Wolfskinder

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Wolfskinder
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Klaus Melcher

Wolfskinder

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

Kapitel 85

Kapitel 86

Kapitel 87

Kapitel 88

Kapitel 89

Kapitel 90

Kapitel 91

Kapitel 92

Kapitel 93

Kapitel 94

Kapitel 95

Impressum neobooks

Kapitel 1

Pünktlich um 7.30 Uhr betrat Edo Buchholz durch eine gläserne Schwingtür den langen Flur, der nur von einigen Neonlampen und den Glasausschnitten in den Türen beleuchtet wurde.

Er hasste diesen Flur, der so ungemütlich war, als wollte man allein dadurch jeden Besucher abschrecken, eine Amtsstube zu besuchen.

Einmal hatte er vorgeschlagen, wenigstens einige Stühle neben die Türen zu stellen, doch seine Kollegen hatten protestiert. Wer hierher kam, war ein Bittsteller, man musste ihm sein Anliegen nicht versüßen.

Selbst Zimmerpflanzen gediehen hier nicht, und so blieb der Gang wie er war: ein schmaler langer Schlauch mit grauem Linoleum und einem eigentümlichen Geruch, der Edo Buchholz an den Geruch erinnerte, den er aus seiner Zeit in der DDR kannte, der von allem Besitz ergriffen hatte, was einem Normalbürger zugänglich war. Ob er im Zug saß, in der HO einkaufte, in seiner kleinen Gaststätte um die Ecke ein Bier trank oder eine Frikadelle aß, die nach allem schmeckte, nur nicht nach Fleisch, selbst in der Kaserne hatte man diesen Geruch in der Nase gehabt.

In den meisten Büros roch es ähnlich.

Auch in seinem.

Nur bei einigen Kolleginnen wurde der Geruch von dem süßlichen oder herben Duft eines Parfüms überdeckt, und wenn sie ihre Tür einen Augenblick länger offen ließen oder über den Gang stöckelten, dann zog auch durch den Flur ein Hauch von Chanel oder Dolce & Gabana, Dior oder Giorgio Armani.

 

Er kannte sie alle, die teuren Düfte, und konnte sie zuordnen. Jede Kollegin hatte ihren eigenen Duft, war an ihm schon im Aufzug zu erkennen.

Manchmal, wenn der Duft ihn besonders berauschte, ließ er seine Tür einen Spaltbreit offen, um ein bisschen von ihm zu stehlen und ihn in sein Büro zu holen.

Nur mit den billigeren Düften hatte er seine Schwierigkeiten.

Anfangs hatte er gedacht, die ganz jungen Kolleginnen trügen sie, doch dann musste er erstaunt feststellen, dass die wirklich teuren Parfüms vorwiegend von den jüngeren getragen wurden, während sich die ganz alten mit 4711 und Uralt Lavendel bis zur Rente begnügten. Sie hatten in diesem Duft hier begonnen, und sie würden mit diesem Duft ausscheiden, amtsmüde, frustriert, weil sie nicht viel hatten ändern konnten, desillusioniert.

Dazu passten nicht Chanel und all die anderen Wohlgerüche. Das würden die Jungen auch noch lernen.

Sein Büro lag ganz am Ende des Ganges, war noch kleiner als die anderen und bot Platz für nur eine Person.

Hier hatte sich ursprünglich eine Kaffeeküche befunden, aber da sowieso niemand einen Kaffee oder Tee zubereitete, von einem warmen Imbiss ganz zu schweigen, hatte man aus diesem Raum kurzerhand ein Mitarbeiterzimmer gemacht und ihm zugewiesen. Er brauchte kein größeres, da er kaum jemals Besuch erwartete.

Unglücklich war Buchholz darüber nicht. Er musste sich sein Zimmer nicht mit einem Kollegen teilen, und er hatte Wasseranschluss und einige Steckdosen mehr, ein Luxus, von dem andere nur träumten.

Sonst glich sein Zimmer in der Ausstattung denen seiner Kollegen.

Ein mit hellbrauner Kiefer furnierter einfacher Büroschreibtisch, ein ebenfalls hellbraunes hohes Regal, ein niedriges Regal und ein Schreibtischstuhl bildeten die ganze Einrichtung.

Auf dem niedrigen Regal standen ein Wasserkocher, die Teekanne und Teedose. Der Wasserkocher hatte seine Spuren hinterlassen. Das Furnier war hier aufgequollen und bildete kleine wellenartige Erhebungen. Hinter einem kleinen Vorhang, den Buchholz mit Reißzwecken an das Regal gepinnt hatte, verbargen sich die Utensilien für unbeschwerten Teegenuss.

Die Schreibtischplatte war fast pedantisch in vier Segmente geteilt. Das zentrale und wichtigste war das unmittelbar vor dem Schreibtischstuhl. Hierhin zog er das, woran er gerade arbeitete. Das konnte eine Akte sein oder die Tastatur seines Computers.

Notizen zu dem jeweiligen Fall lagen grundsätzlich links vom zentralen Arbeitsplatz.

Rechts von ihm war das dritte Segment, in dem er die bearbeiteten Papiere ablegte.

Den hinteren Teil der Schreibtischplatte teilten sich sein kleines Radio, der Bildschirm, der Drucker, die Körbe für die ausgehende und eingehende Post.

An der Wand hingen zwei Urlaubsfotos, ein Bild von den Malediven, seine Frau und er umarmten sich in dem blauen Wasser, und eins dreißig Jahre später von Kroatien. Das Wasser war fast ebenso blau, die Sonne schien genauso strahlend. Nur ihre Körper waren älter geworden, viel älter.

Sonst war der Raum ohne jeden Schmuck. Den Versuch, eine Pflanze etwas Leben in den Raum bringen zu lassen, hatte die Pflanze nicht überstanden.

Buchholz machte – sicher nicht ganz zu Unrecht – die Ausdünstungen des Linoleumbodens dafür verantwortlich und gab es nach dem dritten Versuch auf, eine lebende Blume in sein Zimmer zu holen. Und eine Plastikblume lehnte er grundsätzlich ab.

Und so war es mit allem in seinem Büro. Wenn er ehrlich war, hier gedieh kein Leben.

Irgendwann würde es sterben.

Wenn Buchholz morgens sein Büro betrat, folgte er immer einem ganz bestimmten Ritual. Er trat auf den Schreibtisch zu, schaltete das Radio ein, entnahm im Vorbeigehen dem Eingangskorb die Post, ging um den Schreibtisch herum, legte die Post auf den Arbeitsplatz und steuerte das Fenster an, das er mit einem energischen Griff öffnete. Dann ging er zu dem niedrigen Regal, setzte Teewasser auf und füllte den Teefilter.

Die drei Minuten, die das Wasser brauchte, um zu kochen, blieb er wie andächtig am Regal stehen.

Wenn es blubberte, goss er es in die Kanne, achtete darauf, dass die Filtertüte nicht in die Kanne rutschte und klemmte sie mit dem Kannendeckel fest.

Noch einmal wartete er drei Minuten, während derer er sein kleines Stövchen, die Teetasse mit Teelöffel und die Zuckerdose auf den Schreibtisch stellte.

Gerade hatte er das Teelicht entzündet, zwei Kluntjes in die Tasse gegeben, da klingelte der Kurzzeitwecker, und der Tee war fertig.

Buchholz entsorgte den Filter, schenkte sich eine Tasse ein und setzte die Kanne auf das Stövchen.

So geschah das schon, so lange er in diesem Büro arbeitete. Und so würde es auch weiterhin ablaufen.

Die Arbeit konnte beginnen.

Ganz oben auf dem Stapel der zu bearbeitenden Fälle lag ein roter Leitz-Ordner mit der Aufschrift „Wolfskinder“. Er barg mehrere Aktendeckel, die mit unterschiedlich vielen Kürzeln einer ganzen Reihe von Mitarbeitern und zwei roten Stempeln geschmückt waren, die diagonal über das Deckblatt gedruckt waren.

„Dringend!“, stand da, und darunter hatte jemand noch „Sofort!“ gesetzt, als hätte der erste Vermerk nicht ausgereicht, um die Mühlen der Verwaltung etwas anzukurbeln.

So war es häufig, wenn die Polizei oder die Kollegen nicht vorwärts kamen. Sie rafften alle Papiere zusammen, steckten sie in einen Aktendeckel, der dank seiner vielen Kürzel besonders wichtig erschien, und versahen ihn mit dem Stempel „Dringend!“. Und dann landete er bei Buchholz oder einem seiner Kollegen auf dem Schreibtisch.

Einmal, vor Jahren, hatte er es gewagt, den Fall, an dem er gerade arbeitete, vorzuziehen, hatte die neue Akte, die sich so einfach vorgedrängt hatte, nach unten gelegt, wohin sie seiner Meinung nach auch gehörte.

Nächtelang hatte er von dem Donnerwetter geträumt, das sein Chef hatte über ihn niederprasseln lassen. Ob allgemeine Anweisungen nicht für ihn gelten, was er sich einbilde, selbst die Prioritäten zu setzen, das waren nur die harmlosesten Beschimpfungen.

Und dabei hatte er noch Glück. Sein Chef hatte auf eine Abmahnung verzichtet und kurz vor Feierabend, als Buchholz ihm Bericht erstatten sollte, ihm freundlich auf die Schulter geklopft.

„Sie wissen, ich lasse Ihnen größtmögliche Freiheit. Aber wenn ich „Sofort!“ stemple, dann haben Sie diese Freiheit nicht mehr.“

Und jetzt hatte er wieder so eine eilige Akte vorliegen. Genau sieben Vorgänge waren in diesem Ordner zusammengefasst, der schon durch seine aufdringliche Farbe seine Wichtigkeit demonstrierte.

An dem ersten Deckel klebte ein Zettel mit einer Kurznotiz des Chefs:

„Erwarte schriftlichen Bericht über die ‚Wolfskinder’ bis Freitag.“

Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Wohl eine der undankbarsten Arbeiten. Er würde sehr vorsichtig sein müssen.

Er klappte den ersten Deckel auf.

Das Bild, das mit einer Büroklammer an der Innenseite des Deckels befestigt war, zeigte ein Mädchen von vielleicht dreizehn Jahren, so genau konnte man das heute nicht mehr sagen. Während die Jungen sich alle Mühe geben konnten, älter auszusehen, als sie in Wirklichkeit waren, gelang es den Mädchen wie von selbst, jedenfalls denen, mit denen er zu tun hatte.

Carmen Brandt, das Foto war zwei Jahre alt, es gab wohl kein neueres, war tatsächlich sechzehn Jahre alt, war wieder einmal nicht zur Schule gegangen. Stolze sieben Wochen war sie dem Unterricht ferngeblieben, ohne dass eine Reaktion der Schule erfolgt wäre.

Buchholz konnte es nicht fassen.

War es den Lehrern gar nicht aufgefallen, dass eine ihrer Schülerinnen fehlte? Oder war man nur froh, eine, noch dazu wohl schwierige, Schülerin weniger in der Klasse zu haben?

Und die Eltern? Bekamen die das Schwänzen ihrer Tochter gar nicht mit?

Buchholz wusste zwar von Fällen, da hatten Schüler morgens das Haus verlassen, beladen mit Tasche, Schulbüchern und Butterbroten, hatten an der Haltestelle gewartet und waren in den entgegengesetzten Bus gestiegen, hatten ihre Tasche am Bahnhof in einem Schließfach deponiert und hatten sich dann den Tag über in der Stadt herumgetrieben.

Das ging ein paar Tage so, vielleicht auch zwei Wochen, aber dann musste doch jemand das bemerken.

Hier schien das Fehlen des Mädchens niemandem aufgefallen zu sein.

Buchholz blätterte ein paar Seiten durch.

Der Inhalt war enttäuschend. Eine Aufzählung von Versäumnissen und Schlampereien. In aller Eile zusammengetragen.

Einmal hatte man die Eltern besucht. Von bedenklichen Familienverhältnissen war die Rede. Die Sozialprognose war ungünstig. Man nahm an, das Mädchen würde auf der Straße leben und wohl auch enden.

Der nächste Fall, ein Junge von vierzehn Jahren, war zwei Monate nicht in der Schule erschienen und war von zu Hause abgehauen. Der Kollege Müller hatte den Jungen im alten Güterhauptbahnhof aufgespürt und zurückgeführt.

Er betreute ihn immer noch, traf sich in regelmäßigen Abständen mit ihm.

Buchholz blätterte weiter.

Kapitel 2

Sie war ihm schon gestern aufgefallen.

Wie zufällig, ziellos schlenderte sie durch den Hauptbahnhof, blieb an den verschiedenen Imbissbuden stehen, ohne Absicht, wie es schien. Mit einem flüchtigen Blick streifte sie die Stehtische im Eingangsbereich, musterte die Pappteller, die unordentliche Gäste hatten stehen lassen.

Hin und wieder änderte sie ihre Richtung, trat wie zufällig auf einen der Tische zu, auf denen ein Teller mit noch einem halben Brötchen lag, griff zu, füllte etwas Ketchup nach und verschwand so unauffällig wie sie gekommen war.

Nebenan, in einer Ecke oder hinter einer der Anzeige- oder Reklametafeln, schlang sie das Brötchen in sich hinein, wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab, ließ den Teller hinter sich fallen und begab sich erneut auf Beutesuche.

Das Mädchen war sechzehn Jahre alt, vielleicht einen Monat jünger oder älter, mehr ganz sicher nicht.

Heiko Müller hatte ein Auge dafür. Ihm machte niemand etwas vor, wenn es darum ging, das Alter Jugendlicher, gleich ob Mädchen oder Junge, zu schätzen. Er hatte es in den vergangenen Jahren gelernt, und seine Trefferquote war nahezu hundertprozentig. Sie konnten sich verkleiden und schminken, wie sie wollten, er sah ihr tatsächliches Alter.

Und deshalb saß er hier, in dem kleinen Bistro am Ende der Halle, kurz bevor man den Ausgang zum Raschplatz erreichte.

Hier hatte er den Überblick, hier kamen die vorbei, die ihn interessierten, Mädchen wie das dort, Gestrandete ohne Bleibe, die wussten, dass sie gesucht wurden, und deshalb einen Ort bevorzugten, den sie schnell verlassen konnten und dessen Labyrinth von Gängen, dunklen Ecken und ungenutzten Räumen ihnen Schutz bot.

Hier hinten fiel das Mädchen nicht auf.

Die Reisenden, die zur U-Bahn wechselten, hatten es eilig, niemand wäre auf den Gedanken gekommen, das Mädchen genauer zu betrachten.

Es störte ja auch nicht, viel weniger jedenfalls als andere, die durch den Gang wankten und Passanten um einen Euro oder eine Zigarette anbettelten.

Müller gab der Serviererin ein Zeichen. Sie nickte, kam hinter dem Tresen hervor und stellte ein Schild auf den Tisch.

Unmissverständlich verkündete es: Dieser Tisch war reserviert.

Ohne Eile verließ Müller das Bistro und schlenderte auf das Mädchen zu, das ihn noch nicht bemerkt hatte.

„Hast du Hunger?“, fragte er, als er neben ihm stand.

Erschrocken sah sie ihn an, wollte sich wegdrehen, weglaufen, aber er hielt ihren Arm. Nicht fest umklammert, sie hätte sich befreien können, mit Leichtigkeit. Sie hätte auch schreien können. Irgendwer hätte ihr sicher geholfen, und in dem Durcheinander, das entstanden wäre, hätte sie sich verdrücken können.

Sie tat nichts.

Sie stand da, seine Hand an ihrem Oberarm, sah ihn an und war wie gelähmt.

„Hast du Hunger?“, fragte er noch einmal.

Sie nickte.

Und schon führte er sie sanft zum Bistro, öffnete die Tür und schob sie hinein.

 

„Setz dich!“, forderte er sie auf, stellte das Schild zur Seite und setzte sich auch.

„Such dir was aus“, sagte er, als er bemerkte, wie gierig sie die kleine Speisekarte betrachtete.

Während sie auf das Essen warteten, betrachtete Müller seinen Gast.

Er hatte sich nicht geirrt. Auch jetzt aus der Nähe blieb er bei seinem Urteil. Sie war sechzehn Jahre alt, auch wenn sie älter aussah.

Aber sie war unglaublich verwahrlost.

Ihr langes dunkles Haar hing in verklebten Strähnen hinunter. Das schön geschnittene Gesicht mit seiner niedlichen Nase und seinem sinnlichen Mund, der sicher alles erreichen konnte, die traurigen dunklen, fast schwarzen Augen, all das konnte sicher jeden Mann zum Schmelzen bringen. Es musste nur gewaschen werden.

Das galt auch für ihre Kleidung, die vor Dreck fast stand. Seit Wochen war sie mit Sicherheit nicht gewechselt worden und unterschied sich nicht von der der Stadtstreicher, die man hier und an den anderen einschlägigen Orten der Stadt antraf.

Aber trotz dieses fast abstoßenden Eindrucks hatte Müller sofort bemerkt, man musste dieses Mädchen nur waschen und ihm saubere Kleidung geben, und man hätte eine Schönheit vor sich.

„Komm“, sagte er, als sie aufgegessen hatte, „jetzt wollen wir dich erst einmal ein wenig wiederherstellen.“

Sie sah ihn fragend an.

Sie hätte sich ja denken können, dass da irgendein Haken dran war. Kein Mann spendierte einem fremden, heruntergekommenen Mädchen ein Essen, ohne sich dabei etwas zu denken. Sie hatte gegessen, jetzt hatte sie die Zeche zu bezahlen. Sie kannte einige Mädchen vom Raschplatz, die hatten es ihr erzählt.

Nein, hämmerte es in ihrem Kopf. Sei nicht blöd!, sagte eine andere Stimme, du kannst jederzeit aussteigen! Nimm mit, was er dir bietet!

Viel Zeit zum Überlegen hatte sie nicht. Wieder hatte er ihren Oberarm gefasst, als wollte er ihr beim Aufstehen und Gehen behilflich sein, wieder fühlte sie den sanften Druck, wieder ließ sie sich führen.

Sie hatte keinen eigenen Willen.

Sie verließen die Bahnhofhalle, wandten sich nach rechts, und Müller bezahlte seine Parkgebühren.

Jetzt könnte sie weglaufen. Er brauchte beide Hände und musste sie loslassen. Warum blieb sie an seiner Seite stehen? Er könnte sie nicht verfolgen, ohne sich zu verraten. Die im Schalter würden sicher die Polizei rufen. Sie hätte ein anständiges Essen gehabt. Das wäre alles gewesen.

Warum tat sie das nicht? Wartete, bis er bezahlt hatte, würde zu ihm ins Auto steigen, mit in seine Wohnung fahren?

Das Auto, vor dem sie Halt machten, entsprach in keiner Weise ihren Vorstellungen von einem Mann, der Minderjährige verführte, denn verführen wollte er sie ganz offensichtlich. Der alte R 4, der auf einem der Frauenparkplätze stand, war verrostet und verbeult. Der Lack hatte nur noch eine matte Farbe, die an verschiedenen Stellen mit Dekoblumen überklebt war.

Müller sah das Erstaunen in den Augen des Mädchens.

Als wollte er um Entschuldigung bitten, hob er die Hände, zeigte auf das Gefährt und sagte bedauernd: „Tut mir Leid, mit was Besserem kann ich nicht dienen.“

Dann schloss er auf, setzte sich auf den Fahrersitz und öffnete die Beifahrertür.

Die Fahrt verlief still. Niemand sagte auch nur ein Wort.

Ab und zu warf Müller einen kurzen Blick zu seiner Nachbarin, und sie musterte ihn erst heimlich, dann immer offener.

Sie fuhren Richtung Linden, über die Benno-Ohnesorg-Brücke, rechts ragte der gigantische Klotz des Ihme-Zentrums auf.

Die Gegend war dem Mädchen vertraut.

Früher hatte sie hier häufig ihre Nachmittage verbracht, auch schon mal ganze Tage oder Nächte. Hier gab es Ecken, in die niemand kam, in denen man sich einrichten konnte.

Aber man konnte nur in der Clique überleben. Alleine oder nur mit ein, zwei Freunden war das zu gefährlich. Wenn sie alleine durch die dunklen Gänge ging, vorbei an eingetretenen Türen, an all dem Müll, der herumlag, wenn die vielen Bauzäune jeden Fluchtweg versperrten, dann hatte sie Angst.

Als dann auch noch der Sicherheitsdienst kam, da war es aus.

Und jetzt steuerte der Fremde einen Garagenplatz in der Tiefgarage an, stoppte den Wagen und forderte sie auf, auszusteigen.

Wieder fasste er ihren Oberarm und führte sie durch eine eiserne Tür, eine verdreckte, nach Urin stinkende Treppe hoch, bis sie auf dem Ihmeplatz standen. Weiter ging es innerhalb einer Absperrung um die nächste größere Ecke, die früher mal zu einer Buchhandlung gehört hatte, und sie standen vor einer ehemals rot lackierten Tür mit großem Glasausschnitt.

Unendlich viele Klingelknöpfe verrieten die gleiche Zahl von Bewohnern, aber sicher konnte man sich da nicht sein.

Müller bemerkte die zunehmende Beklemmung, die seine Begleiterin befiel.

„Es sieht schlimmer aus, als es ist“, versuchte er sie zu beruhigen und schob sie in einen der noch funktionierenden Aufzüge.

Der Aufzug hatte schon bessere Zeiten gesehen.

In den Ecken lagen zerfetzte Plastiktüten, zerknüllte Zettel, Essensreste. Und auch hier stank es nach Urin.

Müller schien das nicht zu stören, doch als er den elften Knopf drückte, wusste das Mädchen, er hatte kaum eine andere Wahl, es sei denn, er wollte die Treppen bis zum elften Stockwerk zu Fuß emporsteigen. Und das Treppenhaus sah sicher nicht besser aus als der Lift.

„Wie heißt du eigentlich?“, fragte er, als sich der Aufzug ratternd in Bewegung gesetzt hatte.

Die Frage kam so überraschend, dass das Mädchen seine Vorsicht völlig vergaß.

„Carmen“, antwortete sie prompt und hätte sich sofort auf die Zunge beißen mögen.

Bisher war sie anonym gewesen, auch wenn sie das Gefühl hatte, wie ein offenes Buch für ihren Begleiter zu sein, der ganz nach Willkür die Seiten umblättern konnte.

Nachdem er auch ihren Namen kannte, hatte sie kein Geheimnis mehr.

„Und du?“, fragte sie unsicher.

Der Aufzug hielt in der elften Etage.

„Hier müssen wir lang“, sagte er und führte sie wieder am Oberarm den langen Gang entlang.

„Jose“, sagte er, und als Carmen ihn ungläubig ansah, „nein, nein, Heiko.“

„Warum nennst du dich Jose, wenn du Heiko heißt?“

„Und warum heißt du Carmen? Sind deine Eltern Opernfreunde?“

Sie nickte.

„Sie waren es mal, bevor mein Vater arbeitslos wurde und zu trinken begann. Da wurde alles anders.“

Sie waren vor Müllers Wohnung angelangt. Er zog sein Schlüsselbund hervor und öffnete.

Sie traten in einen kleinen fast quadratischen Flur, von dem eine Tür zum Badezimmer und eine zum Schlafzimmer führte und der sich zum Wohnzimmer mit amerikanischer Küche öffnete.

Carmen war überrascht. Sie hatte sich die Wohnungen hier im Hochhaus ganz anders vorgestellt, dunkel, kleine Fenster. Wenn sie von außen die Anlage sah, hatte sie immer gedacht, sie würde erdrückt. Jetzt war sie in einen lichtdurchfluteten Raum eingetreten, durch dessen große Fenster die Sonne schien.

„Geh ruhig weiter“, forderte Heiko sie auf und öffnete die Balkontür.

Unter ihnen lag die Ihme, ein einsamer Paddler zog unterhalb des Hauses vorbei.

Das wäre schön, dachte sie, da unten auf dem Fluss entlang zu paddeln, völlig frei zu sein!

„Zieh dich aus!“, unterbrach Müller ihre Gedanken.

Also doch! Jetzt kommt die Rechnung!

„Du willst doch nicht so – entschuldige – schmutzig bleiben. Nimm erst einmal ein warmes Bad. Und spare nicht mit Wasser und Seife. Ich lege dir Handtücher hin. Und wenn du fertig bist, suchst du dir einen Pullover oder ein Hemd von mir aus. Ich stecke erst einmal deine Klamotten in die Waschmaschine.“

Und damit schob er sie in das Badezimmer, ließ Wasser in die Wanne einlaufen, gab einen großen Schuss flüssige Seife hinzu und stellte eine Flasche Haarshampoo auf den Wannenrand.

„Nun mach schon, ich beiße nicht!“, forderte er sie auf, als sie noch zögerte.

Er schien sich nur für ihre verdreckte Kleidung zu interessieren, die er einsammelte und in die Waschmaschine stopfte. Ob die verschiedenen Teile zusammen gewaschen werden durften, ob sie alle neunzig Grad vertrugen, interessierte ihn nicht. Hier einen Unterschied zu machen, wäre Unsinn gewesen.

„Ich muss noch mal kurz weg!“ rief er durch die Badezimmertür, dann hörte Carmen, wie die Wohnungstür geöffnet und abgeschlossen wurde.

Nun bin ich gefangen!

Im Geist ging sie alle Möglichkeiten durch, die sie hatte.

Auf normalem Weg konnte sie die Wohnung nicht verlassen. Über den Balkon konnte sie ebenfalls nicht flüchten. Der Abstand zu dem Balkon der Nachbarwohnung war zu groß. Abseilen konnte sie sich auch nicht. Schon der Gedanke daran bereitete ihr Schwindel.

Also sich fügen und alles über sich ergehen lassen?

Sie ließ sich am hinteren Rand der Badewanne hinab gleiten, schloss die Augen und tauchte den Kopf in das warme Wasser.

Wenn er schon kassierte, dann wollte sie das Bad wenigstens genießen.

Immer wieder ließ sie warmes Wasser nachlaufen, bis sie schließlich den Stöpsel zog und die Seifenreste von ihrem Körper abduschte.

In dem kleinen Badezimmerregal entdeckte sie eine Flasche Bodylotion, cremte sich sorgfältig ein und betrachtete sich im Spiegel. Sie war zufrieden. So hatte sie sich noch nie gesehen.

Zu Hause in dem winzigen Badezimmer, das noch den Terrazzoboden und den Ölfarbanstrich aus den fünfziger Jahren hatte, war der Spiegel so winzig, dass sie nur einen kleinen Ausschnitt von sich sah.

Und das Licht war einfach grauenhaft. Da konnte man sich nicht schön machen.

Dann ging sie auf die Suche nach einem passenden Kleidungsstück.

Das Schlafzimmer war ein langer und recht schmaler Schlauch. Vorne, hinter der Tür stand der Kleiderschrank, der sich über die ganze Zimmerbreite erstreckte. An der langen Wand stand das Bett, größer als es für eine Person nötig war, aber auch kein Doppelbett. Vor dem Fenster befand sich ein kleiner Schreibtisch mit Computer und einigen Büchern.

Carmen öffnete alle Schranktüren, fuhr mit der Hand über die Pullover und Wäsche, setzte sich im Schneidersitz auf das Bett und ließ ihren Blick über die Schrankfächer gleiten. Endlich hatte sie ihre Wahl getroffen.

Auf eine Hose verzichtete sie. Heikos Hosen waren ihr viel zu groß. Sie wäre darin ertrunken.

Vorsichtig zog sie einen kuscheligen baumwollenen Pullover heraus. Auch in dem würde sie ertrinken, aber es war der einzige, der zu ihr passte. Er war so weit und lang, dass er bis unter ihre Pobacken reichte, fast wie ein Kleid. Die Ärmel krempelte sie zweimal um und schob sie hoch, so dass sie nicht rutschen konnten.

So setzte sie sich auf das Sofa, die langen angezogenen Beinen mit den Armen umschlungen, den Kopf auf die Knie gebettet. Jetzt konnte Heiko Müller kommen.

Oder Jose?

Sie würde ihn fragen.