Streben nach der Erkenntnis

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Streben nach der Erkenntnis
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Klaus Eulenberger

Streben nach der Erkenntnis

Das zweite Buch nach „Rotz am Backen …“


Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2015

Für Brigitta

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar.

Fast alle Namen wurden geändert.

Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Karikaturen © RAF (Ralf Alex Fichtner)

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Widmung

Impressum

Vorwort

Spiele mit den älteren Mädchen

Schimmels Glanzparade

Aufklärungsversuch mittels Doktorbuch

Die Nabel werden rausgeschnitten und wieder zugenäht – so einfach ist das!

Vaters Heimkehr

Laienhafte Großfamilie auf dem Bauerngut – löst sich auf

Armer Opa

Trauriger Abschied vom Bauerngut

Immer dieses brave Stillsitzen und Pauken – muss das denn sein?

Körperliche Züchtigung – eine völlig normale pädagogische Maßnahme?

Jedes Leben ist endlich – auch das eines Rohrstockes

Immer diese Eheprobleme – dazu noch das Chaos – im Taubenschlag

„Vater, erzähle doch mal vom Krieg!“

Langfristig geplanter Mord verhindert

Wie geht es denn unserer Kriegsheimstatt Bauerngut in der Zwischenzeit?

Vorfälle und Episoden bis zum Abschlusszeugnis

Erste Schritte auf dem Weg der Erkenntnis, um vielleicht doch bald Tante Fridas grundsätzliche Fragen zur Fortpflanzung des Menschen beantworten zu können

Neue Wohnung in der Stadt – neues Glück?

Sie können es nicht lassen – Taubenschlagmilieu geht weiter!

Die Oberschule gab es auch noch

Schlitzohriger Kampf um neue Berufsperspektive

Im Westen zu Besuch

Eine junge Wessidame bei uns

Ach, diese Lehrer (1)

Großes Wiedersehen – Lothar, mein Bruder der Kindheit, besucht uns

Ach, diese Lehrer (2)

Ach, diese Schüler – Knallerbsen und Zugabbremsen macht Laune

Tanzen – muss das sein?

Ach, diese Lehrer (3)

Unabhängig von Schrankaffäre – Tanzstunde geht weiter

Warten am nächsten Morgen – worauf? Dumme Frage! Auf die Abrechnung natürlich!

Resümee (meines!)

Letzter vager Versuch

Alternative zum Tanzen und den Weibern

Bemerkung danach

Danke

VORWORT

Das Buch „Suche nach der Erkenntnis“ setzt dort fort, wo das Buch „Rotz am Backen, Scheiß am Been – ach, wie ist das Läähm scheen“ geendet hat.

Der Autor erzählt in romanhafter Ausführung, weitestgehend authentisch, teilweise herrlich indiskret, aus der Fülle ständig neuer, spannender Ereignisse, die häufig ernst und traurig, mitunter auch zum Schreien komisch verlaufen – wie das Leben.

Wiederholung des Textes auf der Rückseite des 1. Buches „Rotz am Backen …“ (um den Überblick zu wahren).

Menschenverachtende Kriege machen auch vor Kindern nicht halt. So standen, blitzartig schnell, von jetzt auf gleich, der kleine Junge Klaus und seine Mama traurig auf der Straße, plötzlich ohne Bleibe. Das Wohnhaus, wo sie wohlbehütet leben konnten, war von Bomben zerstört wurden. Einfach abscheulich und niederträchtig!

Dr.-Ing. Klaus Eulenberger erzählt mit wohltuender Offenheit von wahren Begebenheiten seiner teilweise dramatischen Zeit als kleiner Junge. Seine Mama dankt Gott für die wundersame Fügung in ihrer und Klaus’ großer Not. Seine Dresdner Großfamilie findet in den Kriegswirren eine neue Heimat auf dem Lande, da Opa infolge des Todes seines Bruders ein Bauerngehöft übernehmen muss und dies ohne landwirtschaftliche Erfahrung. Auch hier hilft das Leben – die Zwangsarbeiter schließen die fachliche Lücke.

Verwicklungen mit den Nazis, die eine menschenverachtende Behandlung der Kriegsgefangenen forderten, waren bei der edlen Gesinnung der Großmutter vorprogrammiert. Für Klaus war die Zeit auf diesem Landsitz extrem aufregend und jederzeit spannend. So lernt er die Kriegsgefangenen, den Franzosen Johann, Marcel, den Belgier und Nicolai und Tascha, zwei blutjunge Russen, kennen. Johann ist sein Ersatzvater, Marcel der feine Freund, die jungen Russen seine Spaßgesellschaft.

2. BuchSuche nach der Erkenntnis“

Der furchtbare Krieg ist vorbei. Beendet ist auch die unmittelbare Bedrohung durch die russischen Soldaten. Mit Schaudern erinnert sich der Junge daran, wie sie im Luftschutzkeller mit Maschinengewehren bedroht wurden und der letzte Abgehende offensichtlich sogar schießen wollte, als (dem Himmel sei Dank!) der Natschalnik mit heiserer Stimme donnerte: „Dalche“. Er erinnert sich daran, wie der liebe Nikolaj von seinen eigenen Landsleuten erbarmungslos verprügelt wurde. Warum? Nur deshalb, weil sie eifersüchtig auf die andere Kriegsgefangene, Tascha, waren.


„Wahnsinnsschreck mit fibrierender Angst“

Mutti und Tante Friedel müssen sich nicht mehr vor den Russen verstecken. Die Kriegsgefangenen, darunter der Ersatzvater des kleinen Jungen, der Südfranzose Johann, dürfen nach Hause fahren – riesige Freude bei diesen, Trauer bei dem zurückbleibenden Jungen. Weinkrämpfe bei Nikolaj und Tascha, welche liebend gern in Deutschland auf dem Bauerngut geblieben wären.

Wehmut kommt bei der Erinnerung auf, wenn er an die Glanzparade von Schimmel denkt, den Frau Sarrasani, vor und während des Krieges, im Dresdener Zirkus ritt. Dieser wähnte sich in demselben, als er einen Wagen in die Stadt Freiberg zog, wo vom Obermarkt her Blasmusik erscholl. Er ging auf die Hinterhufe, wieherte wild und war gedanklich in der Vorführung. Der Abschied von der Kriegsheimstatt Bauerngut, die Trennung von den Pferden Schimmel und Lore, von Lieblingskuh Elsa, von dem liebsten Dackel Tell, von dem verrückten Huppenan, fällt schwer. Ihm missfallen der große Bekanntenkreis und die ständigen Partys seiner Eltern. Dabei sieht er schon ein, dass die Alten den Krieg vergessen wollen, aber weshalb wird er denn jedes Mal zu Oma abgeschoben? Er vergleicht diese Besuche, das Schwatzen und die Gelage, mit dem Leben in einem Taubenschlag, den er auf dem Bauerngut, wo über achtzig Tauben ihr Zuhause hatten, kennenlernte. In der Stadt, bei der Schulausbildung in der Oberschule lernt er viel Neues kennen, muss lernen, sich als schüchternes Dorfkind bei den kessen Städtern durchzusetzen. Das gemeinsame Gestalten des Schulfunks der Schule mit seinem engsten Freund macht viel Freude und hilft stabilisieren. Späterer Besuch auf dem früheren Bauerngut, welches verpachtet wurde, macht ihn unendlich traurig. Seine Lieblingskuh Elsa, aus deren Euter ihm als kleinem Jungen Milch in den Mund gespritzt wurde, war geschlachtet worden, der liebste kleine Dackel Tell, der schon beim letzten Besuch starke Schmerzen hatte, war gestorben. Selbst Huppenan, der preisgekrönte Hahn mit seinen ewigen Angriffsambitionen, lebte nicht mehr. Ausgleichend machte sich aber ein schönes Glücksgefühl bemerkbar – die stolzen Pferde Lore und der Schimmel hatten Nachwuchs, ein wunderschönes kleines Fohlen. Um etwas Abwechslung in das fleißige und triste Lernen in der Oberschule zu bekommen, werden zum Gaudi und Ergötzen aller Schüler viele Streiche gestaltet (die Lehrer sehen es, wie immer, anders – in ihren Augen sind es Böswilligkeiten, die den Schulbetrieb stören). Auf dem Bahnhof wird mit Knallerbsen geworfen, ein Zug wird abgebremst und Schüler werden in den Klassenschrank eingesperrt. Dafür gibt es von der Schulleitung deftige Strafen. Auch die organisierte Tanzstunde bringt Kurzweil und Zerstreuung, aber auch nervliche Anspannung, da der Umgang mit dem anderen Geschlecht eine Herausforderung darstellt, genauso wie das Erlernen von geschmeidigen, rhythmischen Bewegungen – weg von den hölzernen Bodenstampfereien des Beginns. Eine Oase auf dem Bauerngut war für den kleinen Jungen und seinen Cousin die pensionierte Großtante Frida, ein ewiges Fräulein, welche vom Bauern versorgt wurde und fast nur in seinem Ohrensessel saß.

 

Sie freute sich riesig, wenn die Kinder kamen, gab ihnen Kathreiner Kaffee und Butterbrötchen. Wie das halt so mit den Kindern ist, vor allem, wie es damals war, wo die Welt sich noch nicht so schnell drehte wie heute. Die zwei wollten unbedingt erkunden, wie sich das mit der Menschwerdung gestaltet. Tante Frida hatte, im Schrank draußen auf dem Flur, ein dickes, fettes Doktorbuch, welches sie klammheimlich in abenteuerlicher, erfinderischer Art und Weise heranschafften, ohne dass Tante Frida das zeitweilige Fehlen des entsprechenden Schrankschlüssels bemerken durfte.

Mehr oder weniger gut schafften sie es. Ihre Suche nach der Erkenntnis gestaltete sich schwierig und sie zogen die völlig falschen Schlussfolgerungen. Als, fast am Ende ihres Seins auf dem Bauerngut, Tante Frida ihnen auf die Schliche kam, gestanden sie ein, dass sie als Erkunder tätig waren bzw. noch sind. Tante Frida schenkte ihnen das Buch, damit sie auch weiterhin suchen können, da sie offensichtlich noch nicht so recht fündig geworden waren. Sie äußerte: „Mich würde das auch einmal interessieren, wie das alles so mit den Babys und dem Nachwuchs läuft. Klaus, du solltest einmal nachlesen und gibst mir dann bitte detailliert Bescheid!“ Die beiden waren erstaunt: „Aber, Tante Frida, du bist doch schon eine betagte, alte Dame, du musst doch wissen, wie das alles so abgeht und läuft?“

„Aber Kinder, ich war doch nie verheiratet und als ich meine Mutti einmal dazu befragte, sagte die nur: „Du musst nur einmal schauen, liebe Frida, wie es zugeht, wenn ein Kälbchen geboren wird. Damit weißt du alles.“ Heute wissen schon die Kinder ab zwölf Jahren oder früher, wie man ein Smartphone bedient, ein Handy, den Computer und wie eben die von Frida erfragten Zusammenhänge so sind. Von denen könnte man das erfragen. Aber damals? Der Unterschied zwischen heute und früher ist einfach frappierend und erstaunlich! Die Suche nach der Erkenntnis brachte für den kleinen Jungen die ersten bescheidenen Ergebnisse.

Bei Gesellschaftsspielen mit älteren Mädchen ist er überrascht, wie das Küssen der geliebten Janine, die ihm unheimlich gefällt, seine Sinne verwirrt. Später bekommt er einen berauschenden Abschiedskuss einer Schülerin, als die Grundschule beendet wurde. Auch das versetzt ihn in äußerste Unruhe, noch mehr allerdings, als er dann männliche Gefühle hat und diese erkennt. Die erste große Liebe in der Oberschulzeit endet mit einem Desaster, da dort wohl ausreichende Erkenntnisse hätten gewonnen werden können, allerdings die Eltern im entscheidenden Moment in das Liebesidyll hereinknallten. Ein hübsches Rotkäppchen welches er beim Fasching kennenlernte, wollte ihm dies alles nahe bringen, aber unaufschiebbare Termine verhinderten auch dies. So gingen ihm dann folgende Gedanken durch den Kopf: „Entschuldige bitte, liebe Tante Frida! Schließlich hatte ich dir versprochen, meine Erkenntnisse auf dem Gebiet der Menschwerdung zu vermitteln. Wenn das so weitergeht, wie bisher, wird das nie etwas! Nun bist du schon sehr, sehr alt, Tante Frida und ich habe fast Angst, dass ich es erst erfahren werde, wenn du nicht mehr bist. Das ist schon recht traurig!“

SPIELE MIT DEN ÄLTEREN MÄDCHEN

Nächsten Morgen wurde ich durch mehrere sanfte Küsse auf mein Gesicht geweckt – Stirn, Wange, auch der Mund war unter den liebkosten Örtlichkeiten. Ich war aber noch viel zu schläfrig und kaputt, um die Ursache zu ergründen. Klammheimlich dachte ich aber an die süßen, weichen und ach so wunderbaren Lippen von Janine. Dann ermannte ich mich und machte vorsichtig die Augen auf. Mutti saß, wie so oft, auf meinem Bett und schaute liebevoll auf mich Schlummertüte herab. „Du alter Langschäfer! Aufstehen ist angesagt, ich muss ins Gemeindeamt. Gleich nach dem Frühstück müsst ihr aber die Tiere füttern und zum Simonbäcker gehen. Oma hat sich gestern wieder sehr geärgert, da ihr es schon wieder vergessen habt. Wir müssen von euch verlangen, dass ihr zuverlässiger werdet. Ihr seid doch keine Kleinkinder mehr, Klausmann.“

„Ach, Mutti“, quälte ich aus mir heraus. „Rede doch nicht früh, kurz nach Mitternacht, schon solche Romane und dazu nur Kritiken.“ Mama sagte das, was sie häufig von sich gab und womit sie sich verteidigen und mich noch zusätzlich anklagen wollte: „’S is’ aber ooch wirklich wohr!“ Auf Hochdeutsch hieß das: „Es ist aber auch wirklich wahr!“

Cousin Lothar und ich fütterten die Tiere, kehrten auf Geheiß von Tante Friedel den Vorsaal, gingen zum Simonbäcker und dann wartete ich ungeduldig, dass es endlich 14 : 00 Uhr wurde, wo geplant war, dass die Mädchen antanzen. Nach dem Mittagessen mussten wir noch abtrocknen – was war das heute nur für ein Arbeitstag? Einfach belastend und ekelhaft! Fand auch Lothar. Aber auch diese Zeit verging.

Wir holten die jungen Damen am offenen Tor ab. Wie sie halt so sind, die jungen Dinger, es war ein Gezwitscher, Kichern und teilweise auch ein Gekreische. Es rückten an: die Nürnberger, Marion, Jacobi, Waltraud, Krämer, Petra, Eschinger, Janine und meine Cousine, Lothars Schwester, Schulze, Helga. Der Schwarm kam auf uns zu und es begann das große Liebkosen. Marion gab mir sogar einen Schmatz auf die rechte Wange, strahlte mich an. „Wie geht es dir, kleener, hübscher Klaus?“ Auch die anderen Mädels drückten mich lieb, dabei kicherten sie exaltiert. Ich hatte mir schon ein paar Mal Gedanken über sie gemacht. Mir schwante, dass Mädchen vollkommen anders als wir Jungs sind. Dabei hatte ich aber ein wohliges, kribbeliges Gefühl in mir, als ich an sie dachte. Ich hatte auch schon beobachtet, dass sie sich untereinander küssten (so richtig auf den Mund) und häufig Händchen in Händchen die Dorfstraße entlangliefen. Das verwunderte mich sehr. Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, dass ich einmal mit dem manchmal etwas knorrigen Lothar mit seinen starken Backenknochen und Basedow-Augen Hand in Hand die Dorfstraße entlanggehen würde. Wenn das der Unsauber, Hubert sehen würde – der würde ja gerade hinausquieken.

„Na, seid ihr gut vorbereitet, Lieblingscousin?“, fragte mich Helga und zwinkerte mir zu. Die Mädchen waren alle vier bis fünf Jahre älter als wir und freuten sich offensichtlich genauso wie ich auf unsere geplanten Spiele, die schon Tradition hatten. Nur Lothar war ziemlich abwartend und hatte keinen rechten Nerv dafür. „Lutt, nun sei mal nicht so griesgrämig – es war doch immer recht lustig mit den Mädchen und ich finde, es ist eine Ehre für uns, dass sie zu uns Kleinen kommen, um mit uns gemeinsam etwas zu unternehmen.“

„Ach, du, immer mit deinen Weibern – ich möchte wissen, was du davon hast.“

„Ich finde die Mädchen in Ordnung und freue mich, dass sie bei uns sind. Am meisten bin ich natürlich glücklich, dass Janine wieder dabei ist. Außerdem sind das nicht meine Weiber!“

„Klaus, du bist eine richtige Pfeife mit deiner Janine – lass uns hochgehen zu Tante Frida, damit wir es hinter uns bringen!“

„Lothar, manchmal bist du einfach unmöglich!“

Also marschierten wir alle durch die offene Haustür und dann die unheimlich steile, stets knarrende Holztreppe hoch in den ersten Stock in den großen Raum von Tante Frida ganz am Ende des langen Ganges. Sie war unsere Großtante. Wie alt sie war, wusste eigentlich keiner – allerdings hatte Mutti einmal erwähnt, dass sie schon weit über achtzig Jahre alt sei. Tante Frida freute sich riesig, wenn etwas in ihrem Zimmer losging. Meist saß sie hier in ihrem rotbraunen Ohrenplüschsessel mit unheimlich langer Lehne, die aber stark nach hinten gewölbt war. Meist, fast immer, saß Tante Frida in diesem Plüschgerät, hatte den Kopf entweder links oder rechts an so einem Plüschohr angelegt und schlummerte. Schlief sie nicht, schaute sie ruhig und sanft in die Welt. Ihre großen, klobigen Hände lagen auf der Schürze in ihrem Schoß. Sie waren gefaltet und die Daumen drehten sich, ganz langsam, einmal in die Richtung, vom Körper weg und einmal in die andere Richtung, zum Körper hin. Lachend, sich gegenseitig schubsend und schiebend, erschienen die Mädchen und im Gefolge wir, vor Tante Fridas Tür. Es wurde stark geklopft. Ohne die Genehmigung von der schläfrigen Frida abzuwarten, stürmte die Corona in das Zimmer. „Guten Tag, Tante, wir sind wieder da. Wie geht es dir? Haben dich die Jungs gut versorgt mit Brot, Brötchen und Butter?“

„Ja, ja, das haben die beiden gut gemacht“, entgegnete sie mit warmherzigem, freudigem Gesichtsausdruck. „Soll ich euch Kaffee machen? Ich habe auch noch drei Brötchen – die anderen sind leider schon eine Woche alt.“

„Ja, Frida, das ist schön so.“ Sie verschwand in dem kleinen rechteckigen Verschlag, der ihre Küche beinhaltete. Nach einer Viertelstunde – es dauerte bei ihr alles immer recht lange – brachte sie den Kathreiner Kaffee mit Milch und Zucker und stellte ein Tablett mit vielen derben Bauerntassen auf den Tisch. Dann schmierte sie die drei Butterbrötchen, legte die sechs Hälften auf ein großes Schneidebrett. Wir waren aber zu siebent. Sofort sagte Janine: „Ich brauche keines, habe vorhin erst Mittag gegessen.“ Ich wollte ihr etwas Liebes tun, schaute sie schüchtern an, spielte den Großzügigen. „Janine, du kannst gern mein halbes Brötchen haben.“ Leider wurde ich dabei rot – ich merkte richtig, wie mir die Hitze von unten in den Kopf stieg. Trotzdem sah ich sie an. Sie senkte zurückhaltend den Blick. Dann ging es aber endlich los. Helga und Marion, die zwei Spielwütigsten, hatten, wie eigentlich immer, für jeden einen vorgeschriebenen Zettel parat und verteilten diese rasch. Ihren Gesichtern sah man an, dass sie süchtig auf das Spiel waren, ihre Augen glänzten förmlich in Vorfreude. Bei Helga kam noch dazu, dass sie einen, immer kleinen, hübsch anzuschauenden, Fehlblick präsentierte. Kam sie aber in Stress, wie zum Beispiel hier, schielte sie schon beträchtlich und mir fiel auf, dass sie dann allerdings nicht mehr so adrett aussah.

Marion kommandierte: „Janine, du buchstabierst jetzt in Gedanken das Alphabet und Helga sagt dann Halt.“ Die Angesprochene veränderte ihr Gesicht – von der lockeren Fröhlichkeit hin zum Nachdenklichen – schließlich hatte sie ja in Gedanken Schwieriges zu bewältigen. Ich schaute in ihr hübsches Gesichtchen. Sie war voll konzentriert. Die rehbraunen Augen schauten ernst und aufmerksam. „Halt“ schrie Marion und Janine rief aufgeregt „F“. „Los geht’s!“ war die nächste Ansage. Alle, einschließlich Lothar und mir, dachten nach und schrieben. Es herrschte Ruhe und Arbeitseifer. Tante Frida schaute sich das alles verwundert an. Unter Garantie verstand sie nichts von dem, was da vor sich ging und welchem Ziel das alles dienen sollte. Auf alle Fälle war es für sie interessant und eine tolle Abwechslung. „Stopp“ war der nächste Befehl von Marion. Manche kritzelten schnell noch etwas und erhielten einen strafenden Blick von der Kommandozentrale, welche die Zettel einsammelte und nachschaute, wer am wenigsten geleistet hatte. Für Lothar und mich – die Küken der Runde – war es mit Sicherheit am schwersten, schnell und gut das Notwendige zu wissen. Es ging immerhin um die Gebiete Name, Stadt, Land, Beruf, Fluss, Berg, Schauspieler. Ich hatte hingekrakelt Friedrich, Frankfurt, Frankreich, Fliesenleger, Fulda – das war’s dann. Lothar war aber nur bis Land gekommen und musste einen Pfand abgeben. „Helga, jetzt bist du mit dem Alphabet dran.“

 

„Stopp“ schrie diesmal Waltraud. „I“. Schon ging der Zirkus weiter. Ich grübelte – verflucht, ein Name fiel mir partout nicht ein, eine Stadt mit I gibt es auch nicht, Land, auch nicht existent, aber halt – Indien gibt es, ist ja wie verhext – ein Beruf ist auch nicht in meinem Kopf, als Fluss Iller hatte ich schon einmal gehört. Marion hatte längst „Schluss“ gerufen und fragte ab, bzw. kontrollierte die Zettel. „Na, kleiner Klaus, was hast du denn alles? Ich beantworte es gleich selbst – Indien und Iller sind zu wenig – wir verlangen von dir einen Pfand!“ Ich sah es ja ein, dass ich dran war. Ich kramte in meiner Hosentasche. Rechts hatte ich eine grüne Murmel und eine mit blauen und roten Streifen sowie ein Stück Bindfaden, mein Taschentuch und lauter Holzspäne, die von unserer gestrigen Schnitzaktion irgendwie dahin gelangt waren. In meiner linken Hosentasche fand ich zusammengebundenen Kupferdraht, eine Kastanie und den Brocken eines knochenharten Brötchens von Tante Frida. Ich versuchte zu vermeiden, dass Marion all meine Schätze sah, was aber offensichtlich nur teilweise gelang, denn sie sagte zu mir: „Das Stück Bindfaden können wir nicht als Pfand einordnen – gib mir doch die Murmel.“ So ging das halt immer weiter – Lothar und ich verloren viel. Längst musste mein Bindfaden anerkannt werden und Lothars Katapult, welches er erstaunlicherweise in seiner Hosentasche mitführte. Ich hatte mich schon gewundert, was bei ihm rechts so beulte. Ab und zu verlor auch eines der Mädchen, dies war aber eher die Ausnahme. Im Anschluss an Name, Stadt, Land kam nun Alle Vögel fliegen hoch in die Luft an die Reihe. Alle strahlten, sogar die zurückhaltende Janine. Es war aber auch immer wieder lustig. Hauptmacher war auch hier wieder Marion. „Alle Vögel fliegen hooooch in die Luft – Schwalben fliegen, Gänse fliegen, Blumenstöcke fliegen, was ist denn, Klaus und Lothar? Blumenstücke können nun einmal fliegen, wenn sie jemand aus dem dritten Stock herunterwirft, zum Beispiel auf laut grölende Betrunkene. Bälle fliegen, Schweine fliegen – Lothar, du hast wieder einmal nicht aufgepasst. Liefere das Pfand ab! Deinen Kupferdraht kannst du stecken lassen. So was hatte schon der Klaus, aber die Spielkarte kannst du ruhig geben, die gilt als Pfand.“ So in dieser Art ging es dann weiter, aber als ich meine Kastanie als Pfand geben wollte, stoppte Marion das Spiel. „Ich würde vorschlagen, wir hören auf damit und es geht jetzt an das Einlösen aller Pfandsachen. Wem gehört denn dieses leicht angeschmutzte Taschentuch?“ Lothar meldete sich. „Ach, ja – du kleines Ferkel. Was soll der Pfand in meiner Hand, was soll derjenige tun?“ Alle schrien bunt durcheinander. „Zehn Liegestütze machen, ein Gedicht aufsagen, ein Lied singen, Gewitter machen.“

„Ja, mache ein Gewitter Lothar!“ Lothar verdrehte die Augen, kratzte sich mit dem rechten Finger am Kopf (das tat er grundsätzlich immer, wenn ihm etwas nicht passte) und ging zur Tür, welche von Tante Fridas Zimmer auf den Flur führte. Er öffnete die Tür, ging in die Hocke und rubbelte mit seiner Stirn von unten nach oben und dann wieder nach unten am Türgewand. Teilweise schepperte es leicht (eben so wie Gewittergrollen), dann rutschte die Stirn ein Stück und dann gelang es wieder. Alle klatschten begeistert und Lothar kam mit einer roten Stirn, welche er aufgeregt rieb, von seiner Aktion wieder ins Zimmer. „Das tut mitunter ganz schön weh, vor allem dort, wo die Lackfarbe weg ist.“

„Du hast vollkommen Recht, Lothar – tust mir richtig leid. Hier, nimm mal die Creme und reibe ein. Das wird dir gut tun“, half die süße Janine dem traurig in die Welt schauenden Lothar. Dann kam Helga an die Reihe, welche zur Pfandeinlösung jemand drücken musste. Sie wählte ihren Bruder Lothar, den sie, nach seiner Gewitteraktivität, bemitleidete. Leider kam ich auch noch häufig an die Reihe, um meine Pfande zurückzuholen. Unter anderem musste ich ein Lied unter dem Tisch singen. Da ich damit rechnen musste, hatte ich mir schon vorher überlegt, was ich bieten könnte und hatte es schon mehrfach mit Lothar einstudiert. Widerwillig, denn es passte mir überhaupt nicht in den Kram – singen war einfach nicht mein Ding –, kroch ich unter den Tisch und hub an: „Friiiiiiidolin, wir braten eine Leiche, Friiiiiiidolin im Leichenhaus, Friiiiiiidolin, die Knochen sind schon weiche, Friiiiiiidolin zum Leiiiiiichenschmauuuuuus.“ Der Singsang war derb, aber er kam im Allgemeinen gut an. Hätte ich Am Brunnen vor dem Tore … gesungen, wäre es sicherlich zu keinem Beifall gekommen, den ich aber bei meinem kessen Lied, trotz Schelte einzelner Mädchen, dass es zu frech sei, erhielt. Die Aufgaben, um seinen Pfand wieder zu erhalten, waren wahnsinnig breit und interessant gefächert. Ein Mädchen musste zeigen, dass es bügeln kann, dass andere musste gegen eine Wand ballen, sich umdrehen und so den zuvor geworfenen Ball auffangen. Mit am lustigsten war die Aufgabe – sie betraf Helga – das Nachtgeschirr (sprich – den Nachttopf) von Tante Frida heranzuschaffen. Es dauerte sehr lange, bis Helga mit dem Nachttopf in der Tür erschien – alle hatten den Eindruck, dass Helga den Inhalt erst ausschütten und dann den Topf noch ausspülen musste. Endlich aber erhielt ich den von mir sehnlichst erwünschten Auftrag „Kirschen kosten!“ – und zwar bei Janine. Das hatte ich Marion zu verdanken, die genau wusste, was mein sehnlichster Wunsch war. Obwohl es für mich natürlich eine Riesenfreude war, dies von Marion zu hören, so war es doch zunächst ein Schock. Das Blut schoss mir in den Kopf, es wurde heiß, sicher stieg der Adrenalinspiegel enorm – ich wurde zittrig und fisblich. Sofort sah ich zu Janine. Auch sie errötete, schlug die Augen nieder. Langsam erhob ich mich – sicher war ich in der letzten Zeit nie so langsam wie jetzt – ging bedacht um den Tisch herum auf Janine zu. Dabei gingen mir in diesen wenigen Sekunden wahnsinnig viele Gedanken durch den Kopf. Der Hauptgedanke war: Hoffentlich ist sie nicht zu schüchtern und so zurückhaltend wie das letzte Mal, wo erst Marions Machtwort dafür sorgen musste, dass Janine mir ihre wunderschönen Lippen entgegenstreckte. Als ich vor ihrem Stuhl stand, schaute sie immer noch brav nach unten. Langsam ging ich in die Hocke, so dass mein Kopf in ihrer Höhe war und – verhielt mich einfach still in dieser Stellung. Das war alles unbewusst, aber sicherlich richtig, wie ich mir im Nachhinein überlegte. Janine dauerte es zu lange. Als Mädchen war sie natürlich super neugierig und wollte nun endlich wissen, was los war. Also schlug sie die Augen auf und sah meinen Kopf in gleicher Höhe. Ich verhielt mich ruhig (wollte mich ja schließlich auch nicht bis auf die Knochen blamieren) und schaute sie sehr lieb an. Alle schauten gebannt zu und riefen plötzlich, wie im Chor: „Jetzt muss es aber endlich losgehen – wir wollen einen großen, langen Kuss sehen!“ Jetzt wurde Janine aber so richtig rot, blutrot. Ich bewegte meinen Kopf zu ihr hin, aber nicht zu schnell, damit sie nicht geschockt wegdrehte. Plötzlich bekam ich aber doch Angst, dass sie ihren Kopf wegdreht und ich nahm einfach ihren Kopf in meine zwei Hände und küsste sie auf ihre Lippen – na ja, vielleicht war es eine Sekunde zu lang (wenn ich im Nachhinein überlege, man konnte schon in Ruhe die Zahl 2134 in dieser Zeit aussprechen). Danach zog ich mich zurück – ich war wie benebelt und selig. Alle klatschten wie verrückt, riefen laut „Bravo, na endlich!“ oder irgendetwas anderes. Ich setzte mich wieder neben Lothar, der mich zornig, mir kam es fast vor, hasserfüllt, anschaute. Aus meiner Stimmungslage war ich kaum herauszubringen, aber da mir das mit Lothar auffiel, fragte ich nur: „Was hast du denn nun schon wieder zu meckern?“

„So ein Rotz mit diesen Weibern – ich möchte wissen, was der Zirkus soll?“, zischte er.

Anschließend spielten wir alle noch Friseur. Ei, war das fein – ich konnte das so richtig genießen. Dabei ging es mir weniger darum, andere zu kämmen und Haare zu schneiden. Daran hatte ich eigentlich überhaupt kein Interesse. Ich wollte nur selbst genießen, wenn andere mir die Haare waschen, schneiden, föhnen, kämmen oder was weiß ich, sonst noch alles. Also half ich den Mädels bei ihren Aktionen – holte Kämme, Scheren, eine Schüssel mit lauwarmem Wasser von Tante Frida und so weiter und so fort. Irgendwann kam ich dann endlich auch einmal an die Reihe und ergötzte mich am Herumwerkeln an meinem Kopf. Es war einfach ein Riesengenuss. Ich verdrehte die Augen wie ein Schellfisch, später schloss ich sie dann ganz. Es war einfach wunderschön, entspannend, beruhigend, einfach spitzenmäßig. Wenn ich dann aufstand, war ich so in mich gekehrt, dass ich gar nicht mehr richtig beim Aufräumen helfen konnte. Wo war Lothar? Gleich zu Beginn der Frisieraktion hatte er sich verdrückt. So war er nun halt. In der Folge war ich gar nicht so recht bei der Sache. Ich sollte für Mutti Eier holen, tat dies auch, aber meine Gedanken waren bei Janine. So ein hübsches Kind, rückblickend bekam ich (sicherlich vor Erregung) Schüttelfrost. Gedanklich sah ich ihre Lippen vor mir, die schönen schwarzen Haare, die ihr Gesicht umrahmten, aber vor allem die Augen – so schön, so dunkelbraun – sie sahen mich an – nur mich. Ich lieferte die Eier bei Mutti ab, indem ich ihr den Korb hinhielt. Mit der einen Hand nahm sie den Korb, mit der anderen fasste sie meine Schulter, drehte meinen Körper zu sich, so dass unsere Gesichter ganz nah beieinander waren. „Klaus, Klausmann, was ist denn mit dir? So habe ich dich ja noch nie erlebt. Du bist doch ganz in dich gekehrt und schaust mich an, ohne mich zu sehen. Du schaust einfach durch mich durch, als wenn ich gar nicht da wäre.“

„Ach was, Mutti, nichts Besonderes!“

„Nein, nein, nein!“ Sie wurde fuchtig und energisch. „Sag mir doch bitte, was heute los war und was dich so beschäftigt.“

„Wir haben heute mit den großen Mädchen wieder Name, Stadt, Land und so weiter gespielt. Das war alles“, antwortete ich ärgerlich. Plötzlich fragte sie: „Habt ihr wieder geküsst?“ Ich erschrak – woher wusste sie denn das nun schon wieder? „Mutti, du verschweigst mir etwas. Bitte erzähl es mir, unbedingt!“