarme euch, bewundere euch! Das Schicksal erschütterte die Grundmauern eures Lebens nicht weniger, dennoch habt ihr nie daran gezweifelt, gemeinsam mit mir und Finn, etwas Wunderbares und Einmaliges im Leben wiederzufinden.

-3-

Im Grunde wünschte ich, jene Geschichte, würde auf diese bestimmte Art und Weise überhaupt nicht existieren, denn sie ist gekennzeichnet von Leid und Tragik, Verzweiflung und Trauer. Jedoch ist es nun einmal so, dass man sich seine Geschichte nicht aussuchen, geschweige denn selbst bestimmen kann. Ich würde alles, absolut alles dafür geben, dass ich nur ein einziges Mal mit dem Schicksal einen Pakt hätte aushandeln können! Doch wir leben in einer unvorhersehbaren Welt! Eine entweder grausame oder wunderbare Tatsache. Für mich traf damals einzig ersteres Attribut zu.

Allerdings habe ich über die letzten Jahre, die ohne Zweifel die schwersten, zugleich rasantesten meines Lebens und offenbar von einer unsichtbaren Macht gelenkt waren, gelernt, das Schicksal zu akzeptieren und es ebenso auszukosten. Ich habe noch nicht gelernt, es zu verstehen, aber das will ich eigentlich auch nicht!

Man muss sein Schicksal akzeptieren und die Hoffnung haben, es müsse ein tieferer Sinn hinter all denen uns widerfahrenden Dingen stecken. Denn Hoffnung ist einer der tragenden Eckpfeiler, der die Brücke unseres Lebens aufrechterhält!

Ich bin nun nichtsdestotrotz dankbar dafür, dass diese Geschichte so zu lesen ist wie sie es ist, denn sie zeigt, wie viel Stärke man aufbringen kann, nur weil es Menschen gibt, die an einen glauben, wenn man es selbst schon lange nicht mehr tut, und für die es sich lohnt zu leben.

Meine Geschichte habe ich in erster Linie geschrieben, um Erinnerungen am Leben zu erhalten und wie in einem Schatzkästchen aufzubewahren. Mit Erinnerungen ist dies möglich!

Erinnerungen erhalten uns ebenso am Leben wie die Hoffnung, denn sie bringen uns die positiven, freudigsten und aufregendsten Momente, die das Sein lebenswert machen, zurück!

Ich widme meine Geschichte den drei Menschen, denen es vom Schicksal nicht mehr gestattet wurde, ihre eigene zu schreiben!

Mum, Daddy, Emily! Ich vermisse euch! Ich liebe euch! Ich lebe für euch!

Finn und ich hatten das fantastische, nicht in Worte zu fassende Glück, euch unsere Familie nennen zu können! Unaussprechlich wertvoll waren die gemeinsamen Jahre, kostbar sind unsere Erinnerungen an euch!

Wir wissen, ihr seid noch immer da für uns. Wir fühlen, ihr leitet uns täglich aufs Neue. Ohne euch zu leben ist unsagbar schwer, aber in Wirklichkeit sind wir niemals ohne euch, denn ihr bleibt auf ewig ein Teil von uns!

-4-

Ich war ein glücklicher und ausgeglichener, zufriedener und aufgeschlossener Mensch, dessen Leben eine grandiose Familie und unzählige Abenteuer ausmachte!

Gemeinsam mit meinen Eltern, Klara und Joe Haywood Swan, und meinen Geschwistern, Emily und Finn Swan, erlebte ich wunderbare und unvergessliche Monate während unserer Reisen rund um den Globus sowie frohe und normal chaotische Momente, wenn wir daheim einen Ruhepol fanden. Ich kann ohne eine Sekunde zu zögern sagen, dass ich eine Kindheit hatte, die ich mir nicht schöner, bunter und aufregender hätte wünschen können! Oftmals wurden Emily, Finn und ich um unser freies und außergewöhnliches Leben beneidet. Es gab nur wenige, die uns jene Unbeschwertheit nicht recht zu gönnen vermochten, uns für nicht zu zähmende Zappelphilippe hielten und unseren Eltern einen zu antiautoritären Erziehungsstil vorwarfen. Manchmal höre ich noch die Worte unserer runzligen und verbittert scheinenden Nachbarin, die uns Kleinen mit erhobenem Zeigefinger einmal in unnachahmlicher Lehrmeistermanier ermahnte: „Aus solch kleinen Vagabunden wie euch kann später auch nichts als ein großer Vagabund werden, und große Vagabunden bringen es zu einem großen Nichts!”

Nun gut, jedem das Seine. Seither antwortete mein Bruder, wenn er nach seinem Namen gefragt wurde mit den Worten: „Ich bin Finn Vagabund Swan” und neben einem breiten Grinsen, das sich daraufhin in unseren Gesichtern zeigte, erfüllte diese Aussage uns Kinder stets mit einer ordentlichen Portion Stolz!

Jedes Kind hält seine Eltern für die Besten, die Größten, die Liebsten! Und das zu Recht! Auch für uns waren Mum und Daddy die absolut tollsten Eltern überhaupt! Sie sind es heute noch!

Meine Eltern lebten ihren Traum, egal was wer davon hielt. Meine Eltern lebten diesen Traum gemeinsam mit Emily, Finn und mir. Meine Eltern sorgten dafür, dass ihre Kinder etwas Lohnenswertes und Erstrebenswertes, nichts Verwerfliches im Träumen sahen!

Daddy wurde in der größten Metropole Kanadas, Toronto, geboren und wuchs umgeben vom multikulturellen Großstadtleben auf. Allerdings lernte er auch, was es hieß die stille und unfassbare Weite des Landes zu schätzen. Wahrscheinlich, nein eigentlich ganz bestimmt, brachten ihn diese kontrastreichen Eindrücke zu einer seiner Leidenschaften, dem Fotografieren, die er später zum Beruf machte.

Ich liebe es, die alten, liebevoll gravierten und kunstvoll bemalten Holzkästchen, die noch immer unter meinem Bett stehen, zu öffnen und in die Welt seiner beeindruckend lebendigen Fotografien, die einzigartige Momentaufnahmen darstellen, einzutauchen. Dazu die handgeschriebenen, tagebuchähnlichen Notizen auf der Rückseite jedes Bildes, und ich sehne mich sofort an den Ort der Aufnahme und in die glückliche Zeit unserer vergangenen Abenteuer zurück!

Im Norden Deutschlands, an der Küste der Ostsee, verbrachte Mum ihr Kindheit und Jugend. Sie meinte immer, die frische Brise und die salzigen Wellen der See hätten in ihr den Weltentdeckerdrang geweckt. Der Wunsch nach dem Ausbrechen aus der eigenen Welt und dem Erleben anderer Kulturen habe sich vor allem nach ihrer Ausbildung zur Kinderkrankenschwester verstärkt, erzählte sie uns begeistert und mit den hübsch leuchtenden Augen.

Mum war geduldig, unglaublich einfühlsam, brillant geschickt im Umgang mit Kindern, aber zugleich ein vom Fernweh befallener Mensch. Demnach war es keine Überraschung, dass sie in der weiten Welt ihren Beruf ausüben wollte, anstatt Zeit ihres Lebens an einem einzigen Ort zu verweilen.

War es nun der pure Zufall oder doch jenes unsichtbare Band, das uns von Geburt an mit unserem Seelenverwandten verbinden soll? In Schweden trafen Mum und Daddy schließlich aufeinander und merkten bald, dass sie ähnliche Erwartungen vom Leben und dieselben Wünsche für die Zukunft hatten.

Gemeinsam arbeiteten sie in fernen Ländern, tauchten in neue Kulturen ein und verbrachten unbezahlbare Stunden an den spannendsten Orten der Erde. Bewundernswert finde ich bis heute, dass es die beiden schafften ihren Traum auch als Familie umzusetzen und uns Kindern somit ein enormes Stück Weltoffenheit und Toleranz, Vielfalt und Freiheit zu lehren. Ein wichtigeres Geschenk hätten sie uns wohl kaum machen können!

 

Als Finn ungefähr eineinhalb Jahre alt war, hielt es Mum und Daddy nicht mehr im gemütlichen Reetdachhaus am Meer. Zu dritt, dann zu viert und später zu fünft zog die deutsch-kanadische Familie Swan (eigentlich deutsch-kanadisch-britische Familie, da Granny aus Canterbury stammt) um den Globus, wobei die Wurzeln der „Vagabundenkinder” in Lübeck lagen, wo wir allesamt geboren wurden.

Ich empfand es nie als Last von Land zu Land, Kultur zu Kultur zu ziehen. Wir waren schließlich keine Zirkusfamilie, die ihre Zelte bereits nach wenigen Wochen regelmäßig hinter sich abbrechen musste. Nein, wir verbrachten stets mehrere Monate in einem Land, während Daddy als Fotograf für diverse Verlage tätig war und Mum ebenfalls in ihrem Beruf vor Ort arbeitete.

Als Kind wächst du in die dir vorgelebten Gewohnheiten problemlos und selbstverständlich hinein, und stehst neuen Abenteuern ohne Skepsis gegenüber. Eine Leichtigkeit, die sich leider nur sehr wenige Menschen bis ins hohe Alter bewahren. Daher liebte ich unser Leben so und nicht anders! Jedes Jahr verweilten wir, wie es unsere Wurzeln vorsahen, für sechs Monate an der deutschen Küste, und anschließend verschlugen uns entweder Daddys Aufträge oder unsere Eigeninitiative, Neugier und Wünsche in eine vorher unabsehbare Richtung.

Finn und ich danken unseren Eltern jetzt noch täglich dafür, wie und mit welcher Selbstsicherheit und Überzeugung sie uns erzogen haben! Ein Kind orientiert sich hauptsächlich an seinen Eltern und unsere gaben ein unvergleichliches Vorbild ab, welches ich allen Kindern aus tiefstem Herzen wünsche! Natürlich, wenn man von Menschen wie jener engstirnigen und leicht schrulligen Nachbarin als irgendwie verkorkst bezeichnet wird, tut das weh. Im Nachhinein mehr als damals, aber wahrscheinlich nur, weil ich die unergründlichen Tiefpunkte der Geschichte kenne, andererseits stachelt einen solche Kritik umso mehr an, seinem Weg treu zu bleiben! Nach dem Motto „Jetzt gerade.“ Meine Eltern taten dies und bereiteten uns eine fantastische Kinder- und Jugendzeit. Wenn ich es nicht besser wüsste, könnte ich gelegentlich gar auf den abwegigen Gedanken kommen, sie hätten bereits von ihrem/unserem Schicksal gewusst.

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