Buch lesen: «Elbflucht»

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Ene, mene muh – und raus bist du,

aus Santa Fu!

Der Roman spielt hauptsächlich in allseits bekannten Stätten, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

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eISBN 978-3-8271-8394-1

Klaus E. Spieldenner

Elbflucht

Hamburg-Krimi


Zu diesem Zeitpunkt wusste der Hamburger

Patrick Monarch noch nicht, dass es die abgefahrenste Geschichte seines Lebens werden würde.

Aber welcher Mensch weiß so etwas schon vorher?

Knapp vorbei ist auch daneben

Hamburg, 9. Oktober 2007

Es musste einfach klappen. Sein Plan war sicher nicht der beste, doch jetzt gab es kein Zurück mehr. Patrick Mo­narch hatte noch vier Euro dreiundvierzig im Geldbeutel. Das reichte gerade für ein Brötchen und einen Kaffee. Dazu war sein Konto gnadenlos überzogen. Das meiste ging für die angemessene Bestattung Lindas drauf. Das letzte Geld zahlte er für einen kleinen Störsender und die Anmietung des ,20-Fuß-Containers‘. 600 Euro für drei Monate Containernutzung, dazu hatte man ihm 308 Euro für den Störsender abgenommen. Diese Summe hatte er sich von einem Kumpel geliehen. Aber er war guter Hoffnung, die Investitionen würden sich lohnen. Doch nun musste endlich wieder Geld in die leere Kasse. Eine Kapitulation war einfach nicht hinzunehmen.

„Scheiße!“, machte er seinem Unmut Luft.

Karl Wowering, Fahrer des Werttransporters, schaute seinen Kollegen Monarch auf dem Beifahrersitz erschrocken an: „Spinnst du, Patrick? Was hast du für Ausbrüche, so früh am Morgen!“

Der gepanzerte Werttransporter durchfuhr gerade eine der ihnen ausreichend bekannten Hamburger Schlaglöcher, und zum x-ten Mal an diesem Morgen wurden sie auf das Heftigste durchgeschüttelt. Dichter Nebel machte die Fahrt durch die Hansestadt nicht einfacher. Monarch spürte leichte Schmerzen in der Rückengegend.

„Jetzt bitte nicht noch die Bandscheibe!“, flüsterte er.

Die Sonne schlief noch, aber Monarch war klar, sie lauerte schon irgendwo dort hinter Borgfelde. Bald würden die ersten Strahlen dem Tag den Glanz geben, den er verdient hatte. Aber noch bot die Nacht dem Mann Deckung, war sein Schutz. Doch nicht mehr allzu lange.

Der Wagen mit den beiden Sicherheitsmitarbeitern hatte vor wenigen Minuten seine tägliche Tour von der Filiale in der Silcherstraße zu diversen Kaufhäusern und Kleinbanken in der HafenCity gestartet. 4,8 Millionen Euro lagen – verteilt auf sechs sogenannte P-Behälter – hinter den Männern im Laderaum.

Der orangefarbene Transporter der Hamburger Firma Money2Go raste gerade mit quietschenden Bremsen auf eine rote Fußgängerampel beim Hohenzollernring zu. Noch rechtzeitig brachte Wowering den Wagen zum Stehen. Ein Fußgänger mit Hund überquerte kopfschüttelnd die Straße. Der Rentner schimpfte Hände ringend vor sich hin. Patrick Monarch lief der Schweiß – trotz der niedrigen Außentemperaturen – über die Brust in Richtung Unterleib. Er unterließ es, in den Spiegel der heruntergeklappten Sonnenblende zu schauen. Sicher war sein Gesicht vor Aufregung extrem gerötet und der neunundvierzigjährige Hamburger spürte, wie die Feuchtigkeit auch auf der Gesichtshaut bedenkliche Ausmaße annahm. Monarch schaute rechts aus dem Wagenfenster, um dem Blick des Kollegen zu entgehen. Zum wiederholten Male heute schlich sich das schlechte Gewissen bei ihm ein. Er unterdrückte diesen Anflug, indem er seinen Fokus auf die vorbei­gleitende Elbe lenkte. Patrick Monarch war durch und durch Hamburger und liebte die Stadt. Aber vielleicht saß er schon bald in einer Gefängniszelle. Vielleicht aber klappte sein Plan auch, und er durfte sich in kurzer Zeit Millionär nennen. Die Sendung ,Wer wird Millionär‘ fiel ihm ein. Seine Frau hatte sich vor Jahren einmal dort angemeldet, schaffte es auch tatsächlich bis in die Sendung. Doch bei der Auswahlfrage erwies sie sich als nicht schnell genug. Wenn sie damals fixer geraten und die Million gewonnen hätte? Nein, es machte keinen Sinn über ein ,Was wäre, wenn‘ nachzudenken. Fahrer Wowering bremste scharf vor einem Zebrastreifen. Fast hätte er einen Fahrradfahrer übersehen, der die Straße querte.

„Jetzt reicht es, kannst du nicht mit aufpassen? Es ist noch stockdunkel draußen!“

Monarch nickte entschuldigend. Er roch die Fahne des Kollegen. Wie oft hatte Wowering sich entschuldigt, sich mit vorabendlichen Saufgelagen herausgeredet. Natürlich war das gelogen. Einmal hatte Monarch ihn ertappt, wie er vor dem Spind in der Firma stand und aus einer Thermoskanne einen Schluck nahm. Sicher war ein Kaffee zwischendurch mehr als üblich. Aber später im ,Panzer‘, wie alle Fahrer des Unternehmens ihren Werttransporter fast liebevoll nannten, roch er erneut die frische Alkoholfahne des Mannes. Ihm konnte egal sein, ob Wowering Alkoholiker war. Da waren andere für zuständig. Anschwärzen würde er den Familienvater nicht. Aber erschießen? Monarch griff zur Pistole, die rechts am Gürtel baumelte. Dort hatte er auch den Störsender mit an den Hosengürtel gehängt, dessen halbes Dutzend Antennen nun für Druckschmerzen in der Hüfte sorgten. Die Drehbewegung des Kopfes und der fragende Blick Wowerings folgten unmittelbar.

„Die blöde Waffe, sie klemmt mir die Luft ab!“, flüsterte der Beifahrer entschuldigend und zeigte zur rechten Hüfte. Dabei änderte er umständlich seine Sitzposition. Wowering grinste und die doppelte Zahnlücke im rechten Oberkiefer zeigte eine schwarze Öffnung in den sonst relativ weißen Zähnen. Wowering hätte schon längst einen Zahnarzt ...! Wieder verfiel Monarch in diese Art Fürsorglichkeit, die ihm selbst zum Halse raushing. Sie brachte ihm damals bei der Bundeswehr die Position der Vertrauensperson ein und später sogar in eine Gewerkschaftsfunktion. Aber auf Hilfe folgte meist Ärger und massig Freunde gesellten sich dazu, die einen nur schamlos ausnutzten. Er musste aufpassen. Wenn er später über das große Geld verfügte, hieß es sich etwas einfallen zu lassen, bevor die ausgehungerten Geier über ihn herfielen.

„Was waren das noch Zeiten ...!“, begann der Fahrer seinen allmorgendlichen Monolog. Monarch kannte das gut. Entweder verlor sich Wowering nun in der Geschichte über die Euroeinführung zum Jahreswechsel 2001/2002 oder in den Überfall auf einen Geldtransporter vor wenigen Jahren in Frankfurt. Er kannte nur diese beiden Themen.

„130 Milliarden Euro haben wir gefahren. Tag und Nacht. Wenn ich danach mit Euroscheinen bezahlte, habe ich fast gekotzt. Konnte keine Euros mehr sehen. Scheine, Münzen; dazu kamen die Rücktransporte der D-Mark. Die Branche hat geboomt. Tausende von Aushilfskräften wurden eingestellt. Werttransporter wurden bestellt, die Umbaufirmen kamen kaum hinterher.“ Wowering schwieg einen Moment und stierte durch die Frontscheibe. Es schien, als ob er nachdachte. Dann folgte ein lauter Seufzer. „Doch bald ging es bergab“, fuhr er fort, während er einen Gang hochschaltete. „Aber es war abzusehen. Nie wieder werden wir so viel Geld fahren dürfen, Patrick. Außer wir stellen auf das Britische Pfund um!“ Der Fahrer lachte lautstark, und der Misston verursachte kurzzeitig Schmerzen in Mo­narchs Gehörgängen.

Sie durchfuhren nun den Hohenzollernring. Bald würden sie die Stelle erreicht haben, die Monarch für den Stopp des Wagens ausgewählt hatte. Schon oft hatten sie den Werttransporter angehalten. Doch obwohl es strengstens verboten war und der Halt auch später im Fahrtenprotokoll auffiel, hatte noch nie einer der Verantwortlichen ein Wort darüber verloren. Alle Besatzungen machten das. Hinten zehn Millionen, und dann mal schnell zur Tanke, Kaffee holen! Bisher ging immer alles gut. Heute würde sich das ändern.


Monarch hatte schon am Morgen bei der Ankunft in der Firma in Ottensen über Probleme mit der Blase geklagt und sein Kollege hatte nur gegrinst. „Sag Bescheid, wenn du pissen musst. Ich rauche dann eine!“ Nichtraucher Monarch wusste, dass das nicht möglich war. Sobald beide Insassen den Werttransporter verließen, ertönte eine Sirene, und ein Signal wurde sowohl zur Firma als auch zur Polizei gesandt. Minuten später würde die erste Streife auftauchen und nach ihnen schauen. Er durfte es nicht zulassen, dass beim Halt beide Männer den Transporter verließen. Sonst war der Coup gescheitert.

Seit zwei Jahren arbeitete Monarch bei Money2Go, aber erst seit Beginn des Jahres durfte er Werttransporte begleiten. Sein Problem war, dass er keinen Führerschein besaß. Trotzdem erfüllte ihm der Geschäftsführer irgendwann den großen Wunsch, im Panzer mitzufahren. Sicher waren seine gute Führung, aber auch die acht Jahre als Zeitsoldat bei der Marine ein Grund. Er hatte stets seine Waffenkenntnisse in den Vordergrund gestellt, bis jeder Verantwortliche bei Money2Go sicher war, Monarch sei der geeignete Mann. Doch zwei lange Jahre hatte das gedauert. Jahre, in denen er unter den Blicken argwöhnischer Passanten schwere Geldboxen schleppte. Und stets die Angst im Nacken, dass ihm irgendwann jemand von hinten eins überbriet. Auch die nie enden wollenden Monate in der Kommissionierung von Aufträgen. Er hatte nachts von Geldscheinen geträumt. Regelrecht darin gebadet, ähnlich wie Dagobert Duck. Nein, er, der gelernte Bäcker und Konditor Patrick Monarch, war kein Held. Aber er musste ihn spielen. Bis zu diesem Morgen. Bald würde er seine Rolle wechseln: vom netten Kollegen zum brutalen Schurken. Er sah vor seinem geistigen Auge Brian, den Geschäftsführer, wie er erstarren würde, wenn man ihm die Nachricht vom Überfall auf den Wagen mit der Nummer siebzehn überbrachte. Noch konnte er zurück. Würde dann weiter für gerade mal sechzehn Euro Stundenlohn riesige Geldsummen befördern. Von der Bank zum Kaufhaus, zu Geldautomaten oder zu einer der anderen Hamburger Filialen. Und dabei immer mit der Angst leben. Seine Frau Linda war inzwischen verstorben. Sie war der Auslöser für diesen Plan. Er wollte Lindas Leben mit dem Geld aus dem Überfall retten. Eine teure Krebsbehandlung in den USA bezahlen. Doch Linda hatte nicht durchgehalten, war vor sechs Wochen ganz plötzlich an Herzversagen verstorben. Die anstrengende Chemo hatte ihren Körper geschwächt. Monarch hatte in der Firma niemandem von ihrem Tode erzählt. Aus Angst, man könne ihn aus Fürsorglichkeit vom Panzer nehmen. Warum also noch der Überfall? Die Frage stellte er sich seit Wochen. Mit dem Geld konnte er, der Kinderlose, eh nicht viel anfangen. Aber er hatte über die letzten Monate so viele Nerven und Energie in diesen Überfall investiert. Und er wollte einfach etwas vom großen Kuchen abhaben. Endlich einmal. Er hatte Linda noch zu Lebzeiten versprechen müssen, nach ihrem Ableben sein eigenes Leben weiterzuführen. Etwas daraus zu machen und nicht aufzugeben. Ihm war sofort klar gewesen, was seine liebe Gattin damit gemeint hatte: Er sollte sich – nach einer angemessenen Zeit – einen neuen Partner suchen. Linda meinte es stets gut. Sie musste so viel im Leben entbehren, erlebte Missbrauch in der Jugend und dazu andauernde Armut. Und nun war sie tot. So früh – zu früh verstorben.

„Meine Blase drückt. Kannst du nicht um die Ecke in der Parkbucht kurz stoppen?“ Abgelenkt durch seine Gedanken hatte Monarch nicht auf die Straße geachtet und fast wäre der Geldtransporter an dem von ihm ausgewählten Platz vorbeigefahren. Das Navi zeigte seitlich die Große Brunnenstraße an. Wowering blickte kurz in den Außenspiegel und bremste dann den Wagen kopfschüttelnd ab. Mit einer kurzen Lenkerbewegung fuhr er auf eine linksseitig gelegene leere Parkbucht im Bäume überladenden Bereich der Elbchaussee und stoppte den Kastenwagen.

„Aber mach schnell, ich könnte endlich mal wieder eine rauchen!“, erklärte er genervt.

Mit einem kurzen Blick auf die neben dem Navi im Armaturenbrett angeordnete digitale Uhr öffnete Monarch die Tür des gepanzerten IVECO Daily Kastenwagens. 4 Uhr 37, schon bald würde es hell werden. Die Zeit wurde knapp, es musste einfach klappen. Der kühle Wind legte sich um seine Beine, als er einen Fuß auf dem Trittbrett des Wagens abstellte. Sein Blick ging in Richtung des Kollegen.

Wowering gähnte lautstark mit geschlossenen Augen, während Monarch seine Waffe zog. Als der Fahrer seine Augen öffnete, blickte er in den Lauf der Ruger GP 100.

„Bist du noch ganz bei Trost? Mach bloß keine Späße!“

Trotz des schwachen Lichtes einer Straßenlaterne, unter dem der Werttransporter stand, konnte Monarch das Fahle im Gesicht des Kollegen erkennen. Wowering schien klar zu sein, dass es sich nicht um einen Scherz handelte.

„Da ... damit kommst du nicht durch!“, stotterte Wowering gegen das leise Blubbern des laufenden Dieselaggregats. Er ruderte dabei mit den Händen, als schraube er beidarmig Glühbirnen in imaginäre Fassungen.

„Raus!“

Monarch wollte es schreien, aber es wurde bloß ein Krächzen, und so wiederholte er das Wort, dieses Mal aber lauter: „Raus, raus aus dem Wagen!“

Er sah, wie eine Hand des Fahrers die Fahrzeugtür öffnete, während die andere langsam zum Knopf der Abschaltautomatik des Motors glitt. Damit hätte er eigentlich rechnen müssen. Aber er hatte auch gehofft, Kollege Wowering würde einfach tun, was er von ihm verlangte. Nun hatte er keine andere Wahl. Wenn der Mann es schaffte, den Motor abzuschalten, konnte er sich gleich der Polizei stellen. Er richtete die Waffe etwas tiefer, petzte die Augen zusammen und drückte den Abzug.

Der Lärm in der kleinen Kabine war ohrenbetäubend. Dann folgte ein lauter Schrei, ein Wimmern. Monarch sammelte sich, der Druck in den Ohren machte ihn fast ohnmächtig. Er kletterte über den am Bein verletzten Kollegen, drückte die Fahrertür ganz auf und schob Wowering vom Sitz nach draußen. Der Mann hielt sich noch für einen Moment stöhnend am Lenkrad fest, sackte dann aber aus der Kabine in Richtung des Gehwegs. Nun musste alles schnell gehen. Per Funk wurden sie ständig von der Zentrale abgefragt, und wenn statt Wowerings seine eigene Stimme oder überhaupt niemand antwortete, wäre das absolut verdächtig. Der Störsender sollte verhindern, dass man ihn später orten konnte. Monarch schaute in die Dunkelheit: Einige Fahrzeuge fuhren an ihnen vorbei, aber sie kümmerten sich nicht um den mit eingeschalteter Warnblinkanlage parkenden Werttransporter. Die Menschen hatten andere Probleme. Die Welt war anonym geworden, das war heute ausnahmsweise mal sein Glück. Monarch schloss die Beifahrertür, schob sich auf den Fahrersitz, zog auch die Fahrertür zu, legte einen Gang ein und lenkte den IVECO Daily quer über die Straße zurück auf die Elbchaussee. Sein Blick aus dem Beifahrerfenster galt Wowering. Doch der hatte sich schon seitwärts auf den Bürgersteig geschleppt. Ein gutes Zeichen. Ein schriller Ton ließ Monarch in die Höhe fahren. Was war los? Hatte er etwas falsch gemacht? Blitzschnell wurde ihm klar, das Signal des Sicherheitsgurtes hatte ihn erschreckt. Sofort legte er ihn um, steckte die Schlosszunge in das Gurtschloss und gab Gas. Der Wagen nahm Fahrt auf und nun raste er an der Elbe entlang, wieder in die Richtung, aus der sie gerade gekommen waren. Er ließ seinen Plan noch einmal durch den Kopf gehen: Zuerst nach Othmarschen, dort auf die Autobahn A 7 zur anderen Seite der Elbe. Die Röhren des Elbtunnels würden um diese frühe Stunde noch nicht verstopft sein. In Waltershof würde er die Autobahn verlassen, um über die Köhlbrandbrücke zur Norderelbstraße zu gelangen. Unweit des Stage-Theaters im Hafen stand – auf einer riesigen Abstellfläche – der angemietete Container. Dort, in den ,20-Fuß-Container‘ – so hatte Monarch berechnet –, würde der Werttransporter genau hineinpassen. So knapp, dass er selbst seitlich nur noch wenige Zentimeter hatte, um auszusteigen. Aber er musste sich dort weder um Zeit noch um ein paar Beulen am Fahrzeug Gedanken machen. Wenn die Karre erst einmal stand, würde er die Batterien abklemmen und sich genügend Zeit nehmen, um an die Behälter mit dem Geld zu kommen. Der Plan war genial, fand Monarch, und immer wieder hatte er nach einem Haken gesucht. Aber letztendlich keinen gefunden.


Monarch selbst besaß keinen Führerschein, doch während eines Urlaubs auf Rügen konnte er einige Stunden auf einem Transporter üben. Der alte Ford gehörte dem Bauern, auf dessen Hof Linda und er gemeinsam ihren Urlaub verbrachten. Linda liebte die Natur und den Umgang mit Tieren. Mallorca war nichts für sie. Eher für ihn, aber er hatte stets Lindas Wünsche respektiert und sich nach ihr gerichtet. Monarch erzählte dem Bauern, er wolle sich auf die Fahrprüfung vorbereiten, und steckte ihm fünfzig Euro zu. Wenn der Wagen auf dem Hof stand und ihn keiner benötigte, durfte Mo­narch nun seine Runden drehen. Aber nur auf dem großen Gelände, das zum Bauernhof gehörte. Linda hatte geschmunzelt, als sie ihrem Mann bei seinen Fahrkünsten zuschaute.

Der Daily fuhr sich anders als der alte Ford Transit vom Bauernhof. Spritziger, direkter. Gerade sauste Monarch mit zu hoher Geschwindigkeit in Höhe der Strandperle unter der Autobahnbrücke der A 7 durch, als – wenige Hundert Meter vor ihm – unvermittelt Blaulicht auftauchte. Sein Herz rutschte in die Hose und er trat voll auf das Bremspedal. Es war seine erste Vollbremsung und dafür gelang sie – so fand er – recht gut, nur dass der Transporter nun quer auf der Straße stand. Er hielt den Atem an. So vieles ging ihm durch den Kopf. Das Blaulicht konnte alles bedeuten. Ein Autounfall, ein Krankenwagen unterwegs, um einen Herzinfarktpatienten abzuholen. Aber sie konnten auch schon hinter ihm her sein. Hatte Wowering – der militante Handygegner – doch ein Smartphone eingesteckt?, fragte sich Monarch. Mit zittrigen Händen machte er sich daran, den Kastenwagen zu drehen. Sein Herz raste noch immer und er bemühte sich, einen klaren Gedanken zu fassen. Sein Fahrzeug blockierte den ersten Pendlern die Straße, doch endlich war die Richtungsänderung geschafft und der Transporter kam wieder in Bewegung. Wenn sie jetzt schon nach ihm fahndeten, wovon Monarch ausging, machte es keinen Sinn, den kürzeren Weg über die A 7 einzuschlagen. Er kannte sich in Hamburg gut aus. Zwar eher als Fußgänger denn als Autofahrer. Das Navi könnte helfen, ging es ihm durch den Kopf. Aber er müsste anhalten, um es genau zu programmieren. Wowering hatte ihm das beigebracht. Wowering fiel ihm ein. Der Kollege lag wenige Hundert Meter entfernt, und er fuhr zurück zu ihm. Siedend heiß lief es seinen Rücken herunter. Im Geiste sah er Dutzende von Polizeibeamten mit ihren Einsatzfahrzeugen, die die Elbchaussee gesperrt hatten. Und er fuhr mitten hinein. Es galt einen Bogen um den Ort des Überfalls zu schlagen. Mit einer spontanen Lenkbewegung bog er rechts ab in die nächste Seitenstraße. Auf einem Schild, das Reste des Abblendlichts zusammen mit einer Straßenlaterne beleuchtete, glaubte er etwas von ,Lüdemann‘ gelesen zu haben. Es war ihm egal, es galt einfach nur, die Elbchaussee zu umfahren. Schon nach wenigen Hundert Metern auf den Pflastersteinen ging es nicht mehr weiter. Er stoppte den Wagen, noch immer außer Atem, öffnete das Fenster etwas, sog die kühle Luft ein, um herunterzufahren. War er mit dem Transporter in eine Sackgasse geraten? Ja, es sah so aus. Doch zum Glück war das Blaulicht hinter ihm verschwunden. Aber was nun? Das eingeschaltete Navi vor ihm zeigte eine Grünanlage quer zur Elbe an und nur ein schmaler Weg führte durch den Park hindurch. Monarch hakte beide Ellenbogen im Lenkrad ein und legte sein Kinn in die Handflächen. Was für ein Mist! Es war kurz vor fünf Uhr und er stand mit dem entführten Werttransporter vor diesem Park. Aber jammern nutzte nichts. Er gab sich einen Ruck, schaltete die Warnblinkanlage ein und setzte den Wagen vorsichtig auf den Schotterweg. Es musste der Park beim ,Leuchtturm Pagensand-Süd‘ sein, das Navi zeigte nichts Genaues darüber an. Rechts durch die Seitenscheibe erhob sich hinter den hohen Kastanien die Kuppel der Seniorenresidenz Augustinum. Hier waren Linda und er oft spazieren gegangen. Damals noch gesund und glücklich. Ein einzelner Hundebesitzer sprang erschrocken zur Seite. Er hatte ihn übersehen, musste unbedingt aufpassen. Einen verletzten oder gar toten Parkbesucher konnte er schon gar nicht brauchen. Er reduzierte die Geschwindigkeit des Fahrzeugs etwas. Das Licht des Kastenwagens bohrte sich zwischen den Büschen und Bäumen entlang. Zweige schlugen wie verlängerte Arme an das Blech des Fahrzeugs. Die Geräusche klangen ähnlich einem sorgenvollen Flüstern. Um sich abzulenken, bemühte er sich, die imaginären Geräusche zu entschlüsseln. Und der Weg nahm kein Ende. Dann, nach gefühlt endlosen Sekunden, zeigte das Display in der Mitte der Konsole wieder eine feste Straße an. Kaistraße, konnte er lesen. Er hatte die Stelle, an der er Wowering ins Bein geschossen hatte, großräumig umfahren.


Während er weiterfuhr, überlegte er fieberhaft, welche Möglichkeit sich bot, die Elbe zu überqueren. Er kam zu dem Entschluss, nur die Freihafenelbbrücke kam in­frage. Doch dafür musste er komplett durch die HafenCity fahren. Sicher würde die Polizei schon Straßensperren aufgebaut haben und auf ihn warten. Er hatte doch alles so gut geplant, was war bloß falsch gelaufen? Er drückte am Lenkrad die Nägel der Daumen in die Haut der Zeigefinger, bis es schmerzte. Nein, er würde aus keinem Traum erwachen.

Monarch riss sich zusammen. Er legte den Gang ein und raste weiter. Mit überhöhter Geschwindigkeit fuhr er an den Landungsbrücken vorbei. Hier glaubte er – zu dieser frühen Stunde – nicht mit Polizei rechnen zu müssen. Er war sich absolut sicher, und tatsächlich hielt sich der Verkehr hier auch noch in Grenzen. Vor allem konnte er weit und breit keine Polizeistreife sehen. Er bemühte sich, die normale Atemfrequenz wieder zu erreichen. Die breite Straße verlockte zum Schnellfahren, lenkte er sich ab. Doch während seiner Überlegungen war er etwas auf die entgegenkommende Fahrspur abgedriftet. Ein Lkw hatte aufgeblendet, und gerade noch rechtzeitig lenkte Monarch den Wagen auf seine Spur zurück. Das Hupen des Fahrers klang noch einige Sekunden in seinen Ohren.

„Wagen siebzehn zur Sicherheitsabfrage, kommen!“

Monarch erschrak auf das Heftigste. Sein Herz geriet ins Stolpern und verursachte – zum vorhandenen Unwohlsein – noch ein Gefühl, als setze das lebenswichtige Organ jeden Moment aus.

„Das waren doch die Kollegen!“, stöhnte er laut. Mist, er hatte nicht daran gedacht, den Störsender zu aktivieren. Und natürlich war das sicher auch der Grund, warum die Einsatzkräfte wussten, wo er sich aufhielt. Was war er nur für ein Gangster! Er empfand die Stimme des Kollegen so nah, als so real, als säße der Mann hinten im Wagen und nicht Kilometer entfernt in der Zentrale. Er bremste ab, riss den kleinen Kasten vom Gürtel und fummelte ihn mit der rechten Hand aus seiner Lederimitathülle. Der Wagen schlingerte etwas, doch er bekam ihn wieder in die Spur. Der Einsatz des Jammers war sehr einfach: Einschalten und das kleine elektronische Ding störte – laut Internet-Verkäufer – jegliche gängige Benutzungsfrequenzen. Vom Handy über den Funk bis hin zum GPS-Signal. Wenn man es denn benutzte. Ob das Einschalten jetzt noch sinnvoll war? Egal, die Lautstärke des Funkgeräts stellte er auf null. Das beruhigte ihn ein wenig.

Noch immer hingen Nebelschwaden über Hamburgs Straßen. Ob sich dadurch das GPS-Signal schwerer tat, vom Wagen zum Satelliten durchzudringen? Darüber brauchte er sich keine Gedanken mehr zu machen, der Störsender arbeitete endlich. Eine grüne LED am Gerät signalisierte es ihm. Wieder fragte er sich, ob das Störsignal jetzt noch Sinn machte.


Der IVECO Daily erreichte die Otto-Sill-Brücke, schoss ohne Verzögerung aus der Kurve heraus in die Straße Kajen. Ein entgegenkommender Pkw musste stark bremsen und kam dadurch etwas ins Schleudern. Doch der Kombi fuhr weiter – zum Glück. Einen Verfolger konnte Monarch sich gerade nicht leisten. Nur wenige Minuten war sein Schuss auf den Kollegen her. Er hatte Wowering in den Oberschenkel getroffen, das war nicht lebensgefährlich. Sicher hatte die Polizei den Kollegen am Überfallort schon erstversorgt. Monarch schickte ein Stoßgebet zum Himmel, flehte, dass der Kollege keine bleibenden gesundheitlichen Schäden behielt.

Monarch atmete tief ein, fühlte, dass die Großstadt inzwischen munter wurde. Nach dem Tode Lindas war es für ihn – den Hamburger – wie eine täglich stattfindende Reanimation. Von der Dunkelheit zurück ins helle Leben und wieder zurück. Doch für ihn gab es kein Zurück. Ihm blieb nur noch wenig Zeit; schon in wenigen Minuten würde es weitere Zuschauer geben: Mitwisser, Beobachter. Ständig hielt er nun nach Blaulicht Ausschau, doch die Polizei schien sich bei seiner Verfolgung auf andere Straßen der Hansestadt zu konzentrieren. Er bemerkte, dass ihm das Fahren großen Spaß bereitete. Später würde er sicher den Führerschein machen, alles legalisieren.

Monarch kürzte über den Sandtorkai ab, kurvte den Transporter im dritten Gang unerlaubt in die gesperrte Shanghaiallee. Auf der Baakenhafenbrücke kam ihm ein einzelnes UPS-Fahrzeug entgegen. Das Leben in Hamburg erwachte, wenn die Paketboten ihre Fahrten zu den unermüdlichen Internetkäufern in der Stadt begannen, lachte er leise. Auch Linda hatte gerne im Internet eingekauft. Kurz hinter dem Transporter schoss aus einer Seitenstraße plötzlich ein Polizeiwagen mit eingeschaltetem Blaulicht hervor. Monarch war so in Gedanken vertieft, dass er ihn erst spät wahrnahm. Der Wagen raste zunächst am Kastenwagen vorbei, doch im Rückspiegel erkannte Monarch mit Schrecken, dass er anhielt, um wenig später auf der Straße zu drehen. Nun zeigten die grellen und blinkenden Fahrzeugleuchten in seine Richtung. War jetzt alles zu spät?

Monarch löschte sofort die Beleuchtung des Werttransporters, nahm im aufkeimenden Licht der Morgensonne spontan die Umfahrung Versmannstraße. Rechts lag die Norderelbe, wusste er. Er konnte sie nicht genau erkennen, aber ihre Feuchtigkeit riechen. Wie kalt das Wasser wohl sein würde? Es war Anfang Oktober und obwohl der Herbstmonat bisher äußerst mild daherkam, fror er. Schaudernd zog Monarch den Zipper seiner dienstlichen Vliesjacke hoch bis zum Hals, schoss über die Freihafenelbbrücke zur Zweibrückenstraße. Ein Blick in die Seitenspiegel zeigte: Der Einsatzwagen war nicht mehr hinter ihm, er musste ihn wohl abgehängt haben. Wieder schien sich das Blatt zum Guten zu wenden. Doch sicher trog der Schein. Augenblicklich gab es keine Verfolger, keine Zuschauer, keine weiteren Fahrzeuge. Nur er allein auf der Straße mit seinem fehlgeschlagenen Plan. Alleingelassen von der Ehefrau, unsicher, ob der Plan – nach der bisherigen Pleite – noch gut ausgehen würde.

Wie von Geisterhand verwandelte sich die dunkle Nacht plötzlich in eine gespenstische Bläue. Als ob weit vor ihm die Sonne explodierte, so stark war das Lichter­meer, auf das er traf. Monarch hielt den Atem an und verlangsamte das Tempo des Werttransporters. Sofort wurde ihm klar, dass man oben auf der Freihafenelb­brücke eine Straßensperre errichtet hatte. Die Silhouetten der Fahrzeuge und Personen hoben sich strobos­kopartig vom gleißenden Blaulicht ab. Man musste geahnt haben, in welche Richtung er unterwegs sein würde. Sein Blick in den Rückspiegel zeigte: Auch weit hinter ihm bewegte sich das Blau wie eine Walze durch den sich auflösenden Nebel auf ihn zu:

BLAULICHT, SOWEIT DAS AUGE REICHTE!

Statt Morgenrot ein Morgenblau – mal etwas anderes, versuchte er sich aufzumuntern. Monarch erinnerte sich daran, dass ihm mal jemand als kleiner Junge erzählt hatte, das Blaulicht sei schon vor dem Krieg eingeführt worden. Es ging wohl um Anforderungen des Luftschutzes, da blaues Licht die höchste Streuung in der Atmosphäre hat und daher für Bomber in großen Höhen nicht mehr sichtbar war. Wie kam er da jetzt bloß drauf? Gerade jetzt, kurz bevor sie ihn schnappen würden? Er versuchte sich an den Erzähler zu erinnern – vergebens.

Eines war sicher: Den schützenden Container würde er keinesfalls mehr erreichen können. Vielleicht war es am besten, Selbstmord zu begehen. Dann wäre er schon bald bei seiner Linda. Aber würde Gott – falls es ihn tatsächlich gab – ihm, dem Ungläubigen, auch ein Treffen mit der toten Ehefrau gewähren? Das schien Mo­narch eher unwahrscheinlich. Ein anderer Plan musste her. Vor allem galt es, das Fahrzeug von der Straße zu bringen. Aber wohin? Versenken kam ihm in den Sinn. Fleete gab es hier genug, aber waren sie auch so tief, um den Wagen komplett dort untergehen zu lassen? Ihm fehlte die Zeit, bei der Hamburg Port Authority anzurufen und die aktuellen Wasserstände abzufragen. Vor ihm lauerte die Polizei – hinter ihm auch. Doch noch bestand eine geringe Chance, die Restdunkelheit ausnutzen um sich beziehungsweise den Wagen in Luft oder besser in Wasser aufzulösen. Schon wenige Meter entfernt konnte er die Kanäle ausmachen.

Monarch riss das Lenkrad nach links, bremste etwas spät. Der schwere Wagen verlor den Halt und der Fahrer spürte, wie sich die rechte Seite vom Untergrund löste. Jetzt nicht schon auf der Straße umfallen, waren seine Gedanken, während er instinktiv gegenlenkte. Der Wagen fing sich wieder, polterte wie ein altes Pferdefuhrwerk zurück auf die Räder. Dann schoss er über Schienengleise, vorbei an alten Containern, an abgestellten Schrottfahrzeugen, und ohne zu bremsen lenkte Monarch den Kastenwagen in Richtung der Kaimauer des Oberhafenkanals zu. Er verschwendete keinen Gedanken an sein Tun und Handeln, warf einen letzten Blick in Richtung Aussichtspunkt Billhafen, der durch blinkende Lampen Aktivitäten zeigte. Dann trat der Fahrer das Gaspedal voll durch. Er agierte statt zu reagieren, dachte nicht nach, ließ sich einfach von einem Gefühl leiten. Als die Vorderräder die Kaimauer überfahren hatten, jaulte der nun arbeitslose Motor des frontangetriebenen Fahrzeugs lautstark auf. Das Geräusch tat Patrick Monarch in den Ohren weh, aber wer fragte schon nach seinen Beschwerden? Inzwischen hatte auch die Hinterachse den festen Boden verlassen, und wie so oft von Monarch in Filmen bewundert, flog das tonnenschwere Fahrzeug fast schwerelos durch die Hamburger Morgenluft, um dann – wie ein Stein – nach unten zu stürzen.

€2,47

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Altersbeschränkung:
0+
Veröffentlichungsdatum auf Litres:
25 Mai 2021
Umfang:
321 S. 2 Illustrationen
ISBN:
9783827183941
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