Buch lesen: «Gia Yü»
Konfuzius
wurde im Jahre 551 v. Chr. im Fürstentum Lu in der heutigen Provinz Schantung geboren. Im Laufe der Jahrzehnte gingen 3000 junge Männer durch seine Schule und verbreiteten seinen Ruhm und seine Lehre. Nach seinem von ihm selbst vorausgesagten Tod 479 v. Chr. wurde Konfuzius von seinen Schülern mit großem Prunk begraben. Seine Anschauungen prägen noch heute Leben und Kultur vieler asiatischer Länder.
Richard Wilhelm
(1873–1930) war einer der maßgeblichen Vermittler der chinesischen Sprache, Philosophie und Kulturgeschichte. Als Abgesandter der evangelisch-lutherischen Ostasienmission brach er 1899 in das Kaiserreich China auf. Bis 1921 war er als Missionar, Pfarrer und Pädagoge in Tsingtau tätig, lernte Chinesisch und setzte sich intensiv mit den Werken des klassischen chinesischen Altertums auseinander. 1924 erhielt er einen Lehrstuhl für Sinologie in Frankfurt am Main und wurde erster Direktor des von ihm erbauten China-Instituts. Durch seine Übersetzungen klassischer chinesischer Schriften etwa von Konfuzius oder Mengzi eröffnete er vielen Europäern den Zugang zur asiatischen Kultur und Lebensweise.
Zum Buch
»Lernen, ohne zu denken, ist eitel; denken, ohne zu lernen, gefährlich.«
Konfuzius
Die tiefgreifende Philosophie des Konfuzius ist noch heute in weiten Teilen Asiens und in der westlichen Welt Mittelpunkt gesellschaftlich-philosophischer Debatten. In den von seinen Schülern nachträglich aufgezeichneten Gia Yü stellt der Meister seine auf Mitgefühl und Besonnenheit basierende Weltsicht, die auf die richtige Art des Regierens, allgemeine Sitten und Bräuche sowie Freundschaft abzielt, seinen Schülern dialogisch zur Diskussion. Durch ihre Zeitlosigkeit können die konfuzianischen Dialoge noch heute sowohl einer Beantwortung moralischer Fragen im Alltag als auch der Lösung komplex-philosophischer Probleme dienen.
In den Gia Yü, den konfuzianischen Lehrgesprächen, diskutiert und beurteilt Konfuzius mit seinen Schülern Begriffe, deren Verständnis dabei helfen soll, dem richtigen Leben und Handeln zu folgen. Im Zentrum der Überlegungen des Konfuzius stehen dabei die fünf Haupt-Tugenden: Menschlichkeit, Gerechtigkeit, sittliches Verhalten, Weisheit und Güte. Die Dialoge zwischen Meister und Schülern vermitteln noch heute auf verständliche Weise eine Weltsicht, die nicht nur China geprägt, sondern auch in der westlichen Welt einen großen Raum eingenommen hat.
Konfuzius
Gia Yü
Aus dem Chinesischen verdeutscht und erläutert
von Richard Wilhelm
Konfuzius
Gia Yü
Konfuzianische Lehrgespräche
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Der Text basiert auf der Ausgabe marixverlag, Wiesbaden 2014
Covergestaltung: Groothuis. Gesellschaft der Ideen und Passionen mbH
Hamburg Berlin
Bildnachweis: Hintergrundmotiv © Irina Afonskaya,
Zeichnung © Carolin Hüttich
eBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main
ISBN: 978-3-8438-0445-5
INHALT
Einleitung
DIE BEDEUTUNG DER KONFUZIANISCHEN SCHULGESPRÄCHE • DIE TRADITION DES TEXTES
1. KAPITEL: SIANG LU / Beamter in Lu
Stadthauptmann in Dschung Du • Aufseher der öffentlichen Arbeiten • Die Fürstenzusammenkunft in Gia Gu • Schleifung der Stadtmauern der drei Adelsgeschlechter • Handel und Wandel
2. KAPITEL: SCHÏ DSCHU / Die erste Hinrichtung
Kungs Freude über seinen Erfolg • Die Hinrichtung des Schaudscheng Mau • Vater und Sohn vor Gericht
3. KAPITEL: WANG YEN GIË / Ausführungen über die Königsworte
4. KAPITEL: DA HUNG GIË / Ausführungen über die feierliche Ehe
5. KAPITEL: JU HING GIË / Ausführungen über den Wandel der Schriftgelehrten
6. KAPITEL: WEN LI / Die Fragen nach der Sitte
7. KAPITEL: WU I GIË / Ausführungen über die fünf Stufen der Menschen
Wie ein Fürst das Leben kennenlernt • Wahl der Leute • Wie Kriege überflüssig werden • Das Brettspiel und der Edle • Jeder ist seines Glückes Schmied • Wie man alt wird
8. KAPITEL: DSCHÏ SÏ / Gedankenschau
Gedankenschau • Das geringe Geschenk • Der geschenkte Fisch • Der edle Sträfling • Hilfe der Umstände • Über König Wen • Wie man sich in einem Lande umsieht • Mißverstandene Menschlichkeit • Guan Dschung • Der einsame Mensch • Der Wert der Bildung • Die Pietät des Dsï Lu • Der unverhoffte Freund • Der Alte am Wasserfall • Der nicht entlehnte Regenschirm • Das glückliche Vorzeichen • Über das Leben nach dem Tode • Von Pferden und Menschen • Auslösung von Gefangenen • Regierung einer aufsässigen Bevölkerung
9. KAPITEL: SAN SCHU / Dreifache Wechselseitigkeit
Dreifache Wechselseitigkeit und drei Warnungen • Der Weg des Wirkens • Der Wunderbecher • Das Wasser • Die eingelegten Fensterläden • Drei Dinge, die zu meiden sind • Drei Ansichten über Weisheit und Liebe • Gegen blinden Gehorsam • Die Gefahren eines großartigen Auftretens • Der Edelstein
10. KAPITEL: HAU SCHENG / Liebe des Lebens
Die Krone Schuns • Sieg des Edelmuts über die Ländergier • Das Orakel • Der Sorbenbaum • Der stärkste Schutz • Der verlorene Bogen • Die Art, wie Kung Dsï Recht sprach • Beurteilung • Übles Zeichen • Beschämung zweier streitender Staaten • Takt im Verkehr • Kleidung und Sittlichkeit • Die rechte Art der Ehrerbietung • Die Herrschaft des Geistes und die Sinnlichkeit • Die dreifache Sorge und die fünffache Scham des Edlen • Der Jüngling aus Lu • Ordnung, nicht Schärfe • Menschlichkeit und ihr Erfolg
11. KAPITEL: GUAN DSCHOU / Die Reise nach der Dschouhauptstadt
Kurze Beschreibung der Reise • Das Lichtschloß • Das Standbild mit dem verschlossenen Munde • Bei Lau Dsï
12. KAPITEL: DI DSÏ HING / Der Wandel der Jünger
13. KAPITEL: HIËN GÜN / Der beste Fürst
Der beste Fürst • Die besten Räte • Vergessen • Wahrung des Lebens • Die Not des Gerechten in übler Zeit • Staatsregierung: Ehre die Weisen • Demut und Weisheit • Gründe des Erfolgs • Wie man das Volk wohlhabend und langlebig macht • Selbstbeherrschung als Grundlage der Staatsbeherrschung • Wie man sein Reich glücklich machen kann
14. KAPITEL: BIËN DSCHENG / Diskurse über die Regierung
Verschiedene Ratschläge an verschiedene Fürsten • Fürstenzensur • Glück im Unglück • Indirekte Beeinflussung • Freunde des Meisters • Der Regenvogel • Regierungsgeheimnisse • Diebstahl geistigen Eigentums • Kennzeichen einer guten Verwaltung
15. KAPITEL: LIU BEN / Die sechs Grundlagen
Die Grundlagen des Lebens • Vom Nutzen des Widerspruchs • Unverdiente Besoldung • Der Tempelbrand • Verschiedenes Verhalten nach der Trauerzeit • Wert der Gesinnung • Der Vogelfänger • Beim Studium des Buchs der Wandlungen • Tradition und Gesinnung • Zu weit getriebene Kindlichkeit • Die Hilfe guter Räte • Gute Eigenschaften • Wirkungen des Umgangs • Der Rat des Yen Ping Dschung • Maßhalten • Toren und Weise • Wie man dem Fürsten dient
16. KAPITEL: BIËN WU / Naturkundliches
17. KAPITEL: AI GUNG WEN DSCHENG / Die Fragen des Fürsten Ai über die Regierung
18. KAPITEL: YEN HUI
Trennungsschmerz • Der vollendete Mensch • Der Edle • Richtlinien der Güte • Der Gemeine • Mahnung an Dsï Lu • Unterschied zwischen dem Edlen und Gemeinen • Über Freundschaft • Wider das Verunglimpfen • Wider das Richten
19. KAPITEL: DSÏ LU TSCHU DIËN
Dsï Lus erste Begegnung mit dem Meister • Dsï Lus Abschied • Rechtfertigung der Amtsführung des Meisters • Verschiedene Wirkungen derselben Verhältnisse • Ehrfurcht vor dem täglichen Brot • Verschiedene Gesinnung bei gleicher Handlung • Der Schein trügt • Der Edle und der Gemeine • Persönlicher Wandel
20. KAPITEL: DSAI O / In Bedrängnis
Im Sturm nicht zagen • Dseng Dsïs stolze Armut
21. KAPITEL: JU GUAN / Eintritt in die amtliche Laufbahn
22. KAPITEL: KUN SCHÏ / Erzwungener Eid
Über Kindesehrfurcht • Die Kunst des Untenseins
23. KAPITEL: WU DI DE / Über die Kraft der fünf Herrscher
24. KAPITEL: WU DI / Die fünf Herrscher
25. KAPITEL: DSCHÏ PE / Zügelhaltung
26. KAPITEL: BEN MING GIË / Erklärung der ursprünglichen Bestimmung
27. KAPITEL: LUN LI / Über die Sitte
Über die Sitte • Über Lieder, Musik und die Sitte
28. KAPITEL: GUNG SCHE / Über Gautrinken und Schützenfeste
Das Schützenfest • Gautrinken • Fasching
29. KAPITEL: GIAU WEN / Fragen über das Angeropfer
30. KAPITEL: WU HING GIË / Ausführungen über die fünf Strafen
Gesetz und Sitte
31. KAPITEL: HING DSCHENG / Strafen und Regieren
32. KAPITEL: LI YÜN / Die Entwicklung der Sitte
33. KAPITEL: GUAN SUNG / Die Männerweihe
34. KAPITEL: MIAU DSCHÏ / Einrichtung der Ahnentempel
35. KAPITEL: BIËN YÜO GIË / Über Musik
Dsï Lus Zitherspiel
36. KAPITEL: WEN YÜ / Über den Nephrit
Der Wert des Nephrits • Wie man die Regierung eines Landes kennenlernt • Die Lehren der Heiligen
37. KAPITEL: KÜ DSIË GIË / Beugung der Grundsätze
Der Edle in Glück und Unglück • Die Rettung von Lu • Der alte Bekannte
38. KAPITEL: TSI SCHÏ ÖRL DI DSÏ GIË / Die 72 Jünger
39. KAPITEL: BEN SING GIË / Der Stammbaum des Meisters
40. KAPITEL: DSCHUNG GI GIË / Das Ende des Meisters
41. KAPITEL: DSCHENG LUN GIË / Richtigstellung der Reden
Der Förster • Wo Kungs Jünger das Kämpfen gelernt haben • Hinterlassene Anordnungen des Mong Hi Dsï • Ungehörige Freudenzeichen • Fiat justitia • Diplomatische Geschicklichkeit • Diplomatische Mahnung eines Fürsten • Unparteilichkeit • Der unparteiische Bruder • Das Ventil der öffentlichen Meinung • Dsï Tschans Eintreten für sein Land • Das Vermächtnis Dsï Tschans an seinen Nachfolger • Grausamkeit der Regierung • Gerechte Verteilung • Eherne Gesetze • Freiheit von Aberglauben • Des Meisters Rückkehr nach Lu • Fürstenmord • Hoftrauer • Gefährliche Ehrung • Die Arbeit der Frau • Unklugheit • Habsucht • Dsï Tschans Güte • Ehre vor dem Alter • Unheilvolle Einflüsse • Nehmen und geben
42. KAPITEL: KÜ LI DSÏ GUNG WEN / Die Fragen des Dsï Gung nach den Einzelsitten
Korrektur der Geschichte • Paradoxe • Benehmen des Fürsten in Notzeiten • Gegen Unordentlichkeit • Der Stallbrand • Luxus und Knickerigkeit • Dsang Wen Dschung • Dsang Wu Dschung • Die stärkste Wehr • Mitleid im Krieg • Reform der Trauersitten • Rücksicht auf verstorbene Beamte • Mangelhafte Trauerkleidung • Trauer beim Tod eines Halbbruders • Ehrung jugendlicher Tapferkeit • Mangelhafte Trauer • Beachtung der Regel • Traueranweisung an die Nichte • Die höchste Trauerbezeigung • Vollendung der Trauer • Grenzen der Trauer • Höhere Stufe der Vollkommenheit • Ende der Trauer • Armut kein Hindernis der Trauer • Wie Gi Dscha seinen Sohn begrub • Wert der Gesinnung • Sorgfalt des Meisters • Dsï Lus Trauer um seine Schwester • Die Trauer von Kungs Sohn • Ehehindernisse • Der Fürst und seine Verwandten
43. KAPITEL: KÜ LI DSÏ HIA WEN / Die Fragen des Dsï Hia nach den Einzelsitten
Blutrache • Beschäftigung während der Trauer • Prinzenerziehung • Trauer um eine Fürstin • Ausnahmen bei der Trauer • Rücksicht des Meisters • Beim Essen • Trauer der Beamten um Minister • Trauer um die Eltern • Zeit der Beileidsbezeugung • Zwei Männer der Vorzeit • Trauer für die Pflegemutter • Des Meisters Trauer • Vorsicht des Meisters • Vorsicht im Urteil • Yen Ping Dschungs Bescheidenheit • Warnung vor Übermut • Warnung vor der Trauer um einen Unwürdigen • Verstoß gegen die Sitte • Beim Tode Gung-Fu Wen-Bos • Der Tod des Dsï Lu • Der Tod des Gi Huan Dsï • Über Ahnentafeln • Des Meisters Hund
44. KAPITEL: KÜ LI GUNG-SI TSCHÏ WEN / Die Fragen des Gung-Si Tschï nach den Einzelsitten
Beerdigung zurückgetretener Würdenträger • Erbfolge • Der Tod der Mutter des Meisters • Yang Hus Taktlosigkeit • Nach Yen Huis Tod • Über den Sinn der Totenopfer • Die Geräte für die Toten • Gefahren des Totenkults • Nach Yen Huis Tod • Des Meisters Opfer für seine Eltern • Dsï Lus Vorkehrungen beim Opfer • Änderungen der Stadtordnung • Fasten • Weibliche Zurückgezogenheit • Unpassende Kleidung
Anmerkungen
Namenregister
Bibliographie
EINLEITUNG
Die Bedeutung der Konfuzianischen Schulgespräche
Die Gia Yü oder die Konfuzianischen Schulgespräche bilden eine Sammlung von 44 Kapiteln. Sie enthalten teils Geschichten aus dem Leben des Meisters Kung, teils Anekdoten, Gespräche, Urteile über Zeitgenossen und historische Persönlichkeiten, teils endlich Ausführungen größeren Umfangs über verschiedene Lebensfragen. Sie geben sich als Aufzeichnungen von Jüngern. Von den Lun Yü unterscheiden sie sich im Allgemeinen stilistisch. Die Lun Yü enthalten das Material geschliffen zu einzelnen Aphorismen. Der Anlaß der einzelnen Aussprüche ist oft nur noch stichwortartig vorausgestellt, so daß – ähnlich wie bei Goethes Sprüchen in Prosa – der Zusammenhang des Erlebens, aus dem heraus der Gedanke sich kristallisiert hat, zwar nicht ganz getilgt ist, aber doch aufs Äußerste komprimiert. Die Schulgespräche sind in diesem Stück umfangreicher, geben mehr Einzelheiten, mehr Ausmalung der Lage; der Stil ist breiter, ausgeführter.
Aber eben deshalb bietet dieses Werk mehr allgemein zugängliche Seiten als jene aufs Äußerste vereinfachten Sentenzen der Lun Yü, deren verständliche Übersetzung unter Wahrung ihres Stils fast zu den Unmöglichkeiten gehört. In mancher Hinsicht sind die Schulgespräche eine überaus wertvolle Ergänzung der Lun Yü, da sie unvermitteltes Licht auf manch einen der dunklen Aussprüche jenes Werkes werfen, der im Schein dieses Lichtes nun erst recht frisches Leben gewinnt.
Gewiß hat sich in diesen Geschichten ein geistiges Element an der Gestaltung beteiligt, formend und den Sinn deutlicher herausarbeitend, als er im unmittelbaren Erlebnis zutage trat. Dieser Geist, der so die einzelnen Stücke gestaltet, ist der Geist der konfuzianischen Schule. Der Vorgang, der uns hier entgegentritt, ist nichts anderes als die Gestaltung einer konfuzianischen Wirklichkeit höherer Ordnung aus den Vorgängen der geschichtlichen Wirklichkeit heraus. Etwas von dieser geistigen Assimilation der unmittelbaren Wirklichkeit finden wir ja in der Atmosphäre jedes wahrhaft großen Mannes, und es wäre ein verkehrtes Streben, es anders haben zu wollen; denn jeder Große kann nur dann ganz von uns aufgefaßt werden, wenn wir die geistigen Wirkungen, die von ihm ausgehen, mit zu seinem Bilde hinzunehmen. Man kann geradezu sagen, daß, je weniger Mythos sich um einen Mann bildet, desto weniger er uns zu geben vermag. Nur gibt es für den Mythos sozusagen Tonarten. Nicht jeder Mythos ist gleichwertig. Im höchsten Sinne wahr ist nur der Mythos, der den tiefsten Regionen des menschlichen Wesens entspricht.
Daß der Mythos, der Kungs Bild umgibt, etwas ungemein Rationelles an sich hat, läßt oft eine Täuschung darüber aufkommen, als ob es sich hier nicht um einen Mythos handelte. Aber nur deswegen konnte dieses Menschenbild so lange Jahrhunderte hindurch so vielen Menschen so lieb und teuer sein. Und gerade daß dieser Mythos des Konfuziusbildes etwas so Naheliegendes ist, das nirgends über die Grenzen einer maßvollen Mitte hinausgeht, das ist der Grund, daß er eine harmonische Lebensgestaltung leichter gemacht hat als manches andere Ideal mit größerer Spannweite.
Die Tradition des Textes
Die heutige Version der Schulgespräche geht auf Wang Su zurück. Er soll, so will es die Tradition, den Text ediert und mit Anmerkungen versehen haben. Die Persönlichkeit des Wang Su ist wohlbekannt. Er war ein Gelehrter und Staatsmann des dritten nachchristlichen Jahrhunderts am Hofe der We-Kaiser, die unmittelbar auf die Han-Dynastie folgten. Throneingaben kulturpolitischen Inhalts von seiner Hand sind erhalten; erhalten ist auch, jedenfalls in Teilen, eine Diskussion über dogmatische Fragen, die er mit den Vertretern einer ihm zuwideren Schule des Konfuzianismus geführt hat. Es ist von ihm berichtet, daß er in den Riten und den Klassikern außerordentlich beschlagen war – er soll eine Reihe von ihnen kommentiert haben –, daß seine Interpretation jedoch von der damals herrschenden Meinung, die auf Dscheng Hüan zurückging, stark abwich.
Der heutige Text der Schulgespräche enthält eine Einleitung und ein Nachwort. Die Einleitung wird Wang Su zugeschrieben und in ihr wird erzählt, daß er das Manuskript der Schulgespräche von einem Nachkommen des Konfuzius erhalten habe, und daß es ihm in seinem Kampf gegen die Dscheng Hüan-Schule ein wirksames Hilfsmittel gewesen sei. Das Nachwort soll ursprünglich ein Teil des von Wang Su empfangenen Manuskripts gewesen sein und erzählt einiges über die Vorgeschichte der Texttradition. Es macht nicht den Eindruck, als sei es von einer Hand geschrieben, jedenfalls nicht von der, auf die die Einleitung zurückgeht.
Von der chinesischen Textkritik sind die Angaben der Einleitung und des Nachworts starken Zweifeln unterworfen worden. Viele sind so weit gegangen, zu behaupten, daß die Schulgespräche eine Fälschung des Wang Su seien, deren er in seinem Kampf gegen die Dscheng Hüan-Schule bedürftig gewesen sei. Ich glaube, es kann heute als nachgewiesen gelten, daß dem nicht so ist. Wir werden aber wohl gut daran tun, die Angaben der Einleitung und des Nachworts, wenn überhaupt, so nur mit der größten Vorsicht zu benutzen.
Der Vorwurf der Fälschung stützt sich insbesondere auf das Argument, daß fast zu allen Abschnitten der Schulgespräche Parallelstellen in anderen frühen Schriften existieren, namentlich daß alle Hinweise auf Konfuzius in verschiedenen dieser Schriften auch in den Schulgesprächen wieder auftauchen.1* So wird argumentiert, daß Wang Su die gesamte Konfuziustradition seiner Zeit außerhalb der Lun Yü zusammengestellt und in einer Weise umgeschrieben habe, die seinen polemischen Zwecken nützlich war. Eine genauere Untersuchung der Parallelstellen gibt jedoch dieser Argumentation keine Stütze. In fast allen Fällen weicht tatsächlich die Version der Schulgespräche von der der Parallelstellen zum Teil sogar recht erheblich ab. In keinem Fall können jedoch diese Abweichungen damit erklärt werden, daß sie die polemische Position des Wang Su unterstützt hätten. In keinem Fall läßt sich ferner einwandfrei nachweisen, daß Wang Su von diesen Parallelstellen oder daß diese Parallelstellen von den Schulgesprächen abgeschrieben haben. Es hat vielmehr im Allgemeinen den Anschein, daß es sich hier um voneinander unabhängige Traditionen desselben Materials handelt.
Selbst wenn wir die ganze Tradition der Schulgespräche als zweifelhaft beiseite lassen, ergeben sich aus inneren Gründen die folgenden Punkte mit größter Wahrscheinlichkeit:
1. Dem Wang Su lag eine unabhängige Materialsammlung vor, die er ediert und kommentiert hat.
2. Diese Materialsammlung war das Traditionsgut einer der beiden Schulen innerhalb des Konfuzianismus der Han-Zeit, von der Wang Su in seiner Zeit der tatkräftigste Verfechter war. Diese beiden Schulen werden in der Regel als die Schule der älteren Texte und die Schule der neueren Texte bezeichnet. Sie wichen nicht nur in der Auswahl der von ihnen als maßgeblich angesehenen Klassiker voneinander ab, sondern auch in wichtigen kulturpolitischen und politischen Fragen und insbesondere in dem von ihnen geprägten Konfuziusbild. Daß es sich bei den Schulgesprächen um eine Materialsammlung der Schule der älteren Texte handelt, ergibt sich aus der Tatsache, daß sich Parallelen zu diesem Material insbesondere in von dieser Schule als maßgeblich angesehenen Texten – z. B. dem Dso Dschuan, den Schang Schu Da Dschuan und Maus Kommentar zum Schï Ging – oder in Kompilationen von anerkannten Vertretern dieser Schule – z. B. dem Buch der Sitte des älteren Dai oder dem Schuo Yüan des Liu Hiang – wiederfinden. Demgegenüber sind die Traditionen der Schule der neueren Texte in den Schulgesprächen fast überhaupt nicht vertreten. Einzelne Gedankengänge des großen Begründers dieser Schule, Dung Dschung Schu, klingen zwar gelegentlich an, die für Dung Dschung Schu bezeichnenden Teile seiner Lehre sind jedoch in den Schulgesprächen nicht enthalten oder sogar direkt bekämpft. Auch die Konfuziustradition der sogenannten zehn Flügel des Buchs der Wandlungen kommt in den Schulgesprächen nicht vor, obwohl Wang Sus Biographie bemerkt, daß er seines Vaters Kommentar zum Buch der Wandlungen fertiggestellt habe.
3. Das in dieser Sammlung enthaltene Material kann nicht zu einer Zeit entstanden, sondern muß während verschiedener Perioden zusammengetragen worden sein. Die Entstehung des Konfuziusmythos setzte ja schon unmittelbar nach dem Tode des Meisters ein. Teile der Schulgespräche stehen in Geist und Ausdrucksweise den Lun Yü sehr nahe. Andere Teile müssen zu Ende der Dschou-Dynastie entstanden sein, in einem geistigen Klima, in dem das Buch Mongdsï entstand, mehr noch als das aber in einer Umgebung, aus der das Lü Schï Tschun Tsiu und das Buch Sündsï hervorgewachsen sind. Namentlich dem Letzteren verdanken die Schulgespräche viel. Sün King ist ja dann der Dschou-Meister des Konfuzianismus geworden, den die Schule der älteren Texte am höchsten verehrte. Weitere Teile der Schulgespräche können nicht vor der Han-Zeit entstanden sein. Es finden sich darin Ideen, die herkömmlicherweise dem Lu Gia und dem Gia I zugeschrieben werden. Und viele der Episoden sind in einen institutionellen und ideologischen Rahmen gesetzt, der zur Dschou-Zeit noch nicht bestand, sondern erst mit der Monopolisierung des Beamtenstandes durch die Konfuzianer unter dem Kaiser Wu der Han seine Gültigkeit erlangte. Auch Beimischungen des Gedankenguts nichtkonfuzianischer Schulen, der Taoisten, der Schule der Politiker, der Schule der Rechtslehrer etwa, waren dem Konfuzianismus der ausgehenden Dschou-Zeit noch nicht in dem Maße eigen.
In der zweiten Hälfte des zweiten oder der ersten Hälfte des ersten vorchristlichen Jahrhunderts scheint jedoch diese Materialsammlung im Wesentlichen abgeschlossen gewesen zu sein. Anders läßt es sich nicht erklären, daß das Gedankengut des Yang Hiung, aus dessen Schule Wang Su hervorgegangen ist, sich in den Schulgesprächen nicht vertreten findet. Es ist natürlich wahrscheinlich, daß spätere Verwalter dieses Materials in Einzelheiten an den vorhandenen Episoden und Abhandlungen weitergearbeitet haben. Und Wang Su mag einer von diesen gewesen sein.
1*Ein vollständiges Verzeichnis dieser Parallelstellen befindet sich in dem Buch von R. P. Kramers, K’ung Tzu Chia Yü, The School Sayings of Confucius. Leiden 1950, S. 361–379.