Sommerleithe

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Liefen die Geschäfte gut, hatte auch mein Vater gute Laune, witzelte herum und ließ, spendabler Chef, der er war, den Lehrjungen und die Gesellen an seiner Freude teilhaben: Dann gab es einen Schein obendrauf. Wenn nicht, die vereinbarte Summe. Das Ritual des Lohnabholens hatte eine strenge Ordnung. Die Reihenfolge orientierte sich an der Höhe des Verdienstes. Der Sieger kam zuletzt. Und Sieger war Woche für Woche Rudi. Der Vorgeselle. Verlierer, immer, der Lehrjunge Harald. Damit sich aber, so das raffinierte Kalkül meines Vaters, jeder als potenzieller Sieger fühlen konnte, weil er entweder wegen guter Leistung zusätzlichen Lohn erhalten hatte oder, wenn nicht, zumindest so tun konnte als ob, ließ mein Vater alle in der Küche antreten und warten, bis auch der Letzte anwesend war: gewaschen, geduscht, die Haare – bei Rudi waren das nicht so viele – gekämmt und manierliche Zivilkleider angezogen.

Von seinem Büro aus, hinter dem schweren Schreibtisch sitzend, die geöffnete Geldkassette neben sich, mit Ausblick auf den Hof der Metzgerei, überwachte mein Vater das Antreten. Erst wenn er einen Vornamen aufrief, durfte der Angesprochene aus der Küche eintreten ins Büro. Mein Vater griff in die Geldkassette, holte einen Briefumschlag hervor, der mit dem entsprechenden Vornamen beschriftet war – eines der wertvollen und wenigen von meinem Vater höchstpersönlich handschriftlich erstellten Dokumente –, öffnete das Kuvert, nahm die Geldscheine heraus und blätterte sie, einen nach dem anderen, mit Gönnermiene auf den Schreibtisch. Nein. Er entfaltete sie. Kostbar. Wie einen Fächer aus Geld – sah, wenn es Anerkennungsgeld für besonderen Einsatz gab, verschmitzt lächelnd seinem Gegenüber ins Gesicht, um seinerseits aus dessen Gesicht die Belohnung für die Belohnung zu kassieren.

Wie gesagt, Rudi, der Vorgeselle, war der Letzte im Ablauf dieser Zeremonie, denn er verdiente am meisten. Er wäre nur von einem Meister übertroffen worden, aber den brauchte es nicht im Betrieb, denn Meister war mein Vater selber. Aber selbst mit einem Meistergehalt wäre mein Vater nach der Zeit der anfänglichen Entbehrungen und Erniedrigungen im Westen nicht zufrieden gewesen. Es entsprach nicht seiner Mentalität, nur Meister zu sein. Er wollte sein eigener Chef sein. Und das war er.

Also Rudi; er war der Letzte, der seinen wöchentlichen Lohn bekam. Doch das hatte neben dem Vorteil, am meisten zu verdienen, auch einen nicht zu unterschätzenden Nachteil. Denn er musste, nachdem ein Geselle nach dem anderen vor ihm aus dem Büro getreten war, in den Gesichtern lesen, ob der Chef heute spendabel oder geizig sei. Und das war nicht ganz einfach. Manchmal strahlten die Gesichter, manchmal waren sie betrübt. Oder schienen so. Denn oft machten sich die Gesellen einen Spaß daraus, Rudi, den Vielverdiener und beneideten Cabriolet-Fahrer, auflaufen zu lassen, indem sie die Enttäuschung über den verweigerten Zuschlag auf dem Rückweg in die Küche mit einem Lächeln quittierten oder die Freude über einen zusätzlichen Geldschein mit schlechtgelaunter Miene. Gänzlich überfordert war Rudi, wenn sich im stirnrunzelnden Lächeln eines Kollegen Freude und Enttäuschung zu vermischen schienen. Aus Rache für Rudis schnittiges Cabriolet hatten sich die Gesellen im Lauf der Zeit zu wahren Meistern der mimetischen Verstellung perfektioniert, und wenn es die Arbeit erlaubte, hielten auch Mutti und die Verkäuferinnen sich unter irgendeinem Vorwand in der Küche auf, um dieser Freitagnachmittagskomödie als Publikum beizuwohnen.

Ob die Prämie, wenn es eine gab, unterschiedlich hoch oder bei jedem gleich hoch ausfiel – mit Ausnahme des Lehrjungen natürlich –, blieb das ewige Geheimnis meines Vaters. Er wollte keinen Zank unter den Gesellen, und außerdem, so meinte er, würden sie sich mehr anstrengen, wenn sie nicht wüssten, wie viel genau, mit oder ohne Zuschlag, jeder verdiene.

Wie auch immer. Rudi und sein Augapfel von silbergrünem VW-Cabrio waren versorgt mit frischem Geld für Arbeit und gute Dienste in der alten Woche, und endlich konnte die Fahrt ins Wochenende beginnen. Jedoch kostete es Rudi mehr Zeit, das große Hoftor zu öffnen, den Wagen auf die Straße zu fahren, auszusteigen, das Hoftor von innen zu schließen, durch ein kleines hölzernes Tor auf die Straße zu gelangen, erneut in den Wagen einzusteigen, als, saß er endlich darin, zur Stätte des samstagabendlichen Vergnügens zu fahren. War er dann etwa fünfzehn Sekunden später am Ziel angekommen, parkte er den Wagen möglichst direkt vor dem Eingang, stieg stolz aus, zündete sich eine HB an und schaute sich um, denn er wollte wissen, wer ihn gesehen und bewundert hatte bei seiner Ankunft mit dem im ganzen Stadtteil einzigartigen Schlitten. Manchmal würdigte er auch uns eines Blickes, hob zum Zeichen, dass er uns gesehen hatte, die Hand und verschwand anschließend im Paradiso, dem bunten Karussell der Hormone – die, wie ich erst später erlebte, nach ihrer eigenen Musik tanzen und nicht ausschließlich zum Takt der jeweiligen Musik und der sie intensivierenden Lichteffekte.

Rudi war nun für uns unsichtbar – wie er vermutlich meinte. Doch dies war ein Irrtum. Ein großer Irrtum. Denn er konnte ja nicht wissen, dass wir ihn im bunten und trotz aller Lichteffekte, die die 60er Jahre hergaben, irgendwie hilflos-spießig wirkenden Licht dieser Zeit immer noch beobachteten. Mit dem Fernglas unseres Vaters. Es erlaubte uns Einblicke in eine Welt, die für meine Schwester und ihre Freundin so aufregend wie erregend sein musste. Nicht anders konnte ich die aufsteigende Röte unter der Schminke ihrer Wangen deuten und die Tatsache, dass ich nur selten den Feldstecher benutzen durfte, insbesondere bei langsamer Musik. «Und dein Herz – wie es schlägt, wenn er sagt, dass ihm nichts so gut wie dein Mund gefällt …» Mir erschien diese Welt interessant, aber nicht ganz verständlich. «Doch nimm das alles nur nicht so schwer und denke stets daran: Mit siebzehn fängt das Leben erst an!» Wieso erst mit siebzehn? Lebe ich etwa nicht? Ich verstehe das nicht. Wieso siebzehn? Denn so ein Cabriolet fahren wie Rudi, das darf man erst mit achtzehn!

Im Grunde unverständlich, der Text. So unverständlich wie die schwarzen Haare, die eines Samstagabends aus Monikas leicht gespreizten Beinen zwischen der Innenseite ihres rechten Oberschenkels und dem gepufferten Saum des Babydoll-Höschens herausschauten und mich irgendwie entsetzt und doch fasziniert zurückschauen ließen. So viele schwarze Haare! Woher kamen die? Wo gab es diesen Haarwuchs? Zwischen den Beinen eines Mädchens? Einer jungen Frau? Nein. Monika war kein dem Zoo entlaufenes Affenweibchen, auch wenn sie schielte, denn dann hätte sie ja überall Haare haben müssen. Auch nicht die abnorm behaarte Frau mit langem Bart aus dem Zirkus. Nein, Monika war Monika, ein ganz normales Mädchen. Aber die dunklen Haare zwischen ihren Beinen, so etwas hatte ich noch nie gesehen. Ich musste hinschauen. Ob ich wollte oder nicht. Ich konnte den Blick nicht abwenden. Klar, da unten rum waren dunkle Haare, schwarz bei Vati und braun bei Mutti. Aber doch nicht bei uns, bei uns Kindern. Und als Monika meinen verstört-faszinierten Blick bemerkte – der mich bannte und festhielt wie der gefrorene Metallmast der Straßenlaterne im Winter, den wir als Mutprobe vorsichtig mit der Zungenspitze berührten und an dem wir festklebten und von dem wir uns nur schmerzhaft befreien konnten, indem wir versuchten, ihn mit unserem Atem aufzutauen –, als Monika also diesen Blick bemerkte, spreizte sie die Beine ein wenig weiter auseinander, ganz so, als genieße sie die Überlegenheit, mir etwas zu zeigen und gleichzeitig etwas anderes vor mir verbergen zu können.

Doch damit nicht genug. Sie war stolz darauf und ließ mich das spüren, etwas zwischen ihren Beinen zu haben, wovon ich in meinem Alter, wie sie vermutlich meinte, nur träumen konnte. Aber weder träumte ich davon, noch verspürte ich Lust, davon zu träumen. Im Freibad, wenn wir auf der Wiese lagen, hatte ich schon oft den Mädchen zwischen die Beine geschaut, denn ich wusste, dass da etwas anders sein musste als bei mir. Doch ich konnte das andere nicht sehen; denn es gab nichts zu sehen. Außer dem schmalen Stoffstreifen des Badeanzugs zwischen den Beinen, hinter dem sich unmöglich irgendetwas Großartiges verbergen konnte. Und doch war mir klar, dass auch sie da was haben mussten, nur wusste ich nicht genau, was. Dass etwas fehlte und gleichzeitig etwas anderes da sein sollte, ohne dass man es sehen konnte, blieb ein tiefes, nicht aufzuklärendes Geheimnis. Unter Wasser hatte ich den Mädchen gelegentlich zwischen die Beine gefasst, um herauszufinden, was da wohl sei, denn was man nicht sieht, kann man ja vielleicht fühlen. Aber es gab nichts zu fühlen. Außer dem nassen Stoff des Badeanzugs. So beschloss ich, dass das Ganze – den Mädchen unter Wasser dorthin zu fassen, wo es nichts zu fassen gibt – eine Mutprobe unter uns Jungens war, bei der ich mittat, um vor den anderen nicht als Feigling dazustehen.

Aber so etwas wie bei Monika hatte ich noch nie gesehen, und nie hätte ich vermutet, dass da unten so etwas wachsen könne. Wachstum ist nur möglich, wo die Sonne scheint, und dass bei Monika da unten die Sonne scheinen sollte, das konnte ich mir nicht vorstellen. Andererseits: Auch Champignons wachsen im Dunkeln. Ich war machtlos: Ich konnte den Blick zwischen Monikas Schenkel nicht abwenden – und entdeckte zu spät, dass sie mich längst im Visier hatte. Ich war mir unsicher, ob sie mich, weil ich ja nach links schaute, also dorthin, wo rechts zwischen Haut und Babydoll der schwarze Haarstrunk hervorlugte, also zu der Seite, auf der ihr rechtes Auge nach rechts außen wegschaute, ob sie also mit ihrem gebrochenen Blick wirklich sehen konnte, wohin genau ich schaute, so wie ich mir auch im Unklaren darüber war, ob sie, wenn sie durch den Feldstecher sah, sah, was Renate und ich sahen, oder ob sie mit dem rechten Auge nach außen um die Ecke gucken und etwas meiner Schwester und mir Verborgenes erspähen konnte. Als ich die Augen hob, rannte mein Blick in den ihren, und mir schien, als lächelte Monika und genoss, was sie in mir verursacht hatte und wovon ich, im Gegensatz zu ihr, bestenfalls den Anflug einer Ahnung hatte, die zu benennen mir die Worte fehlten.

 

Meist bin ich irgendwann eingeschlafen und habe den Höhepunkt verpasst, dem meine Schwester und Monika – Hermann mit Familiennamen – den ganzen Samstagabend entgegenfieberten: Mit welcher Bekanntschaft würde Max die Freitreppe emporsteigen und im sogenannten Gesellenzimmer verschwinden, und mit welcher würde Rudi in den VW steigen? Waren es dieselben wie am vergangenen Samstag oder neue, und wenn neue – so galt es vermutlich herauszufinden –, welche war die attraktivere von beiden, und was hätten sie, Renate und Monika, zu tun, um ebenso attraktiv zu sein wie diese? Vielleicht wussten meine Schwester und ihre Freundin, was nun, war die Tür verschlossen, auf der Stube über dem Arbeitsraum, in dem tagsüber Rinderviertel und Schweinehälften mit Messer und Säge zerlegt wurden, geschah. Ich wusste es damals nicht. Und ebenso wenig wusste ich, was im Volkswagen geschah, nur, dass die beiden Schäferhunde immer zu winseln und zu jaulen begannen, als wollten sie auch gerne einmal in Rudis schickes Cabrio steigen, um woandershin zu fahren.

Ich erinnere mich aber, dass meine Mutter und die Putzfrau, Frau Schubert – die komischerweise, sie waren ja keine Zwillinge, sondern Mann und Frau, die gleiche grüne Lederjacke trug wie ihr Mann, vielleicht gab es sie im Doppel billiger – die Betten der Gesellen mit weicher, blümchenverzierter Baumwollbettwäsche bezogen, die kuscheliger war als die mir vertraute weiß gestärkt harte. Ich bat Mutti, auch mein Bett mit dieser Bettwäsche zu beziehen, die sich auf der Haut so zart anfühlte – und sie, lieb wie sie war, tat es.

Walter Diercks war der Wirt der Lasterhöhle Paradiso, in der die Kapelle, das sich drehende bunte Licht, Zigaretten, Alkohol, Lippenstift, pomadisiert glänzende und trocken hochtoupierte Haare, miteinander verschlungene Körper und neugierige Hände ihr Bestes gaben und in der die eine oder andere feste Beziehung angebandelt wurde. Aber nicht für ihn. Nicht für Walter. Er war geschieden, hatte einen Sohn, einen recht dicklichen Sohn, und zwei kälberähnliche schwarz-weiß getupfte Deutsche Doggen, und, das war das Besondere, er fuhr einen Ford Taunus 17 M, genannt Die Badewanne. Sie war nicht nur moderner und schöner als unser Opel Rekord 1. 7 L, der zwar über Weißwandreifen verfügte (wichtig, weil sie Sauberkeit demonstrierten), über vier Türen, Schiebedach und Blaupunkt-Autoradio, aber vor allem hatte sie, worauf es ankam: Sie fuhr schneller. Und gab damit sogar noch an: Sie hatte einen Tacho mit einer unglaublichen 160-km/h-Anzeige anstelle der läppischen 140 km/h, die der Tacho unseres Opels als Höchstgeschwindigkeit versprach. Nur 140 Sachen anstelle der sagenhaft schnellen 160! Jeder Popel fährt ’nen Opel, sagte mein Vater gern, und deswegen konnte ich nie verstehen, warum er sich ausgerechnet einen langweiligen Opel gekauft hat und nicht die wahnsinnig moderne Badewanne auf vier Rädern. Oder zumindest etwas Exotisches wie einen Ford Zodiac, den ich in Holland sah, wenn wir zur Nordsee fuhren oder nach Venlo, um Butter, Schokopaste und Schokostreusel einzukaufen.

Und noch etwas hatte Walter Diercks meinem Vater voraus: Auf der Herrentoilette der Gastwirtschaft gab es einen Automaten, den es auf unserem Klo nicht gab. Es war kein Zigarettenautomat – der stand in der Gaststube –, es war ein Automat für Pariser. Steckte man eine Mark hinein, konnte man eine Packung mit drei Parisern herausziehen. Ich wusste nicht ganz genau, wozu sie da waren, die Pariser, hatte allerdings aufgrund meiner Beobachtung und der Auskunft der Älteren einen vagen Eindruck. Wir konnten ihnen begegnen, wenn wir besonders hart geschossene Bälle aus der Hecke hinter unserem Bolzplatz, der an den Garten der Wirtschaft angrenzte, herausklauben mussten. Dort hingen sie unansehnlich im Gestrüpp, schlaffe, trüb verschmierte, hauchdünne und hell gelblich schimmernde Gummischläuche. Einmal habe ich meinen Vater gefragt, als wir nebeneinanderstehend auf der Herrentoilette pinkelten – auch wenn die Eltern im Pütt mit ihren Holzköppen kegelten, besuchte er gelegentlich das Paradiso, weil Walter Diercks guter Kunde war und er bei ihm im Gegenzug Rechnung machen musste –, was aus diesem Automaten herauskomme. Er wich aus, indem er sagte, das wisse er auch nicht, vermutlich Zigaretten, aber da er nicht rauche, könne er das nicht mit Bestimmtheit sagen. Aber mit Bestimmtheit lügen, das konnte er. Er hat gelogen. Vati hat mich angelogen. Obwohl ausgerechnet er immer gesagt hat, in der Familie lüge, belüge und betrüge man sich nicht, sondern erzähle sich immer alles. Die Wahrheit.

Gut, dass ich es genauer wusste. Mir aber nichts anmerken ließ.

3.
Pari Banu

Die pochende Panik in meinem Herzen … ließ die wunderschöne klare Stimme einer Fee aus 1001 Nächten erklingen. Sie schwebte einher, und bunte, sanft im Wind wehende Tücher von Seide umwehten ihren Körper. Eine hübsche Melodie voller Anmut umschmeichelte mein Ohr, und die Schönheit ihres Feengesichts verzauberte meine Augen – wie sie jeden Sterblichen verzaubern würde, der sie zu sehen und zu hören bekäme. Schwebend und schwerelos war sie erschienen, stand sie vor mir in der Luft und sang für mich und meine Brüder Speck und Schinken und für meine Schwestern, die Würste, und der Blick ihrer Augen versprach uns das Paradies ewiger Glückseligkeit – wenn wir ihr nur folgen würden …

Jegliche Angst vor dem Absturz war verflogen. Noch hielt mich der feste Griff meiner Hände davon ab, vom Wursthimmel auf den Steinboden zu fallen, doch ich spürte bereits, wie sich meine Hände langsam lockerten, um der Fee zu folgen, wohin sie mich auch entführen würde. Doch bevor ich die Hände öffnen konnte, entdeckte ich in ihrem Gesicht das Gesicht meiner Schwester, als hätte es sich in einer tieferen Schicht hinter dem ihren verborgen. Auch sie lächelte, doch so, als hätte ich soeben den Griff meiner Hände gelöst und wäre nun ganz in ihrer Macht – als könnte sie mich abstürzen lassen, oder als sollte ich, von ihr bezirzt, ihr doch vertrauen und ihr durch die Lüfte in alle Schönheiten dieser und anderer Welten folgen … damit sie mich zu guter Letzt doch noch auf dem steinharten Fußboden unseres Fleischerreiches zerschellen lassen konnte? Die Wiederkehr der immer gleichen und schönen Melodie, die sich in einem sanften Kreis drehte und drehte und die mich und jeden, der sie hätte hören können, langsam eingelullt, schläfrig und willenlos gemacht hätte, machte mich stutzig. Reflexartig, wie ich den schwarzen Spieß gegriffen hatte, als Oswalds Arme mich in den Fleischhimmel hoben, verschloss ich meine Finger zu einer Faust, um mein Leben in den Händen zu behalten und nicht unmerklich in den Schlaf zu sinken und abzustürzen.

Meiner Schwester war nicht zu trauen. Vier Jahre älter als ich, war sie mir überlegen. Sie durfte in die Schule, ich musste in den Kindergarten. Ich spürte die Gefahr, die mir drohte, von beiden Seiten, von meiner schwindenden Kraft und von meiner mich in den Schlaf lullenden Schwester. Also versuchte ich, mich hochzuziehen, damit sich meine Beine irgendwo im Gestänge unterhaken könnten und ich Halt fände, um die Arme zu entlasten. Aber die Deckenkonstruktion begann zu wackeln, und neben mir krachten zwei Spieße in die Tiefe … Der Blick nach unten offenbarte ein Schlachtfeld: die richtungslosen Wegweiser weiß gekalkter Zervelatwürste, Mettwürste wie abgetrennte Gliedmaßen, Schinken, die auf dem Fußboden der Metzgerküche lagen wie gefallene Soldaten. Blitzartig wurde mir klar: Es gab keine Rettung. Bald würde auch ich hinunterkrachen, zerplatzen und verstreut auf dem Steinboden liegen; nur dass ich Knochen hatte, die beim Aufprall zerschellen würden, ohne dass sie je ein Arzt wieder zusammenflicken und reparieren könnte. Und selbst wenn ich irgendwie überleben sollte, was unwahrscheinlich schien beim Anblick des Gemetzels am Boden, würde es mir nicht gelingen, mit zersplitterten Knochen zum Fenster zu robben, mich mit Armen und Händen zur Fensterbank hochzuhieven, das Fenster zu öffnen und mich zu befreien – oder zumindest um Hilfe zu rufen.

So vertraut ich auch war mit all den lufttrocknenden Fleischfreunden, die stets unter der Decke hingen, noch nie hatte ich zwischen ihnen gehangen, und noch nie hatte ich mit ihnen von oben hinabgeschaut auf ihre Brüder und Schwestern, die ich aus scheinbar sicherer Höhe hatte abstürzen lassen bei dem Versuch, mich zu retten, und die nun, ihrer stolzen Würde beraubt, kärglich und unordentlich verstreut auf dem Fußboden lagen, den die Friedel, unser buckliges und nicht mehr junges Mädchen für alles, diesen wie jeden Abend geschrubbt hatte und dessen nassen Glanz keiner mehr mit den Schmutzspuren seiner Schritte besudeln durfte. Denn zweifellos war es eine Würde, nicht sofort, wie manche ihrer frischfleischigen Geschwister, verzehrt zu werden, sondern zuvor in stiller Ruhe trocknen zu dürfen und haltbar gemacht zu werden, also länger zu leben als diese.

Von meinem Vater wusste ich, was hier oben wie lange zu hängen hatte; ich kannte die Trockenzeiten von Wurst und Schinken, bevor sie verkauft werden konnten. Doch meine eigene Trockenzeit kannte ich nicht. Ich wusste nur, dass etwas umso teurer wird, je länger es an der Luft trocknet. Denn trocknendes Fleisch verliert Wasser, und für dieses vertrocknete Wasser, das sich in Luft auflöst, also für Luft, muss der Kunde im Laden bezahlen. Er, mein Vater, kaufe ja auch keine vertrockneten Schweine, sondern bezahle für ihr Lebendgewicht, mit Wasser im Fleisch und Blut in den Adern. Trotz dieser Erklärung fand ich es immer ungerecht, dass jemand für etwas bezahlen muss, das nicht mehr da ist, das sich in Luft aufgelöst hat, denn die Luft gehört schließlich allen.

Wieso hatte mein Vater, der mich ihm gegenüber zu bedingungslosem Vertrauen erzogen hatte, wieso hatte ausgerechnet er Oswald nicht daran gehindert, mich in den Wursthimmel zu hängen und dort so lange hängen zu lassen? Als sein Chef hätte er es ihm doch verbieten können. Oder ihn davon abhalten, schließlich war er stärker als Oswald. Oder etwa nicht?

Er musste doch wissen, dass ich keine Bindfadenschlaufe habe, und wenn ich eine hätte, wo sollte die sein? Etwa um den Hals geschlungen? Da wäre ich erstickt. Oder sie hätte mir den Hals gebrochen. Und mir eine Bindfadenschlaufe um die Füße zu wickeln, als könnte man mich beliebig lange kopfunter an einen Räucherspieß hängen, auch das wäre nicht praktikabel, denn mir wäre das Blut in den Kopf gestiegen und schließlich aus Augen, Ohren, Nase und Mund herausgeflossen.

Fragen bedrängten mich; und da ich die mich umschwirrenden und sich verknäuelnden Fragezeichen nicht entwirren und auflösen konnte, fühlte ich mich bald noch hilfloser, verlassener und einsamer, als ich es ohnehin schon war. Wieso hat Vati Oswald nicht daran gehindert, mich im Himmel aufzuhängen? Ja, schlimmer noch – sein Lächeln hat ihn als Oswalds Komplizen, wenn nicht gar als seinen Anstifter, verraten. Wieso ist er mit Oswald, sogar währenddessen noch merkwürdig lächelnd, aus dem Raum geschlichen? Wieso ist das Licht ausgeschaltet worden? Und wieso die Tür verschlossen? Es konnte nur eine Antwort geben: Ich sollte langsam vor mich hin sterben, ohne mich selber retten zu können oder von anderen gesehen und aus meiner Not befreit zu werden.

Doch was habe ich verbrochen? Wofür soll ich bestraft werden? Und wenn schon der Himmel aussieht wie die Hölle, wie wird dann erst die Hölle aussehen? Etwa wie die Räucherkammer unserer Metzgerei? Um in die Hölle zu kommen, muss man am Leben sein. Also werde ich den Sturz überleben. Doch noch nie ist jemand aus der Hölle zurückgekehrt. Wie lange wird das Leben in der Hölle wohl dauern? Ewig. Wie lang dauert ewig? Eine Ewigkeit. So lange, wie ein kleiner Vogel, der alle hundert Jahre einmal seinen Schnabel wetzt am höchsten Berg der Welt, Zeit benötigt, den Berg abzuwetzen, bis er flach ist wie der Strand am Meer. Aber was beginnt dann hinter dieser Ewigkeit? Eine neue Ewigkeit. Weil eine Ewigkeit kein Ende hat. Hinter der Ewigkeit gibt es nichts. Noch nicht einmal ein Nichts. Wenn die Ewigkeit ein Nichts wäre, dann könnte es sie ja nicht geben. Da es sie aber gibt, muss sie etwas sein, und wenn sie etwas ist, muss sie auch ein Ende haben.

Vielleicht langweilt sich die Hölle irgendwann mit mir, wirft mich in eine feuchte und dunkle Ecke und lässt mich sterben?

 

Auf all diese Fragen gibt es nur eine Erklärung: Ich lebe. Und hierfür soll ich bestraft werden. So viele Menschen, jeden Tag immer wieder neu, leben nicht! Sie leben einfach nicht. Obwohl sie da sind. Aber sie kommen nicht ins Leben. Bleiben in den Bäuchen der Frauen verborgen. Im Dunkel. Und doch könnten sie leben. Es gibt viel mehr Menschen auf der Erde, die nicht leben, als Menschen, die es ins Leben geschafft haben. Genauso gut hätte ich versteckt bleiben können im Leben, und an meiner Stelle hätte ein anderer, von mir aus auch eine andere, das Licht der Welt erblickt. Ich habe die Grenze vom bloßen Da-Sein ins Leben überschritten – und dafür werde ich bestraft. Weil ich jemand anderem das Leben weggenommen, also gestohlen habe. Das ist der Grund, warum ich im Himmel hänge. Um in die Hölle zu kommen. Aus Gründen der Gerechtigkeit, als Erziehungsmaßnahme des Lebens? Und die Hölle, das kann nur die Räucherkammer unserer Metzgerei sein.

Wo bleibt Mutti? Wieso kommt sie nicht, nimmt einen Stuhl, stellt ihn unter mich, steigt herauf, hebt mich aus dem Gestänge, umarmt mich, gibt mir einen Kuss, zaubert aus den Seitentaschen ihrer grünen Strickjacke zwei Paar knallroter Kirschen hervor, hängt sie mir über die Ohren, gibt mir einen zweiten Kuss und lächelt mich an? Wieso geschieht nicht, was zu geschehen hat? Wieso tut sie das nicht? Wo bleibt sie?

Ich war fünf Jahre alt, damals – und seit fünf Jahren König. Naja, vielleicht auch erst vier oder viereinhalb oder vierdreiviertel, aber auf jeden Fall ein König, ein kleiner König. Über drei Königreiche. Und mein zweites Königreich war die elterliche Metzgerei in Gera, Ortsteil Lusan.

Die Dunkelheit ängstigte mich. Obwohl es keine wirkliche Dunkelheit war. Denn Straßenlicht fiel in den Raum, und ich und die gleichgültig vor sich hin hängenden Würste und Speckseiten warfen stumpfe Schatten – oder lebendige, schwankende, wenn Autos vorüberfuhren und das Licht ihrer Scheinwerfer durch den Raum wandern ließen. Dann – als könne ich mit den Bewegungen die Vorüberfahrenden auf mich und meine Lebensgefahr aufmerksam machen – bewegte ich mich, zappelte vorsichtig mit den Beinen, schwenkte, mal mehr, mal weniger, den Körper hin und her, doch stets darauf bedacht, dass weder meine Hände von dem schwarzen Spieß abrutschten noch dieser aus dem Himmelsgestell herausbrach. Doch sie sahen mich nicht, nicht die Kraftanstrengung des Festhaltens, nicht meine Angst vor dem Absturz.

Und sollte mein Schatten mich sehen, so beachtete er mich nicht. Er war einfach nur da und wollte weiter nichts, außer nur da zu sein. Wieso löste er sich nicht von meinem Körper, wanderte durchs Fenster auf die Straße, um dort wild herumzufuchteln, damit jemand käme und mich vom heranschleichenden Tod befreite? Der Schatten meines Körpers lebte durch mich, war mein dunkles, losgelöstes Ich: Gäbe es mich nicht, gäbe es ihn auch nicht. Er würde gnadenlos vom Licht geschluckt. Wieso erschien ihm sein Leben, das ich ihm spendete, so bedeutungslos, dass er nichts unternahm, mich zu retten und, indem er mich rettete, auch sich? Doch er war Knecht, tat stur, was mein Körper ihm befahl, ohne jegliche Anteilnahme und eigenen Willen zu handeln.

Und wenn schon mein Schatten faul und blöd und träge war, wieso wollten dann nicht wenigsten die Schatten von Wurst und Speck und Schinken ausbrechen aus ihrer beengten Existenz und dem engen Raum ihrer Gefangenschaft? Wieso wollten sie nicht ihr schwarzes Licht nach draußen in die Weite scheinen lassen oder auch nur auf einen kleinen Spaziergang schicken durch ein Fenster oder einen Gardinenspalt im Aufenthaltsraum, um eine ihnen verborgene Welt zu entdecken und sie für mich um Hilfe zu bitten?

Sie kannten nur die Welt hier drinnen und schienen zufrieden zu sein mit ihrem dummen Glück. Ich kannte die Welt da draußen, kannte den Weg, den ich nach Hause zu gehen hätte, und würden sie mich befreien, ich nähme die Wurst- und Schinkenschatten mit in die Sommerleithe, sie dürften sich zu uns an den Tisch setzen und mit uns zu Abend essen von all dem, was ihnen hier im spärlichen Licht der Straßenlaterne und der vorüberfahrenden Autos verheißungsvoll, aber unerreichbar entgegenleuchtete.

Oder waren sie gar nicht dumm, sondern stellten sich nur so, registrierten stumm, was um sie herum geschah, verständigten sich in einer für die Menschen unhörbaren und, selbst wenn diese sie hören würden, unverständlichen Geheimsprache, die sie, sollten sie es wollen, jederzeit aufscheinen lassen könnten wie das Menetekel in der Bibel auf der Wand: Mene Mene Tekel Upharsin. Aber sie wollten nicht. Und so blieb alles, wie es war.

Je länger ich hing, umso blasser wurde meine Phantasie; und im bald aufziehenden Schimmer der Morgensonne würden die Schatten erbleichen. Weg aus meinem Kopf! Ihr Schatten, weg! Haut ab! Los! Verschwindet! Denn ich will nur eines: mit meinen Füßen wieder auf der Erde stehen.

Was sich bewegt, lebt; und was lebt, hat Antlitz, hat Gesicht. Augen beginnen silbern zu glänzen, Schweineköpfe glotzen mich an, verziehen ihre Rüssel und grunzen. Schweineohren wachsen zu Elefantenohren und richten sich auf. Was haben sie vor mit mir? Sind sie, die den Tod schon erlebt haben, neugierige Zaungäste meines nahenden Todes? Und kündigt sich nicht grollend und Lichtblitze vorausschickend draußen am Himmel ein Unwetter an, dessen Spektakel meine Reise ins Ungewisse begleiten wird? Meine Hände, die mich festhalten sollten, um mich vor dem Untergang zu bewahren, werden feucht, beginnen zu schwitzen, und der kalte Schweiß des sich anschleichenden Todes mischt sich mit der immer heißer werdenden Glut meiner Angst. Das am Räucherspieß klebende Fett beginnt zu schmelzen, fließt als heißes Öl an meinen Armen herunter, verbrüht meine Haut, sammelt sich als siedend heiße Fettbrühe in meinen Schuhen, und der schwarze Holzstock über mir, an dem ich mich festhalte und der mich hält, verwandelt sich langsam in eine rot glühende Eisenstange, während meine Hände kälter und kälter werden, betäubt von der erfrierenden Hitze und der Glut des Eises.

Es gibt keine Rettung. Niemanden, der die Tür aufschließt, das Licht anknipst und mich befreit aus meinem Geängste und dem Gestänge meiner Pein. Ich bin allein.

Wie gern läge ich jetzt in meinem Bett! Selbst ein schweres Gewitter, vor dem ich mich schon immer unglaublich fürchte, im Bett über mich ergehen zu lassen, wäre besser, als hier zu hängen. Wie viel lieber würde ich, von Bettwäsche umhüllt und verborgen, das Grauen unberechenbar einschlagender Blitze ertragen, das grelle Zittern eines unwirklichen Lichts, diese schrecklichen, alles erhellenden und die Augen erblinden lassenden Sekunden samt dem gleichzeitig peitschenden und knallenden Donner, der, kaum ist er verklungen, sich mit steigernder Wut wieder und wieder laden und blitzschnell wie eine zum Biss hervorschnellende Kobra entladen kann, um irgendwann weiterzuziehen, sich in der Ferne zu verlieren und das Gefühl zu hinterlassen, ich sei noch einmal davongekommen.

Blitz und Donner, das weiß ich, haben Kraft und Gewalt, mich, mein Bett, mein Schlafzimmer, unser Haus, ja, unsere Familie, wenn nicht gar ganz Gera zu vernichten, aber – sie tun es nicht! Sie drohen nur. Um weiterzureisen. Vielleicht haben sie uns unter dem Grollen heranpolternder Gesteinsbrocken und dem Getöse von Paukenschlägen im Licht des Blitzes betrachtet und uns für unwürdig befunden, von ihnen vernichtet zu werden, um sich ihrer Macht würdigere Opfer zu suchen? Stärkere, an denen sich ihre eigene Stärke hätte austoben können? Oder schwächere, um sie verächtlich zu bespötteln?