1866

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Kein geeintes Italien, sondern nur ein erweitertes Piemont

Sardische Truppen hatten schon im Juni die drei Herzogtümer besetzt, offiziell von den dortigen liberalen Übergangsregierungen zu Hilfe gerufen. Auch der im Aufstand befindliche nördliche Teil des Kirchenstaates, die Emilia Romagna, wurde besetzt, nur das Kerngebiet konnte die Schweizer Garde des Papstes militärisch behaupten. Noch vor dem Waffenstillstand von Villafranca hatte Cavour seinen Vertrauten La Farina beauftragt, „spontane Demonstrationen“ für die italienische Sache in den neu besetzten Gebieten zu organisieren und überall Plebiszite vorzubereiten, die den Anschluss an Piemont-Sardinien gutheißen sollten. Die scheindemokratische Absegnung war das Standardverfahren, das Turin schon 1848 in der Lombardei angewandt hatte und das nun auch alle zukünftigen Annexionen begleiten sollte. Als Cavour am 21. Januar 1860 wieder das Amt des Ministerpräsidenten in Turin übernahm, war die Anschlusslösung in Mittelitalien bereits so populär, dass auch der französische Kaiser nachgeben musste. Immerhin wurde ihm seine Entscheidung mit der Abtretung von Nizza und Savoyen versüßt. Die Volksabstimmungen in den drei Herzogtümern und im nördlichen Teil des Kirchenstaates erschienen am 11./12. März 1860 als eine glänzende Bestätigung der cavourschen Politik und machten den Züricher Friedensvertrag vom November 1859 zur Makulatur. Die föderative Lösung der italienischen Frage, wie sie eine Dekade später Bismarck in Deutschland realisieren konnte, war damit vom Tisch. Doch ohne die alten Fürstenhäuser und ihre Regierungen musste Piemont-Sardinien sein riesiges neues Herrschaftsgebiet erst einmal verwaltungsmäßig konsolidieren, ehe an weitere Einigungsschritte gedacht werden konnte. Cavour sah die Problematik und versuchte zu bremsen, aber die Entwicklung drohte nun auch über ihn hinwegzugehen.

Garibaldis Zug der Tausend

Noch hatten die Mazzinisten ihren alten Plan von der Besetzung Roms und der Absetzung des Papstes nicht aufgeben. Giuseppe Garibaldis legendäre Fahrt nach Sizilien Anfang Mai 1860 versprach nun den alten Traum wiederzubeleben. Die Insel galt als Schlüssel, mit dem sich der Weg nach Rom von Süden her öffnen ließ. Rebellen in Palermo hatten im April um Garibaldis Unterstützung gebeten und nach einigem Zögern hatte er zugestimmt. Seine kämpferischen Jahre in Südamerika hatten ihn tief geprägt. Garibaldi war der Typ des Guerrillero, einfach, gradlinig und gerissen, durch Vorbild und Charisma der ideale Anführer improvisiert zusammen gestellter Truppen.67 Eine formale militärische Ausbildung besaß er nicht. Viele seiner etwa 1000 Rothemden, mit denen der Revolutionsheld am 11. Mai 1860 in Marsala an der Westküste der Insel landete, waren Angehörige der regulären piemontesischen Armee. Sein Stabschef war Wilhelm Rüstow, ein ehemaliger Premierleutnant der Preußischen Armee, der seit 1849 im Schweizer Exil gelebt hatte.

Der junge König Francesco II. und seine überalterten Generale nahmen das Unternehmen zunächst nicht ernst, konnten aber auch nicht wissen, dass Garibaldi mit Wissen und Billigung König Vittorio Emanueles II. agierte und ständig weitere Unterstützung aus dem Norden erhielt. Auch Cavour wusste Bescheid, ließ aber Garibaldi vorerst gewähren. Scheiterte sein Zug, war er einen gefährlichen Konkurrenten los, hatte er jedoch Erfolg, ließen sich immer noch Mittel und Wege finden, um davon zu profitieren.

Nach einem ersten Sieg über ein mutlos geführtes neapolitanisches Kontingent am 16. Mai bei Calatafimi fiel die Stadt Palermo schon zwölf Tage später in die Hand der Rothemden. Obwohl sich die Landbevölkerung abwartend, später sogar feindlich gegenüber den Eindringlingen verhielt, hatten Garibaldis Männer die Insel zwei Monate später in ihre Hand gebracht. Er handelte im Auftrag Vittorio Emanueles II. und trat als Dittatore auf, Cavours Emissär La Farina schickte er allerdings sofort nach Turin zurück. Mitte August 1860 wagte Garibaldi den Sprung aufs Festland, besiegte mit unerwarteter Leichtigkeit die ihm entgegengesandten Truppen des Königs. Francescos Soldaten wussten nicht mehr, wofür sie kämpften, und desertierten in Scharen. Ein ganzes neapolitanisches Bataillon kapitulierte sogar vor sechs Rothemden, die sich verlaufen hatten. Richard Strauss sollte später in seiner Oper „Der Rosenkavalier“ spotten: „Ich bin kein Napolitanischer General. Wo ich steh’, steh’ ich.“68

Am 7. September traf Garibaldi mit einem kleinen Kommando in der Hauptstadt Neapel ein, anfangs von der Bevölkerung stürmisch begrüßt.

Derweil hatten sich Francesco II. und der Rest seiner Armee nach Norden hinter den Volturno zurückgezogen.

Nun war es für Cavour höchste Zeit einzuschreiten. Die piemontesische Armee rückte am 11. September in den Kirchenstaat ein, angeblich zum Schutz des Papstes vor Garibaldis Rothemden, in Wahrheit aber trieb er mit dem Kirchenoberhaupt ebenso wie mit Napoleon III. ein Doppelspiel. Piemont besetzte einfach den gesamten östlichen Teil des Patrimonium Petri – angeblich, um Aufständen der Mazzinisten zuvorzukommen – und ließ durch ein Plebiszit ihre Annexion vorbereiten. Frankreichs düpierter Kaiser durfte sich noch glücklich schätzen, vor den kritischen Augen der Katholiken in seinem Land den Kirchenstaat wenigstens im Prinzip gerettet zu haben. Eine französische Garnison in Rom sollte zukünftig die Integrität des päpstlichen Restterritoriums gewährleisten. Nicht weniger rabiat wurde mit dem alten Königreich „Beider Sizilien“ verfahren, dessen Gebiete Garibaldi nach seinem Sieg am Volturno in der legendär gewordenen Begegnung am Teano am 26. Oktober 1860 feierlich Vittorio Emanuele II. übergab. Zutiefst deprimiert zog sich Italiens Volksheld und das einzige echte militärische Talent seiner Revolution auf die Insel Caprera vor Sardinien zurück, um dort gleich seinem Vorbild, dem Altrömer Cincinnatus, auf den erneuten Ruf seines Vaterlandes zu warten.


Giuseppe Garibaldi bei der Schlacht am Volturno, 1. Oktober 1860

Cavours Kalkül war glänzend aufgegangen. Die bereits von den Kommissaren des Königs vorbereiteten Plebiszite in Sizilien und auf dem süditalienischen Festland brachten im November 1860 keine Überraschung. Die Wähler konnten die Frage, ob man Teil eines einigen und unteilbaren Italiens sein wollte, nur mit „Ja“ oder „Nein“ beantworten. Was bei einer Ablehnung geschehen sollte, war nicht bekannt, auch schienen viele Neapolitaner gar nicht zu wissen, was mit Italien überhaupt gemeint war.69

Tatsächlich war die italienische Einigung nur ein geschickt arrangierter Eroberungszug gewesen und das neue Italien nichts anderes als ein nunmehr hoffnungslos überdehntes Piemont-Sardinien. Mazzini nannte es ein Trugbild, eine Parodie Italiens. Das Land war vergewaltigt, nicht geeinigt worden.

Für die ehemaligen Untertanen von Francesco II. war die Gründung Italiens auch alles andere als eine Befreiung, denn sie brachte ihnen überhaupt erst eine neue Fremdherrschaft. Tausende von sogenannten Briganten zogen in die Berge und Wälder und kämpften noch jahrelang gegen die piemontesischen Besatzungstruppen. Es war ein blutiger Guerillakrieg, der so gar nicht zu dem offiziellen Einigungsjubel passte.

Der neue Turiner Staat nutzte allein dem Großbürgertum und der rasch wachsenden Klasse von Fabrikanten. Für die sogenannten kleinen Leute brachte die zwangsweise Vereinigung dagegen nur höhere Steuerlasten und die Einführung der verhassten Wehrpflicht. Sie konnten nur die Faust in der Tasche machen oder in die Berge gehen. An den ersten allgemeinen Wahlen im Januar 1861 durften zudem wegen des hohen Zensus nur ganze zwei Prozent der Bevölkerung teilnehmen. Am 18. Februar traten die in allen Landesteilen gewählten Vertreter erstmals im Turiner Parlament zusammen. Nur fünf Tage früher hatte südlich von Rom die Hafenstadt Gaeta nach einer Belagerung von fast vier Monaten kapituliert. Mit seiner Gattin, einer bayerischen Prinzessin, ging König Francesco II. ins römische Exil, später dann nach Bayern und Tirol. Sein Königreich, von den Normannen gegründet, hatte nach über 700 Jahren zu bestehen aufgehört. Nur fünf Jahre später sollte es dem Königreich Hannover und zwei weiteren deutschen Staaten ebenso ergehen.

Reformen ohne Ziel – Österreichs Armee von 1848–1866

„In einer Welt ständiger Umwälzungen und größter Rüstungen hat man in Österreich damit begonnen, der Armee binnen zwei Jahren vom Staatsschutz 45 Mio., mithin den dritten Teil ihrer früheren Dotationen zu entziehen [und] sie auf die Hälfte ihres früheren Kriegsstandes zu setzen.“

Generalfeldmarschall Heinrich Freiherr von Heß, österreichischer Generalstabschef, am 26. Januar 1864 zu den Sparplänen des Finanzministeriums70

Am 18. Januar 1858 wurden die Bürger Wiens Zeugen eines beeindruckenden Leichenzuges. Eine Kolonne von 20.000 Soldaten begleitete am Vormittag den zwei Wochen zuvor in Mailand verstorbenen Feldmarschall Josef Wenzel Graf Radetzky von Radek auf seinem letzten Weg vom neu errichteten Arsenal in die Wiener Innenstadt. Bei kaltem klarem Wetter bewegte sich der scheinbar endlose Zug langsam durch das Kärtnertor der damals noch existierenden Stadtbefestigung zum Stephansdom. An ihrer Spitze schritt mit gezogenem Degen der 28-jährige Kaiser Franz Joseph.

 

Nicht wenige Beobachter dürften beim Anblick des in einem prächtigen Leichenwagen aufgebahrten Sarges gespürt haben, dass mit dem Tod der fast 92-jährigen Feldherrnlegende nunmehr unwiderruflich eine Epoche zu Ende gegangen war, in welcher der habsburgische Kaiserstaat noch einmal seine Position als zentrale Ordnungsmacht Europas eindrucksvoll gefestigt hatte.

In zwei Feldzügen war es Radetzky zehn Jahre zuvor gelungen, die Truppen Piemont-Sardiniens mehrfach zu schlagen und schließlich sogar bei Novara am 23. März 1849 gänzlich zu vernichten. Über die außergewöhnliche Kühnheit und die Präzision seiner Operationen hatte damals ganz Europa gestaunt.71 Zeugen sprachen von einer gewissen Nonchalance, ja sogar von einer geistreichen Schelmenhaftigkeit, mit welcher der agile Greis seine Truppen kommandiert hatte. Selbst im Rollstuhl, so glaubten seine Offiziere, hätte er sie noch zum Sieg geführt.72

Nun war die dritte große Feldherrngestalt Österreichs neben dem Prinzen Eugen und Erzherzog Karl nach 72 Dienstjahren unter fünf Kaisern aus der Geschichte abgetreten und mit Sorge stellte man sich in der Wiener Hofburg die Frage, wer Radetzky an der Spitze der Armee ersetzen sollte. „In Deinem Lager ist Österreich, wir anderen sind nur Trümmer“, lautete eine Zeile des Gedichts, das ein begeisterter Franz Grillparzer 1848 dem siegreichen Feldmarschall gewidmet hatte. Es brachte die weitverbreitete Ansicht zum Ausdruck, dass allein die Armee das Lombardo-Venezianische Königreich für die Monarchie bewahrt und damit auch den Gesamtstaat gerettet habe. Die Armee war das wirkliche Vaterland der Patrioten im brüchigen Vielvölkerstaat und ihre Offiziere neigten naturgemäß zu einem starken Selbstbewusstsein. Die Überzeugung, jeder Bedrohung gewachsen zu sein, konnte allerdings auch eine ungesunde Ausprägung annehmen, wenn etwa nur ein Jahr nach Radetzkys Tod, im Vorfeld des Krieges von 1859, der einflussreiche Generaladjutant des Kaisers, Karl Ludwig Graf von Grünne, dem Feldzeugmeister Franz Gyulai, seinem Freund und zugleich Radetzkys Nachfolger im italienischen Oberkommando, die Ermahnung schickte: Was der alte Esel mit 80 Jahren gekonnt hat, wirst Du auch noch zustande bringen.73

Die Zeit der großen Kämpfe schien da jedoch schon der Vergangenheit anzugehören. In der zurückliegenden Dekade war die Armee unter Politikern wie Felix Fürst zu Schwarzenberg oder seinem Nachfolger, Außenminister Karl Ferdinand Graf von Buol-Schauenstein, zu einem politischen Drohmittel mutiert. Schon der grenznahe Aufmarsch des Heeres genügte offenbar, die Interessen der Monarchie durchzusetzen. Nur zu gern prahlten österreichische Diplomaten an Europas Höfen mit der gewaltigen Stärke der kaiserlichen Armee. Selbst wenn die dabei ins Spiel gebrachte Zahl von 850.000 Mann eher ein theoretischer Wert blieb, der sich aus acht aktiven und zwei Jahrgängen der Reserve zu je 83.000 Soldaten addierte,74 reichte sie immerhin aus, um im November 1850 den preußischen Rivalen an den Olmützer Verhandlungstisch zu bringen. Nur drei Jahre später war auch das Zarenreich eingeknickt, als Habsburg gleich zwei seiner Armeen in Galizien auf Kriegsfuß brachte, um seine Interessen an der lebenswichtigen Donaumündung zu wahren. Vordergründig waren Preußens Einlenken in der mährischen Hauptstadt und Russlands Rückzug aus den beiden sogenannten Donaufürstentümern (Moldau und Walachei) politische Erfolge, die ohne einen scharfen Schuss erzielt worden waren. Doch als Außenminister Buol im April 1859 erneut dieselbe Karte gegen das nunmehr mit Frankreich verbündete Piemont-Sardinien ausspielen wollte, musste er feststellen, dass der Riss im Verhältnis zu Russland, dem alten Verbündeten, nicht mehr gekittet werden konnte. Vor allem aber Preußen, der vermeintliche Juniorpartner im Deutschen Bund, war keineswegs gewillt, ohne weitreichende Konzessionen Wiens Teil einer österreichischen Drohkulisse am Rhein zu werden.

Die Einsicht, völlig isoliert gegen Frankreich und Piemont-Sardinien zu stehen und diesen Konflikt nunmehr auch mit Waffengewalt austragen zu müssen, traf Buol wie ein Schlag ins Gesicht. Noch im April 1859 hatte er nicht an einen Krieg in Italien glauben wollen.

Rasch zeigte sich in dieser kritischen Stunde auch, dass an der Spitze der einst glorreichen Italienarmee inzwischen ein Befehlshaber stand, der offenbar nicht einmal einen Bruchteil der militärischen Qualitäten des „alten Esels“ Radetzky aufwies.

Fraglos hätte es bessere Nachfolger für Radetzky gegeben als den unsicheren und pedantischen Graf Gyulai, den 60-jährigen Spross einer ungarischen Magnatenfamilie, der in der Armee nicht einmal den besten Ruf genoss. Der ehemalige Kriegsminister galt sogar als aufgeblasen, entschlusslos und wenig einsichtig, Friedrich Engels nannte ihn einen hochadligen Schwachkopf.75 Niemals wäre es ihm in den Sinn gekommen, wie es der große Radetzky 1848 fertiggebracht hatte, eine Weisung aus Wien, die ihn zu Waffenstillstandsverhandlungen mit Piemont-Sardinien aufforderte, einfach zu ignorieren und stattdessen eine Gegenoffensive zu beginnen. Gyulai fehlte dieser Mut und der klare Blick auf die Realitäten. Er schien sich lieber in unwichtige Details zu flüchten. Für Heiterkeit und Befremden in der Armee hatte besonders Gyulais Befehl gesorgt, dass bei Paraden alle seine Soldaten einen schwarzen Schnurrbart tragen sollten. Wo er fehlte, war er mit schwarzer Schuhcreme aufzumalen, die allerdings bei Hitze den Soldaten über Lippen und Kinn rann und ein eher groteskes Bild erzeugte.

Dagegen waren jene Offiziere, die unter Radetzky mit Auszeichnung gekämpft hatten, bei der Besetzung des Italienkommandos übergangen worden.

An erster Stelle stand hier der Feldmarschall Heinrich Freiherr von Heß, Radetzkys ehemaliger Generalquartiermeister und fraglos der geistige Urheber der spektakulären österreichischen Siege zwischen Mincio und Ticino. Doch Heß, der bereits als Oberleutnant in der Schlacht von Wagram (1809) gefochten hatte und inzwischen im 70. Lebensjahr stand, war kein charismatischer Truppenführer wie sein ehemaliger Chef. Nach dem Urteil Johann Christoph Allmeyer-Becks verkörperte der meist schweigsame Heß wie Helmuth von Moltke auf preußischer Seite das Ideal eines wissenschaftlich gebildeten, mit der Technik der Armeeführung bis ins Kleinste vertrauten Generalstäblers. Immerhin rückte Heß nach dem ersten Italienkrieg zum Generalquartiermeister im neuen Armeeoberkommando auf, musste sich dort aber in vieler Hinsicht der Generaladjutantur unter Grünne beugen. Im Herbst 1853 übernahm er dann den Befehl über die österreichische Observationsarmee in Galizien, die Russlands Balkanambitionen bremsen sollte.

Ebenso wie Heß fand sich auch das zweite bedeutende militärische Talent der Monarchie, Erzherzog Albrecht, in die östliche Reichshälfte versetzt, wo er in Ungarn als neuer Reichsstatthalter die seit dem Krieg von 1849 zerrütteten Verhältnisse stabilisieren sollte. Es war eine überaus prekäre Aufgabe, für die der älteste Sohn des Erzherzogs Karl, der sich unter Radetzky im März 1849 als Befehlshaber einer Division bei Novara bewährt hatte, weder Neigung noch Talent mitbrachte.76

Lediglich der 1848/49 vielfach ausgezeichnete Generalmajor August von Benedek, der Held von Mortara, das er am 21. März 1849 mit einem einzigen Bataillon erstürmt hatte, war in der Lombardei verblieben und diente dem alten Radetzky noch sieben Jahre lang als neuer Generalstabschef, ehe er 1857 das IV. Armeekorps in Lemberg übernahm.

Die Monarchie war mit Ausnahme der alten Militärgrenze gegenüber der Türkei seit 1849 in zwölf sogenannte Generalkommandos eingeteilt, in denen jeweils ein Armeekorps zu vier Infanterieregimentern und einer Kavalleriedivision stationiert war. Außer in Lemberg gab es noch Generalkommandos in Prag, Brünn, Wien, Pest, Innsbruck, Graz, Krakau sowie in Mailand und Verona. Die erforderlichen Führungsstäbe mussten allerdings erst mühsam aufgebaut werden, da das österreichische Heer bis dahin keine dauernden Kommandobehörden oberhalb der Divisionsebene vorgesehen hatte.

Die Regimenter dienten jedoch nicht nur der Landesverteidigung oder dem Aufbau einer außenpolitischen Drohkulisse. Sie waren, da in weiten Teilen des Vielvölkerstaates selbst nach Abschluss der Kämpfe von 1848/49 noch lange der Ausnahmezustand herrschte, immer auch ein Instrument der politischen Kontrolle. Grundsätzlich stammten daher die Rekruten aus anderen Landesteilen, um im Ernstfall ethnische Loyalitätskonflikte zu vermeiden, und die Regimenter selbst waren es gewohnt, nach einigen Jahren ihre Standorte zu wechseln. Die Nachteile einer dadurch stark verzögerten Mobilisierung im Krisen- oder Kriegsfall nahm das Armeeoberkommando in Wien in Kauf.

Der Faktor Zeit gewann jedoch in einer Epoche, die wie das nachrevolutionäre Jahrzehnt eine explodierende Fülle technologischer Neuerungen hervorbrachte, stetig an Bedeutung. Eisenbahnen, Telegrafen und vor allem verbesserte Schusswaffen setzten seither die Armeen aller europäischen Großmächte unter erheblichen Anpassungsdruck. Zuletzt hatte der Krimkrieg gezeigt, dass moderne Heere nur noch auf der Grundlage einer effektiven Stabsarbeit erfolgreich gelenkt werden konnten. Militärische Führung verwandelte sich mehr und mehr in einen komplexen Vorgang und damit veränderte sich auch das Anforderungsprofil für Offiziere in dramatischer Weise. Technisches Verständnis, vorausschauendes Planen und kalkulierte Eigeninitiative traten neben die klassischen militärischen Tugenden wie Tapferkeit und Loyalität. Als Teil einer umfassenden Reform des Armeebildungswesens war daher am 1. November 1852 in Wien auch eine neue Kriegsschule eröffnet worden, in der die von der Armee dringend benötigten Offiziere für den Generalquartiermeisterstab und die höheren Truppenstäbe ausgebildet werden sollten. Als zentrale Fortbildungsstätte für besonders befähigte Leutnants und Hauptmänner ergänzte sie die bereits bestehenden Militärakademien und Divisionsschulen. Eine Eignungsprüfung, in der die Kandidaten ihre Kenntnisse in Mathematik, Trigonometrie, Geografie, Festungslehre und Kriegsgeschichte belegen mussten, war nunmehr das Entree zur Mitgliedschaft in einer zukünftigen militärischen Elite.77

Auch hinsichtlich Bewaffnung und Ausrüstung der Armee waren bedeutsame Änderungen eingetreten. So hatte das Armeeoberkommando in Wien keine Kosten gescheut und seine Infanterieregimenter seit 1854 sukzessive mit einem völlig neu konstruierten Gewehr ausgerüstet. Anders als die bisher gebräuchlichen Musketen wies das neue Lorenzgewehr im Rohrinnern vier spiralförmige Züge auf, die dem Geschoss eine Drehung um die eigene Längsachse verliehen und es damit in seiner Flugbahn stabilisierten. Das Prinzip war zwar schon seit der Renaissance bekannt, jedoch für Militärwaffen wegen des hohen Ladeaufwandes nicht geeignet gewesen. Dem Büchsenmacher und Unterleutnant Josef Lorenz aus Wien war es jedoch gelungen, eine leicht unterkalibrige Spitzpatrone zu entwickeln, deren Boden mit Rillen versehen war. Beim Zündvorgang wurde das Geschoss in seiner Länge so weit gestaucht, dass es das Rohrinnere ganz ausfüllte und somit die angestrebte Führung durch die eingefrästen Züge erhielt. Zugleich sorgte die nunmehr bessere Verdichtung der Pulvergase für größere Reichweiten und eine höhere Treffgenauigkeit. Selbst ein nur mittelmäßig ausgebildeter Schütze konnte mit dem Lorenzgewehr Einzelziele schon auf 300 Meter mit Aussicht auf Erfolg bekämpfen. Für Scharfschützen und Unteroffiziere gab es anstelle des üblichen Standvisiers sogar einen verstellbaren Aufsatz für Distanzen zwischen 400 und 900 Metern.78 Auch wenn das Gewehr immer noch ein Vorderlader war, übertraf es an Reichweite und Treffsicherheit deutlich das Preußische Zündnadelgewehr, dem britischen Enfield-Minié-Gewehr war es mindestens ebenbürtig, wies aber mit nur 13,9 mm ein geringeres Kaliber auf, was eine willkommene Gewichtsersparnis bei der Munition zur Folge hatte. In der Feuergeschwindigkeit aber waren beide Modelle dem neuen Hinterlader der preußischen Armee klar unterlegen.

Die gegenüber den bisherigen Musketen weitaus aufwendigere Schießausbildung scheint allerdings nicht in allen Regimentern konsequent durchgeführt worden zu sein. Der Krieg von 1859 offenbarte, dass die Schützen das Entfernungsschätzen im Gelände nicht beherrschten, ja oft nicht einmal in der Lage waren, die Waffe richtig zu laden. So fanden sich auf dem Schlachtfeld von Solferino tatsächlich Lorenzgewehre, die in ihrem Lauf noch das Schmierfett aus der Fabrik aufwiesen.79 Der preußische Prinz Kraft zu Hohenlohe-Ingelfingen erinnerte sich, noch bei Königgrätz österreichische Gewehre gefunden zu haben, in denen die Patronen verkehrt herum steckten.80

 

Insgesamt fehlte es der Habsburgerarmee am Ende der Ära Radetzky durchaus nicht an Reformeifer, doch viele Neuerungen hatten auch einfach nur den Zweck, durch Neuorganisation und Zusammenlegungen Einsparungen zu erreichen. Wie wenig hinter all den Bemühungen ein wirklich leitender Gedanke steckte, zeigte sich vor allem in der Organisation des neuen Armeeoberkommandos, das unterhalb des Kaisers die Funktionen der Generaladjutantur, des Generalquartiermeisterstabes und des Kriegsministeriums bündeln sollte. Eine klare Abgrenzung der jeweiligen Kompetenzen kam aber nie zustande, schließlich wurde Feldzeugmeister Heß als Chef des Generalquartiermeisterstabes sogar bei der Auswahl der Kandidaten für die Kriegsschule von Generaladjutant Grünne übergangen. Das Kriegsministerium wiederum löste man 1856 sogar ganz auf, da der Kaiser über diese Behörde eine parlamentarische Einflussnahme auf seine Armee befürchtete. So waren also viele Reformprojekte angepackt, aber nur wenig zu einem befriedigenden Abschluss gebracht worden, als kaum drei Jahre nach dem Pariser Frieden von 1856 Habsburgs Armee erneut auf den alten Schlachtfeldern von 1848/49 den Truppen des Königreiches Piemont-Sardinien gegenüberstand. Anders als noch zehn Jahre zuvor kämpfte der Gegner jedoch nicht mehr allein, sondern hatte jetzt Frankreich, die neue Hegemonialmacht Europas, an seiner Seite.

Trotz aller Unfertigkeit und vieler Führungsschwächen musste der Krieg von 1859 für die Monarchie nicht verloren gehen. Auch der Gegner machte Fehler und Napoleon III. erreichte als Heerführer längst nicht die militärischen Qualitäten seines Onkels. Selbst noch nach der verlorenen Schlacht von Solferino am 24. Juni hätte der Krieg mit Erfolg fortgesetzt werden können, standen doch jetzt 300.000 Österreicher gegen nur 230.000 Franco-Sarden. Doch der Kaiser hatte inzwischen den Glauben an eine Besserung der Lage aufgegeben und zum Entsetzen seiner Generale schon am 8. Juli 1859 in einen Waffenstillstand eingewilligt. Zum ersten und auch letzten Mal hatte Franz Joseph nach der Ablösung Gyulais persönlich den Oberbefehl über die Armee übernommen und fürchtete nun wohl, sich in dieser ihn klar überfordernden Rolle noch weiter zu demontieren.

Selbst der viel gepriesene Heß, der dem Kaiser zuletzt als Generalquartiermeister zur Seite stand, hatte das Desaster von Solferino nicht mehr verhindern können. Zwar noch zum Feldmarschall befördert, wurde er im folgenden Jahr ebenso wie mehr als 100 andere Generale in den Ruhestand verabschiedet.81 Man brauchte jetzt dringend Sündenböcke. Ein noch bittereres Schicksal traf allerdings den Generaldirektor für ökonomische Angelegenheiten, Feldmarschall-Leutnant August Friedrich Freiherr von Eynatten, der unter dem Vorwurf der Korruption in Haft genommen wurde und sich kurz darauf das Leben nahm. Dass der Kaiser an einer schonungslosen Aufarbeitung der Niederlage nicht interessiert war, zeigte sich auch darin, dass der Generalquartiermeisterstab die offizielle Geschichte des Krieges von 1859 erst 13 Jahre später veröffentlichte. Eine von Generalmajor Wilhelm Freiherr von Ramming anonym veröffentlichte Studie über das Desaster von Solferino fand denn auch allerhöchste Missbilligung.

Ihre unerwartete Niederlage hatte die Armee des Kaiserstaates von ihrem hohen Sockel der Unantastbarkeit gestoßen. Trotz erheblicher Militärausgaben, die in der zurückliegenden Dekade gewöhnlich zwischen 40 und 50 Prozent der Staatseinnahmen ausmachten, hatten die Streitkräfte auf den italienischen Schlachtfeldern beinahe kläglich versagt. Für den zukünftigen Sparkurs bei den Militärausgaben war damit eine entscheidende Bresche geschlagen.

Sämtliche Hoffnungen einer zutiefst geschockten Öffentlichkeit und auch des Hofes richteten sich nach der Niederlage in Norditalien auf Feldzeugmeister von Benedek. Im zurückliegenden Feldzug hatte der Sohn eines Arztes aus dem ungarischen Ödenburg seinen Ruf als schneidiger Feldsoldat einmal mehr unter Beweis gestellt, ja mehr noch: Als einzigem Truppenführer war es ihm gelungen, mit seinem Armeekorps bei San Martino am 24. Juni den ganzen Tag seine Stellungen auf dem rechten Flügel der Armee gegen die Piemontesen zu verteidigen und damit Österreichs Waffenehre halbwegs zu bewahren. Euphorisiert sprach die heimische Presse von einem „neuen Radetzky“ und die Stadt Wien ernannte Benedek wie zuvor schon den greisen Feldmarschall zu ihrem Ehrenbürger. Nur vereinzelt waren in der allgemeinen Zustimmung auch nüchternere Kommentare zu vernehmen, die etwa kritisierten, dass Benedek nicht wenigstens mit Teilen seines Armeekorps dem bedrängten österreichischen Zentrum bei Solferino zu Hilfe gekommen sei.82 Zeitgenossen wie der spätere Feldzeugmeister Anton Mollinary von Monte Pastelli übersahen auch nicht, dass Benedek nur wenig auf taktische Übungen hielt und sich schon zufrieden zeigte, wenn nur bei einer Parade die Abteilungen gut geschlossen und gut gerichtet vorbeimarschierten.83

Nun folgte der 56-jährige General, der schon um seinen Abschied gebeten hatte, seinem Lehrmeister Heß in der Führung des Generalquartiermeisterstabes und übernahm außerdem in Personalunion das Oberkommando in Italien. Schlimmer noch als die unerwartete Niederlage und der Verlust einer notorisch unruhigen Provinz waren jedoch die falschen taktischen Schlüsse, die vor allem der Kaiser aus dem unglücklichen Verlauf des Feldzuges zog. Besonders imponiert hatte Franz Joseph der Angriffsgeist der französischen Bataillone, die bei Solferino das österreichische Infanteriefeuer einfach unterlaufen hatten, um dann auf kurze Distanz im Bajonettangriff zum Erfolg zu kommen. Der schockartige Angriff der dicht geschlossenen Bataillonskolonne galt dem Kaiser seither als Schlüssel zum Erfolg. Waren bislang die sechs Kompanien eines österreichischen Bataillons in zwei deutlich getrennten Kolonnen formiert gewesen, so forderte das neue Infanteriereglement jetzt nach französischem Vorbild eine Verringerung der Kolonnenabstände von 50 auf nur mehr drei Schritt. Das Reglement schrieb sogar vor, selbst in der Verteidigung möglichst die eigene Stellung aufzugeben und von Waldrändern oder von Hügelkämmen hinab den Gegner mit dem Bajonett zu attackieren.84 Niemand mochte dieser vom Kaiser selbst gebilligten Änderung widersprechen, zumal schließlich auch die österreichischen Erfolge während des Feldzugs gegen Dänemark im Frühjahr 1864 die Zweckmäßigkeit seiner Ansichten zu bestätigen schienen. Gleich in den beiden Gefechten von Schleswig und Översee überrannte Anfang Februar eine österreichische Infanterie brigade die verschanzten Dänen im Frontalangriff. Dass eine geschickte Umgehung der dänischen Stellung bei Översee den Feind möglicherweise daran gehindert hätte, sich auf die Insel Alsen zurückzuziehen, störte offenbar nicht. Die Armeeführung zeigte sich vielmehr äußerst befriedigt, dass es tatsächlich zum Bajonettkampf gekommen war. Die hohen Verluste nahm sie in Kauf. Noch in einem dritten Gefecht beim jütländischen Veile schien sich am 8. März die aus dem Feldzug von 1859 abgeleitete „Stoßtaktik“ vollends bewährt zu haben.85 Die schönen Erfolge trübten den Blick, klagte etwa Feldzeugmeister Mollinary im Rückblick: „Das Drauflosgehen unserer tapferen ‚schwarz-gelben Brigade‘ wurde zur nationalen Kriegstaktik empor gelobt und bejubelt.“86 Dabei hätte schon der Verlauf eines anderen kleinen Gefechts die Österreicher nachdenklich stimmen müssen. Am 3. Juli 1864 dezimierte eine einzelne preußische Kompanie vor dem Lim-Fjord bei Lundby einen doppelt so starken und in Kolonne angreifenden Gegner innerhalb von 20 Minuten. Trotz eines Verlustes von fast 90 Mann kamen die Dänen nicht einmal in die Nähe der Verteidiger. Die Wunderwaffe, die diesen Erfolg ermöglicht hatte, war das Zündnadelgewehr.87 Tatsächlich hatte das habsburgische Armeeoberkommando die Einführung des neuartigen Hinterladers seit den 1850er-Jahren mehrfach erwogen, zuletzt noch 1865, als sogar eine österreichische Kommission die Spandauer Gewehrfabrik besuchte. Letztlich aber fanden sich durchaus triftige Gründe, alles beim Alten zu belassen. So sorgte man sich etwa um den hohen Munitionsverbrauch, beanstandete die mechanische Anfälligkeit der preußischen Waffe und glaubte zuletzt auch, dass die Ruhe und Besonnenheit, die ein hinhaltendes Feuergefecht aus einer gedeckten Stellung erforderte, nicht der Mentalität des österreichischen Soldaten entspräche.88 Kurz, hinsichtlich der Infanterietaktik steckte das Armeeoberkommando in einer konzeptionellen Sackgasse.

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