Buch lesen: «Kleines Gulasch in St. Pölten»
Klaus Nüchtern
Kleines Gulasch in St. Pölten
Nüchtern betrachtet:
78 ganz brauchbare Kolumnen
mit 5 exklusiven, bislang
unveröffentlichten Vorworten
Falter Verlag
© 2003 Falter Verlagsgesellschaft m.b.H.
1011 Wien, Marc-Aurel-Straße 9
T: +43/1/536 60-0, E: bv@falter.at, W: www.falter.at
Alle Rechte vorbehalten.
Keine unerlaubte Vervielfältigung!
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016
ISBN ePub: 978-3-85439-541-6
ISBN Kindle: 978-3-85439-551-5
ISBN Printausgabe: 978-3-85439-306-1
Inhalt
Cover
Titel
Impressum
Klaus Nüchtern: Was bisher geschah
Roland Koberg: Unter Kolumnisten
Eva Weissenberger: Ein Herz und eine Krone
Michael Loebenstein: Es ging um die Wurst
Christopher „Wurmdobler“ Wurmdobler: Zahlenmystik
Tanzhals sucht Nackendoktor
The Good, the Bad and the Ugly
Von Tieren und Pflanzen
Indistinct Notion of Cool
Es könnte, weiß Gott, schlechter sein
Die Unfähigkeit zu wohnen
Gulasch auf Schienen und anderswo
Glamrock und Gin Tonic
Alle Männer haben Mütter
Laufen und Saufen
Aus der wunderbaren Welt der Werbung
Quellen
Fußnoten
Was bisher geschah
Die von niemandem gestellte Frage, warum nach „Rain On My Crazy Bärenfellmütze“ im Herbst 2001 nun schon wieder ein Band mit „Nüchtern betrachtet“-Kolumnen erscheint, ist leicht zu beantworten: erstens ist genug da, und zweitens machen der Verlag und ich jede Menge Kohle damit. Vor der Formulierung „leicht verdientes Geld“ schrecke ich zurück, weil es das zwar für mich, nicht aber für den Verlag ist: Der muss das Buch setzen, korrigieren, drucken und in billigem Pappendeckel binden lassen; dann muss er den Fotografen Heribert Corn telefonisch erreichen und zu einem Fototermin in die Pilgramgasse schicken; der Corn muss kommen (Kommen und Corn ist so eine Sache – bei dem Shooting mit mir ist er zum ersten Mal in seinem Leben zu früh gekommen); es müssen Werbekampagnen designt und lanciert, Inseratenplätze und Plakatflächen gekauft bzw. gemietet, Buchpräsentationen organisiert, Journalisten informiert, Nepotisten buseriert werden, usw., usf.
Während diese gigantische Medienmaschine rotiert, trage ich mein leicht verdientes Geld in die Boutiquen dieser Stadt, um mir kühn gemusterte T-Shirts zu kaufen, für die mich die meisten gleichaltrigen Männer verachten (Christopher Wurmdobler, ein international gesuchter Vorwortschreiber und Modekritiker, ist viel jünger als ich) und zu denen mir jüngere Frauen gratulieren. Kurz & gut: ein Leben in Saus & Braus, mit Cacciatore & Brie de Meaux für die ganze Familie rund um die Uhr. Mindestens so schön wie das viele Geld (vielleicht erinnert sich noch jemand an die wunderbare „Spitting Image“-Folge mit Michael Caine: Da kommen Typen mit Scheibtruhen, um dem Schauspieler – „there’s more money comin’, Mr. Caine!“ – das Geld in den ausgelassenen Pool zu kippen) sind die Lesungen aus eigenen Werken, zu denen man mich einlädt. Seit dem Erscheinen von „Rain On My Crazy Bärenfellmütze“ befinde ich mich nämlich auf einer Never-ending Tour durch das österreichische Bundesgebiet, die mich von Steyr bis nach Saalfelden und von Schwechat bis nach Schlierbach geführt hat (das hat bislang nicht einmal Chris de Burgh geschafft!). Lediglich Sierning und St. Pölten fehlen mir, aber das wird vielleicht auch noch. Viel unwürdiger kann ich mich vor der heimlichen Schuhhandelshauptstadt Österreichs nicht auf den Bauch werfen als mit diesem Titel! Der hätte ursprünglich auch ganz anders lauten sollen, aber der Chef des Falter-Medienkonzerns, Armin Fridolin Thurnher, hat gegen „Menschen, die schwätzen, wenn Bryan Ferry pfeift“ sein Veto eingelegt. Mit Glamrock kann der Mann nichts anfangen (wer seine Krawatten kennt, merkt das sofort).
Das Tolle an den Lesungen – neben den Gebinden und Dessous, die auf die Bühne fliegen – ist der Umstand, dass mich die Veranstalter oft nur dazu benutzen, Tex Rubinowitz als Co-Leser und DJ einzuladen. Der legt dann für mich Singles wie „This Guy’s in Love with You“ von Burt Bacharach (in einer Coverversion von Herb Alpert auf), was mich in die Lage setzt, meinem jüngstem Hobby, dem romantischen Ausdruckstanz, zu frönen und mir einen Tanzhals zu holen. Gibt es etwas Schöneres auf der Welt? Wohl kaum! Eine große Freude ist es auch, dass mich das Schreiben von Kleintexten in den Stand setzt, das Leben anderer Menschen zu verändern: Kaum kommen diese nämlich in einer Kolumne vor, werden sie von ihren entsetzten Eltern angerufen („Sag mal, stimmt es, dass dein Teppich krank ist??!!“) und müssen ein Vorwort schreiben. In dem tauchen dann wieder interessante Leutchen auf – Typen wie Rado R. zum Beispiel. Ich glaube, wir müssen den Burschen im Auge behalten! Und seine Eltern sollten unbedingt mal wieder anrufen bei ihm.
Klaus Nüchtern
Unter Kolumnisten
Manchmal, wenn ich nett zu jemandem sein will oder jemand einer zarten, unauffälligen Tröstung bedarf, mache ich ein Kompliment. Gerade in Berlin (schöne Grüße von hier!) werden im Allgemeinen zu wenig Komplimente gemacht, obwohl ihre Wirkung toll ist. Am besten wirkt ein Kompliment, wenn man sich selbst dabei herabsetzt. Nicht im koketten Sinne von fishing for compliments, sondern nur ganz wenig, sodass es der Komplimentierte fast nicht merkt, sondern sich eigener Stärken bewusst wird und freut – was ja der Sinn jedes Kompliments ist. Auch Nüchtern, der natürlich bei uns schlafen darf, wenn er nach Berlin kommt (und dem wir auch jedes Mal wieder vor dem Berliner Marathon das Bett herrichten, mag es ihm auch jedes Mal, wenn wir damit fertig sind, einfallen, dass ihn ein wichtiger Grund an der Teilnahme hindert), auch Nüchtern also kann Komplimente vertragen. Und als es mit der neuen persönlichen Bestzeit beim Berliner Marathon 2000 nichts geworden war, obwohl Nüchtern sehr gut im Rennen lag und ich ihm bei der Hälfte, auf der Straße vor unserem Haus, begeistert zurufen konnte, dass sein Rückstand auf Joschka Fischer nur mehr minimal sei, da fand ich es eben am nächsten Tag angebracht, ihm ein Kompliment zu machen. Ich habe bei Nüchterns einmal sehr gut indisch gegessen, und weil ich nun nett sein wollte und mir obendrein der Magen knurrte, lobte ich nun überschwänglich seine Kochkünste, nicht ohne das Lob dadurch zu steigern, dass ich selbiges „niemals“ kochen können würde, obwohl ich es doch so „wahnsinnig gerne“ von ihm „lernen“ würde. Hochmotiviert stellte sich Nüchtern in die Küche, und wir nachtmahlten vorzüglich. Danke dafür.
Ich habe es schließlich aus der Zeitung erfahren. „Koberg kann nicht indisch kochen“, lautete der Titel von „Nüchtern betrachtet“. Da wird einem auch wieder klarer, warum so viele Leute Probleme mit „den Medien“ haben.
Verena meint, dass das Schreiben wahrscheinlich früher einfacher war. Sie meint, früher habe man sich hingesetzt, à la Thomas Mann 500 bis 1000 Seiten über die Familie oder Freunde geschrieben und sei irgendwann berühmt geworden. Heutzutage haben die Schreiber zwar auch nur ihre Familie oder ihre Freunde als Thema, aber im Gegensatz zu früher müssen sie sich heute als Kolumnisten verdingen und jede Woche pointenreiche Kurzprosa zum Alltag abliefern. Tun sie das nicht, werden sie zu ihrem Chef zitiert und gefragt, ob sie eine Schreibkrise haben. Wobei das noch nie Nüchterns Problem war.
Zu unserem Bekanntenkreis gehören Restaurant-Kolumnisten (4), Hunde-Kolumnisten (3), Väter-Kolumnisten (2), „Dichter dran“-Kolumnisten (2), Sex-Kolumnisten (1) und Nüchtern. Verena meint, ohne uns, die Freunde, wären sie nichts. Wenn sie etwas erleben müssen, um Erlebtes aufschreiben zu können, kommen sie zu uns, schauen sich die Simpsons an oder gehen mit uns bowlen und erklären den 11. September zum „Homer-Simpson-Memorial-Day“. Wir, die Freunde der Kolumnisten, hängen Kolumnen, in denen wir vorkommen, natürlich sofort aufs Klo, denn in regelmäßigen Abständen kommen die Kolumnisten vorbei, um zu kontrollieren, ob man ihre Kolumnen auch am Klo hängen hat. Dort vergisst man die Kolumnen, und so war die über den 11. September auch noch im Jahr 2001 da. Seither werden wir von unseren Freunden für eiskalte Zyniker gehalten. Nur die Kolumnisten kommen weiterhin zu Besuch.
Verena meint, am besten wäre es, wenn es wie beim Jagen eine Schonzeit für Freunde, Bekannte und Verwandte von Kolumnisten gäbe. In den, sagen wir, Monaten mit „r“, wäre es dann verboten, Kolumnen über Freunde, Bekannte und Verwandte zu schreiben, und dann könnten wir endlich die Dinge tun, die sonst immer das Thema von Kolumnen sind. Lampen kaufen und bowlen gehen zum Beispiel.
Verena hat das alles eigentlich nicht gesagt, sondern aufgeschrieben. In einer Kolumne aus der Serie „Unterm Strich“. Das brachte 153 Euro fürs Haushaltsgeld. Danke dafür.
Wir müssen einfach alle noch viel mehr übereinander schreiben.
Roland Koberg
Ein Herz und eine Krone
Gekrönt wird schnell einmal einer beim Falter. Darauf braucht man sich nichts einzubilden. Aus Klaus Nüchterns Kolumnen wissen Sie, dass der Theaterkritiker Wolfgang Kralicek seit einem Betriebsausflug in die Boutiquen Istanbuls „King Kenzo“ genannt wird. Aus dem Editorial, dass Mitarbeiter, die es sich erlauben, ihren kollektivvertraglichen Urlaubsanspruch zu konsumieren, als „Urlaubskönige“ diffamiert werden. Fremdenfreundlich, wie wir sind, nehmen wir auch gerne bei den Machtstrukturen fremder Völker Anleihen: Kinokritiker Michael Omasta wird wegen seines elegant ergrauten, fülligen Haupthaares „Häuptling Silberbär“ genannt, Nüchtern selbst – warum auch immer – „Häuptling mümmelnder Biber“.
Ich führte lange Zeit den Titel „Königin der Nacht“. Das war gemeinerweise kein Ehrentitel, der mein geselliges Wesen auszeichnete. Nein, der Chef fand, ich würde den Redaktionsschluss – Montag, 17 Uhr – nicht ernst genug nehmen. Das stimmte, erstens, so nie, war, zweitens, nur auf meinen Fleiß und Perfektionismus zurückzuführen und ist, drittens, schon lange her.
Aber, bitte, „Königin der Nacht“ war immer noch besser als mein anderer Spitzname beim Falter: „Weisse“. Eine solche Verballhornung muss jeder Redakteur hinnehmen, dessen Nachname mehr als zwei Silben hat. Als ich zum Falter kam, gab es dort schon einen Kralle (ein anderes Pseudonym Kraliceks) und einen Wurme (Christopher Wurmdobler). Neude (Sigrid Neudecker), Rotte (Thomas Rottenberg) und Zelle (Klaus Zellhofer) hatten längst gekränkt zu anderen Medien gewechselt. Meine geschätzte Kollegin Nina Weißensteiner jedoch hatte ausgeharrt. Also rief mich der Chef „Weisse II“. Heute weiß ich, wie sich der Jüngere von Zwillingen fühlen muss.
In meiner Verzweiflung, um endlich einmal alleine im Mittelpunkt zu stehen, bat ich meine alten Freunde von Roxy Music, in meinem Keller aufzutreten. Zu diesem Konzert zog ich meine hübscheste, pinke Seidenbluse an, dekorierte meine Wohnung mit originellen Sitzgelegenheiten neu, mixte bunte Getränke und lud „König Klaus“ – so nennt er sich, wenn der Chef außer Haus ist – und all seine Untergebenen ein. Mit Erfolg: Weil es ihm bei mir so gut gefiel, krönte mich Nüchtern in seiner Kolumne zur „Style-Queen“. Die alten Spitznamen waren vergessen.
Der Mann hat nicht nur Stil, sondern auch ein Herz.
Eva Weissenberger
Es ging um die Wurst
Was bleibt Schreibern einer Wiener Stadtzeitung, deren Zentralrat die Verwendung des Ich konsequent unter Strafe stellt, anderes übrig, als in die Literatur zu flüchten (oder sich hinter Alibikonstruktionen wie „man“, „das Publikum“ oder „informierte Kreise aus der Richterschaft“ zu verstecken)? „Bitte“, sagen die dann, „wir sind ja kein x-beliebiges Zeitgeistmagazin, das – getrieben vom Leidensdruck individueller Ausdrucksdefizite oder grassierenden Personality-Wahns – ein jedes Nockerl mit Bekenntnissen über die eigene libidinöse Befindlichkeit eröffnen muss. Wo kämen wir denn da hin?“ Einer der unerbittlichsten Adepten dieser Schule, also ein wahrer Talib, ist Nuechtern himself: nicht dieser hier, der in Gaudenzdorf haust, sondern jener dort, der schlicht in Meidling residiert, Protestant ist (und wahrscheinlich deshalb einem Warmduscher wie „Badly Drawn Boy“ Asyl im CD-Player gewährt) und dennoch das unfassbarste Erdäpfelgulasch diesseits meiner (jenseitigen) Oma kocht.
Letzteres bringt ihn mit diesem Nuechtern hier, dem manischen Kämpfer wider kulturelle Verblödung, kulinarische Fantastereien (ich sage nur „Ennstalsushi“) oder falsch verstandenen Pluralismus zur Deckung: ein Hang zur Professionalität (wenn schon Wurst im Gulasch, dann eine g’scheit fette!) kollidiert mit Episoden spontanen Dilettierens in fremden Ressortbereichen (ich sage nur Filmkritik – Leser der legendären „Fight Club“-Vernichtung von anno dazumal wissen, worum es geht).
Aber worum geht es eigentlich? Im Endeffekt um die Wurst, die einen aufrechten Talib wie Loebenstein tatsächlich vom rechten Weg selbstgerechter Verachtung abzubringen vermochte. Sie war, so viel sei verraten, köstlich: grob in der Konsistenz und von zartem, selbst durch gekonnte Paprizierung des Saftes nicht zu überschmeckendem Raucharoma. Fürwahr, es soll Ihnen versichert sein, der Mann praktiziert, was er predigt!
So borgt die Literatur vom Leben, der Gaudenzdorfer vom Meidlinger und der Ober-Talib von seiner flüchtigen Redaktionsbekanntschaft – ein paar unbedacht vorgetragene Schnurren, und schon findet man sich im Pantheon der österreichischen Literatur wieder. So geschehen mit dem Dänen-Penis: der Verachtung von Freund Rado R. („Schleimer! Karrierist! Du warst nie in Dänemark!!!“) möchte ein geknickter Ex-Fundi nur matt entgegenhalten, dass die fragliche Toilette auf der griechischen Insel Rhodos zu finden sei. So viel dazu!
Michael Loebenstein
Zahlenmystik
Was bedeutet es, wenn Klaus Nüchtern mit einem Shirt des zugegeben recht hippen Modelabels Custo Barcelona durch die Redaktion spaziert, einem an sich dezenten, langärmeligen Pulli, an dem sich Kokain schnupfende Designer durch asymmetrisches Verteilen von ornamentaler Buntheit ausgetobt haben und auf dessen Rückseite groß die Zahl Neunundsechzig zu lesen ist? Wieso hat sich Nüchtern gerade für dieses Stück entschieden? Möglicherweise soll die Zahl ja ein Hinweis sein auf das Jahr seiner Geburt, seiner Einschulung oder seiner politischen Prägung? Alles nein, oder eher nicht. Und nur Einfältige würden bei Neunundsechzig – vor allem im Zusammenhang mit Klaus Nüchtern – an eine Aufforderung zur Ausübung irgendwelcher sexuellen Praktiken denken.
Die Zahl Neunundsechzig auf Nüchterns Long Sleeve von Custo Barcelona weist vielmehr darauf hin, dass der Mann a) tatsächlich zu den modisch Begabten beim Falter gehört und b) extrem praktisch veranlagt ist. Wenn sich Klaus Nüchtern nämlich im redaktionsinternen Wellnessraum kopfüber an die Sprossenwand hängt, um Übungen zu machen, die er in seltsamen Rückenschulen gelernt hat und die seinem Stellvertreterrücken gut tun sollen, bleibt die Zahl auf der Rückseite seines katalanischen Designerstücks gleich: Neunundsechzig bleibt Neunundsechzig, auch kopfüber. So gesehen könnte er natürlich auch ein Shirt mit der Aufschrift Acht oder Achtundachtzig besitzen. Oder Sechsundneunzig. Oder auch Null. (An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass ihm Custo-Shirts ausgesprochen gut stehen. Er besitzt mehrere davon.) Unlängst präsentierte Klaus Nüchtern sein neuestes Shirt von Custo Barcelona. Neben bunten Farbflächen, wirrem Gekritzel und allerlei Unentzifferbarem ist darauf auch die Zahl Zwei zu erkennen. Was das nun wieder bedeutet? Ein Hinweis auf das Erscheinen seines zweiten Kolumnenbuchs natürlich, was sonst. Für die Sprossenwand ist die Zwei wohl kaum geeignet.
Christopher „Wurmdobler“ Wurmdobler
Tanzhals sucht Nackendoktor
Meine zwei Feinde im Fitnesscenter
Wenn der Chefredakteur das Zimmer betritt und ich den Bürosessel in Bewegung setze, um Sichtkontakt herzustellen, ohne den Kopf wenden zu müssen, weiß der Chefredakteur, dass a) sein Stellvertreter einen steifen Hals hat und b) es wieder einmal Zeit für den nachdenklich stimmenden Vortrag zum Thema „Artgerechte Unterbringung in Büros“ wird, der mich einerseits zur Selbstermächtigung in Sachen Neuordnung des Mobiliars ermuntern möchte, mich andererseits mit väterlichem Wohlwollen in der Gruppe der Haltungsgeschädigten begrüßt. Dabei tu ich ja was! Bereits seit Wochen besuche ich ein calvinistisches Fitnessstudio, in dem ärmellose T-Shirts ebenso verboten sind wie Hosen ohne Hosenbeine. Stattdessen gibt es einen riesigen Maschinenpark voller stählerner Ungetüme, in die man sich einspannt, um unter großen Qualen Muskeln zu trainieren, von deren Existenz man bis vor kurzem noch nichts ahnte. Meine ganz persönlichen Feinde sind zwei Maschinen, die auf den charmanten Namen F1 respektive F2 hören und sich den Bauchmuskeln widmen. Das sind jene Muskeln, die angeblich unter dem Bauch beheimatet sind. Seit wenigen Wochen besitze ich sogar Seitenbauchmuskeln, die irgendwo über jenen Knochen liegen, zwischen denen bei jungen Leuten das Nabelpiercing liegt und die ich Beckenschaufelausläufer taufen möchte. Der einzige Zweck der Seitenbauchmuskeln besteht vermutlich darin, den beweglichen Teil von F1 in halbkreisförmiger Bewegung von Position 0 auf Position 13 und retour zu bewegen: zwei Minuten auf halblinker, zwei Minuten auf halbrechter Position. Ich mutmaße, dass die anderen Menschen, die dieses Fitnessstudio ganz offensichtlich auch nur deswegen aufsuchen, weil sie in zehn oder zwanzig Jahren noch „aufrecht“ gehen, schmerzfrei sitzen oder ein Gurkenglas aufschrauben können wollen, ähnlich schlimme Feinde haben wie ich. Übermäßige Solidarität kommt dennoch nicht auf. Stattdessen kontrolliere ich ihre Gewichtseinstellungen und verachte alle jene, die weniger Kilos beugen und biegen, stemmen und stoßen müssen als ich.
Chef checkt Nottermin beim Nackendoktor
Zu den schönsten unter den leider und zu Unrecht in den Ruf des Infantilen und Verschmockten geratenen Partyspielen gehört neben Flaschendrehen und Apfeltauchen noch Tiere-Zuordnen. Es geht dabei darum, dass einzelne Personen von allen anderen Partygästen aufgrund physiognomischer oder wesensmäßiger Ähnlichkeiten bestimmten Tieren zugeordnet werden. Ich zum Beispiel werde in der Regel von allen eindeutig als Ratte identifiziert (physiognomisch). Dagegen habe ich nichts einzuwenden, bin ich doch ein Freund dieses kleinen, alerten Globalisierungsgewinners. Würde man mich allerdings nach dem vergangenen Wochenende nach meinem animalischen Analogon befragen, würde ich antworten: „Nicht-Eule.“ In gewissem Sinne trifft das auch auf die Ratte zu, die von der Eule ja durchaus qua Verspeisen negiert wird; mich hingegen finde ich durch den bekannt wendigen Kopf der Eule aufs Bitterste parodiert, da ich derzeit an einer unhübschen Genickstarre laboriere und mich seit Freitag intensiv mit der Frage „Gibt es eine schmerzfreie Liegeposition?“ beschäftigt habe. Die Antwort lautet eindeutig: „Nein!“ Zwar besitzt mein schlafender Körper die erstaunliche Fähigkeit, wie ein Scheit Holz stundenlang in derselben Position zu verharren, aber auch das bewirkt schmerzhafte Verspannungen, die die ohnedies stark verminderte Mobilität noch weiter einschränken. Und das mir, einem Menschen, der dem Drang, unkontrolliert um den Hamsterkäfig herumzu„tanzen“ oder der Tochter die winzigen Schnapsgläschen vom Tablett zu fegen (Her Royal Hamstress ist leider schwere Gintrinkerin), nur allzu gerne nachgibt. Wie schon die diversen Weltkriege hat mein Chef auch meine pathologische Versteifung im Zervikalbereich schon vor Jahren vorhergesehen und warnend auf mich eingeredet. Freundlicherweise hat er sich die Anmerkung, dass er es immer schon kommen sehen habe, verkniffen und mir stattdessen einen Nottermin beim Nackendoktor gecheckt. Von ihm werden Wunderdinge erzählt. Er heißt Dr. Malus. Ich bin der Letzte, der zu Namenswitzen aufgelegt wäre.