Morituri

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Morituri
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Klaus Bock

Morituri

Wie die Fliegen

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Inhaltsverzeichnis

Titel

26. Februar. Salvatorplatz, München

Der Laden

27. Februar. Presseschau

27. Februar. Im Laden

20. März. Hübnerstraße Ecke Fuertererstraße

Hanna

Sarah

Wolf-Dieter

Udo

Der Graf

Tante Greten

20. März. Die Abschiedsfeier...

20. März. Im „Wiener Café“

20. März. Die Debatte

21. März. Bei Tante Greten

21. März. Am Kiosk in der Leonrodstraße

22. März. Staatsbibliothek

22. März. Am Kiosk

22. März. Am Bahnhof

22. März. Im MAXIM

22. März In Sarahs Studio

24. März. Die mz berichtet

25. März. Die mz berichtet wieder

26. März. Die mz berichtet wieder

27. März. Am Kiosk

27. März. Filmabend

29. März. Auf dem Flohmarkt in Riem

30. März. In Udos Werkstatt

30. März. Bei Netto

31. März. Kioskreparaturen

1. April. Hübnerstraße. Recherchen

4. März. Kioskreparaturen

6. April. Tante Greten hat gestrickt

9. April. Filmabend beim Grafen

10. April. Der neue Kiosk

11. April. mz berichtet

15. April. Im Laden

15. April. Bei Hanna.

16. April. Im Laden

17. April. mz berichtet

1. Mai. Schmierereien am Kiosk

10. Mai. Die Polizei ist da

14. Mai. Anruf bei Sarah

10. Juni. Polizeikommissariat

12. Juni. Ferngespräch

12. Juni. In Pullach

12. Juni. Messestadt Riem

13. Juni. Hübnerstraße

13. Juni. Hübnerstraße

13. Juni. In Pullach

17. Juni. Kiel. Tiessen-Kai

17. Juni. Sarah erzählt …

18. Juni. Ankunft in München

19. Juni. Hübnerstraße

19. Juni. Das Versteck

20. Juni. Georgenstraße

22. Juni. Hübnerstraße. Bei Tante Greten

25. Juni. In der Garage

27. Juni. Hübnerstraße

4. Juli. Barer Straße

10. Juli. Alter Nördlicher Friedhof

1. August. Museumsviertel

1. September. Stuttgart

8. September. Stuttgart

15. September. Wolf-Dieters Plan

22. September. Im „Beethoven“

15. Oktober. Im „Beethoven“

17. Oktober. Die mz berichtet

17. Oktober. Frühstück in der Hübnerstraße

25. Oktober. Georgenstraße

1. November. Messestadt Riem

15. November. Im Augustiner

1. Dezember. Hübnerstraße

1. Dezember. U-Bahn-Station

2. Dezember. Rot-Kreuz-Krankenhaus

2. /3. Dezember. In der Presse

4. Dezember. Im Laden.

10. Dezember. Im Trauerraum von Eternitas

11. Dezember. Hanna bei der Anwältin

15. Dezember: Fahrt mit dem Borgward

17. Dezember. Hanna und Sarah

24. Dezember. Tante Greten

30. Dezember. Trauerfeier

4. Januar. Am Kiosk

6. Januar. Im Laden

16. Februar. Hübnerstraße. Hanna und Sarah reden

3. April. Hamburg.

8./9. April. Hamburg. Warten…

11. April. Flensburg

11. April. München

13. April. Hübnerstraße

18. April. Die Kommissarin

Anhang

Eigentlich hätten Sie es vorher lesen sollen...

 

Impressum neobooks

26. Februar. Salvatorplatz, München

Gewidmet…

der echten Hanna, die nie auch nur einer Fliege etwas zuleide tun konnte, und die leider viel zu früh starb

und

ihrem Kater „Herr Freitag“, der Chef im Hof war und so manche Maus und mehr nach Hause brachte

23.30 Uhr. Sie saßen zu dritt im Wagen. Zwei alte Männer und eine alte Frau. Es war stockdunkel hinter der alten griechisch-orthodoxen Kirche am Salvatorplatz gleich neben dem Literaturhaus. Die Kirche strahlte etwas Düsteres aus.

Ein empfindsamer Mensch hätte vielleicht sogar ein Kraftfeld verspürt, das von den dicken fast schwarzen Mauern ausging, als ob die Masse der Kirche eine Delle in das Raumzeitgefüge drücken würde.

Aber keiner der drei schaute die eindrucksvoll aufragenden Backsteinmassen der Kirche an, auch sagte niemand etwas – es war sowieso alles gesagt, fanden sie. Der Fahrer rauchte die x-te Zigarette seit sie hier geparkt hatten. Ab und zu hustete er keuchend. Er klang dann gar nicht gut!

„Du wirst noch einmal an den Zigaretten krepieren“, sagte die Beifahrerin leise.

„Ich weiß“, antwortete der Fahrer ebenso leise, „wahrscheinlich bald... Na und? Sollte ich deshalb aufhören?“

Ein Handy meldete sich vibrierend auf der Mittelablage. Der Fahrer nahm das Gerät in die Hand, schaute auf das Display, nahm das Gespräch an, meldete sich aber nicht, hörte nur einen Moment lang zu, dann sagte er knapp: „Okay!“

Er klappte das Telefon zu, steckte es in die Jackentasche, drehte sich zu der alten Frau neben ihm und sagte leise: „Er kommt. Gleich!“

Als der alte Herr, auf den sie so geduldig gewartet hatten, um die Ecke der Salvatorkirche hinkte, nickte der Fahrer mit dem Kinn in seine Richtung und sagte in die Dunkelheit: „Da ist er …“, und der andere sagte von hinten: „Hannelore, du musst jetzt nicht … Das weißt Du. Niemand wird es dir vorwerfen, wenn du jetzt doch nicht aussteigst, noch kannst du zurück, noch ist nichts passiert!“

Sie schüttelte nur wortlos den Kopf, öffnete entschlossen die Autotür und begann auszusteigen. Das Aussteigen war schmerzhaft, richtig schmerzhaft, verdammt. Diese Schmerzen ließen sich ohne Morphium nicht mehr aushalten. Morphium zu nehmen, war für sie kein Problem. Eher es zu bekommen, denn der Arzt meinte, sie könne süchtig werden und stellte ihr viel zu selten ein Rezept aus.

Dieses miesepetrige Arschloch von Doktor, als ob ihr ihre Sucht in ihrer Situation noch etwas ausmachte. Was glaubte der denn, warum sie ihn immer wieder angebettelt hatte, ihr „das Zeug“ zu verschreiben, etwa weil sie es lustig fand oder weil sie danach „fliegen“ wollte?

Sie brauchte es. Punkt. Ohne Morphium waren die Schmerzen nicht mehr auszuhalten! Klar, es dämpfte auch – aber das war nur gut, fand sie. Für die nächsten Momente jedoch wollte sie einen klaren Kopf haben – also hatte sie kein Morphium genommen, also spürte sie die verdammten Schmerzen!

Als sie draußen war, beugte sie sich mühsam ins Auto und sagte: „Adieu, und danke!“

Der alte Herr war inzwischen nähergekommen, ging über den dunklen Platz in Richtung seines Autos, das drei Wagen vor ihrem geparkt war.

Sie hörte seinen Stock auf dem nassen Pflaster: Tock, tock, tock …

Sie hatte die Autotür leise geschlossen und ging langsam auf den Mann zu. Ihr Stock machte das gleiche Geräusch wie seiner, nur langsamer. Sie schaute ihn an, er sah irgendwie immer noch so aus wie früher, nur waren seine Haare weiß geworden. Komisch, dachte sie, wie wenig sich Menschen verändern: Sie mögen alt und krumm werden, sie mögen keuchen und krauchen, sie mögen die Haare verlieren, sie bleiben doch dieselben!

Als sie sich an seinem Auto trafen, hatte er immer noch nicht in ihre Richtung geschaut, geschweige denn, dass er sie angeschaut hätte, er kümmerte sich nicht um sie, machte sogar einen kleinen Bogen, als er sie endlich wahrnahm und bediente die Fernbedienung seines Autos, als ob sie nicht da wäre.

Sie hob ihren Stock in Brusthöhe in seinen Weg, und er schaute sie erstaunt an. „Was soll das?“, fragte er.

Sie ging nicht auf seine Frage ein, stattdessen sagte sie: „Kennst du mich denn nicht mehr?“

Er schaute sie erstaunt an und schüttelte den Kopf: „Sollte ich?“

„Eigentlich schon“, sagte sie, „es ist zwar lange her … Aber du solltest die Mutter deiner Tochter doch erkennen – auch wenn ich inzwischen alt und hässlich geworden bin.“

Er schaute sie an, drehte sich ein wenig, damit das Licht der Straßenlaterne auf ihr Gesicht fiel. Dann kam ein Erkennen auf sein Gesicht: „Du? Du bist es?“, fragte er, „Was willst du denn? Wie lange haben wir uns nicht gesehen? Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns noch einmal wiedersehen würden.“

„Das glaube ich dir“, sagte sie, „es sind übrigens zweiundvierzig Jahre“, und dann fuhr sie nach einer Pause fort: „Ziemlich genau zweiundvierzig verdammt lange Jahre.“

„Wie geht es dir?“, fragte er. Interesse klang anders.

„Ist doch scheißegal“, antwortete sie leise, und sie verspürte keine Schmerzen in diesem Moment, „das hat Dich nie interessiert und das Schicksal Deiner Tochter auch nicht … Nicht einmal, als sie gestorben ist! Du bist bei ihrer Geburt weggelaufen … Du hast dich einen Dreck um uns, um sie gekümmert. Du musstest ja Karriere machen, du, der berühmte Professor Doktor Doktor, natürlich ohne uns! Eine behinderte Tochter hätte ja nur gestört.“

Während sie redete, nestelte sie in ihrer Manteltasche und zog schließlich eine alte Pistole heraus.

„Aber du läufst nicht mehr weg, nie wieder!“

„Weißt du …“, begann er unsicher, und als er die Waffe schemenhaft sah, sagte er: „… was soll denn das? Was machst du denn da?“

„Halt einfach den Mund“, unterbrach sie ihn, „denn jetzt ist es zu spät!“

Als er sie anschaute, schaute sie zurück. Einen Moment lang passierte nichts.

Mit dem ersten Schuss schoss sie ihm die Eier weg. Er schrie nicht, blickte sie aber erstaunt an, ließ den Stock fallen, griff sich in den Schritt und sank dann – sie immer noch erstaunt ansehend – langsam zusammen.

Der zweite Schuss traf ihn in den Bauch. Da schaute er schon nicht mehr. Und als er am Boden lag, wartete sie – lange, dann endlich schoss sie ihm die dritte Kugel in den Kopf.

Die Schüsse waren gar nicht so laut gewesen, wie sie gedacht hatte.

Niemand kam aus der Dunkelheit gelaufen, um nachzuforschen, ob das Schüsse gewesen waren, und wer da auf wen geschossen haben mochte. Andererseits war die Gegend hinter der Salvatorkirche und dem unmittelbar benachbarten Literaturhaus nachts ziemlich verlassen, unwahrscheinlich, dass sich jemand dorthin verirrte. Außerdem wäre es ihr völlig egal gewesen.

Mit ihrem Stock stupste sie ihn an. Erst leicht, dann noch einmal etwas fester. Er rührte sich nicht mehr. Tot. Er war ein totes Stück Fleisch. Tot. Wie ein Stück Rindfleisch beim Metzger.

Sie war es zufrieden!

Sie schaute ihn noch einmal an, machte aber keinerlei Anstalten wegzulaufen. „Habe ich dich zum Schluss doch noch gekriegt, du Schwein …“, flüsterte sie.

Sie wunderte sich selber, dass sie gar nichts fühlte, weder Reue noch Befriedigung. Eigentlich fühlte sie sogar nur eine große Leere in sich.

Sie blickte zum Auto, mit dem sie gekommen waren, und winkte dann den beiden für sie fast unsichtbaren Insassen mit einer unsicher aussehenden Bewegung zu.

Jetzt fühlte sie doch etwas, urplötzlich waren die Schmerzen wieder da. Sie krümmte sich unwillkürlich zusammen, es tat plötzlich wieder alles so verdammt weh.

Sie hob die Pistole, schaute sie lächelnd an, ungefähr so, wie man einen guten Freund anschaut und schob sie sich in den Mund.

Dann gab einen vierten Schuss und sie war tot. Genauso tot wie er.

Ein paar Meter weiter fuhr ein dunkler Golf aus der Parklücke heraus und verschwand durch die Salvatorstraße in Richtung Rochusberg. Am Maximiliansplatz begegneten sie dem ersten Auto, aber da waren sie schon weit weg vom Ort des Geschehens.

„Sie hat es also tatsächlich gemacht“, sagte Wolf-Dieter, „ich habe nicht geglaubt, dass sie es tun könnte. Soll doch gar nicht einfach sein, einen Menschen zu erschießen, oder?“

„Wer sagt, dass es leicht für sie war? Aber sie wollte ihn sterben sehen, unbedingt … Ich glaube, das hat sie noch am Leben gehalten, das war das letzte Ziel, das sie noch hatte, das hat sie am Leben gehalten. Bei den Schmerzen… Wahrscheinlich wäre sie auch so bald gestorben.“ Und nach einer Weile fuhr Udo fort: „Und jetzt?“

„Warten wir!“

„Worauf?“

Wolf-Dieter zuckte mit den Schultern. „Dass die Polizei kommt, ihre Untersuchungen macht, feststellt, dass es Hannelore war, die ihn erschossen hat. Vielleicht werden sie Unterstützer suchen und uns hoffentlich nicht finden!“

Wolf-Dieter lachte kurz und trocken auf. „Warum sollten die großes Tamtam machen? Opfer tot, Mörderin daneben gefunden, sozusagen mit noch rauchender Pistole in der Hand, aber tot, Abschiedsbrief in ihrer Tasche – was sollen die Bullen mehr wollen?

Die Presse wird sich zwei oder drei Tage lang darauf stürzen, der Kerl war schließlich bekannt wie ein bunter Hund. Dann wird Hannelores Leiche freigegeben und wir können sie beerdigen, als die letzten Freunde, entfernte Freunde, eher Bekannte, die von nichts wissen und die natürlich absolut geschockt sind.

Nein, Herr Kommissar, das hätten wir uns nie vorstellen können, dass die gute alte Hannelore ihren Ex umnieten würde, wir wussten ja gar nichts von dessen Existenz, unvorstellbar, Herr Kommissar! Ich meine, der Grund für den Mord ist ja mehr als vierzig Jahre her, Herr Kommissar, das steht jedenfalls in der Zeitung … Stimmt denn das? Nein, darüber hat sie nie gesprochen, sie war ja sowieso sehr in sich gekehrt, Herr Kommissar.“

„Und die Waffe? Ich meine, wenn wir gefragt werden?“

„Waffe? Welche Waffe? Kennen wir nicht. Wir wussten ja nicht einmal, dass sie eine hatte! Ich habe sie nie mit einer Waffe gesehen, wußte nicht, dass sie eine besaß. Klar, ihr Vater war hoher Offizier im Krieg gewesen, im zweiten, Herr Kommissar, das war lange vor Ihrer Zeit, vielleicht hat sie die Waffe von dem geerbt? Und kann so eine alte Pistole denn überhaupt noch funktionieren? Naja. Muss sie ja wohl, Herr Kommissar, haha … Das ist eigentlich das Einzige, was ich mir vorstellen kann, man hört ja so vieles, Herr Kommissar.“

„Glaubst du ernsthaft, dass die uns verhören wollen..., werden?“

„Keine Ahnung, vielleicht, eher wohl nicht, aber wir müssen damit rechnen. Du, ich weiß ja auch nicht mehr, als man aus den Krimis im Fernsehen von der Arbeit der Kripo sieht. Aber man darf die sicher nicht unterschätzen. Die werden ihre Wohnung durchsuchen, klar, vielleicht werden sie auch die Nachbarn befragen, mit wem sie verkehrt hat.“

„Dann kommen sie auf uns?“

„Auf uns? Warum? Eher auf den Laden, da war sie ja regelmäßig …“

„Und dann auf uns, weil wir da auch immer sind?“

„Warum – wir sind doch nur Kunden, man hat sich gesehen, man hat sich bei der einen oder anderen Beerdigung getroffen, man hat ihr schon mal das Essen gebracht, wenn es ihr schlecht ging, Herr Kommissar, also mal der Eine, mal die Andere. Man wusste natürlich um ihre Krankheit, man hatte ja denselben Arzt, aber man war nicht wirklich befreundet, in unserem Alter, Herr Kommissar, da knüpft man keine Freundschaften mehr, wissen Sie.“

„Und wie ist sie zur Salvatorkirche gekommen?“

„Keine Ahnung? Straßenbahn? U-Bahn? Sie hatte doch extra die abgestempelte Streifenkarte in der Tasche.“

„Du meinst, die Bullen werden glauben, sie war ganz allein?“

„Das will ich doch hoffen, Udo. Warum sollten sie nicht? War sie doch auch, völlig allein! Wer, der nicht sehr allein ist, macht denn so etwas – in dem Alter und so krank? Verzweiflungstat, reine Verzweiflungstat.“

Der Laden

München-Neuhausen. Zwischen Dachauer Straße, Leonrodstraße und Rotkreuzplatz. Das alte gewachsene Viertel wird zerschnitten vom breiten Graben der Landshuter Allee, die als Teil des Mittleren Ringes zu den meistbefahrenen Straßen Münchens gehört. Die Wunde, die dort für den Mittleren Ring von den damaligen Stadtvätern zur Olympiade 1972 gnadenlos durch den Stadtteil geschlagen wurde, ist bis heute nicht vernarbt. Und die Stadt ist immer noch stolz.

 

Die Hübnerstraße beginnt an der Dom Pedro-Straße, endet am Ring und läuft auf der anderen Grabenseite als Ruffinistraße weiter; sie ist eine der ganz ruhigen Wohnstraßen im Quartier. An der Ecke Hübner-/Fa­saneriestraße befindet sich ein ungewöhnlicher Lebensmittelladen.

Hier betreiben Frau Z. und Herr F. ein Lebensmittelgeschäft der etwas anderen Art: Für einen Tante-Emma-Laden ist er zu groß. Für einen Supermarkt ist er zu wenig „super“ und ist die Auswahl zu klein… Aber es menschelt hier. Denn hier kann man noch „anschreiben“ lassen. Hier herrscht in gewisser Weise “italienisches Flair“, denn zum Einkauf gehört hier auch unabdingbar der auch sehr bayerisch gesprochene „Ratsch“…

Mittags holen sich die Alteingesessenen des Viertels – genauer gesagt, diejenigen von den Alten, die entweder sehr clever sind oder die, die nicht mehr „so können“ – einen Mittagstisch, den Frau Z. liebevoll zubereitet: Wichtig ist: Mittwoch gibt es immer Schweinebraten, Freitag immer Panfisch mit Bayerischem Kartoffelsalat – jeweils „auch“, denn jeden Tag bietet Frau Z. zwei oder drei warme Essen an. Das wichtigste neben dem günstigen Preis ist, dass es „selbstgekocht“ ist und auch so schmeckt!

Am Montagmorgen verschickt Herr F. per Fax den Wochenessensplan; wer unter den Stammkunden über kein Fax verfügt, holt sich seine Kopie im Laden ab. Twitter und Facebook sind hier zwar nicht unbekannt – aber verpönt! Das macht nichts, denn die Jungen kommen ja eher nicht…

Man kann auch Essenswünsche nennen, meist kocht Frau Z. das Wunschessen dann in der folgenden Woche. Täglich bis zehn Uhr muss man sich für „sein“ Essen angemeldet haben. Wer erst später anruft, muss nehmen, was es dann noch gibt. Die Portionen sind auf die Alten zugeschnittene „Seniorenteller“.

Häufig kommen auch „der Architekt“, „der Herr Doktor“ oder die „Frau Rechtsanwalt“ - die bekommen etwas größere Portionen, und die müssen sich in der Schlange der Hungrigen, die gerade ihr Essen abholen wollen, auch nicht ganz hinten anstellen.

Das heißt, das tun die zwar (man ist ja gut erzogen), aber meist werden sie von Frau. Z. freundlich-resolut nach vorne geholt, „weil“, sagt sie dann laut in die Runde, „die machen nämlich noch Bruttosozialprodukt!“. Und „Deshalb haben die es eilig!“

Da gibt es kein Maulen und kein Murren, das wird eingesehen von den Alten – und überhaupt sind die froh, wenn es ein wenig länger dauert, denn dann ist mehr Zeit für den Ratsch…

Nur wenn die Frau Plüschke mit ihrer lila Perücke kurz vor eins in den Laden kommt, um 50 Gramm Wurst („in dünnen Scheiben, die dicken schmecken nämlich nicht so…“) und 75 Gramm Käse („in dicken Scheiben, denn da‘ Kas‘ schmeckt dünn ja nicht“) und zwei „Gutteln“ (Bonbons) zu bestellen und dann nach dem Bezahlen und wenn sie schon drei Schritte vom Tresen weg ist, doch noch daran denkt, dass sie wieder vergessen hat, den Leberkäs für den Nachbarn („ganz dünn! Der mag das nur ganz dünn…“) mitzubringen und dann noch die tz von gestern und zwei Semmeln („aber nicht soo dunkel – haben sie keine helleren?“)… , dann murrt es in der Schlange, denn Frau Plüschke kommt immer – und in diesem Fall ist jenes „immer“ gemeint, das „jeden Tag“, also täglich, bedeutet – um Punkt zwölf Uhr fünfundfünfzig, genau dann, wenn Frau Z. eigentlich bald die eigene Mittagspause einläutet („man muss ja auch mal etwas essen…“) und wenn daher die Zeit drängt, dass die Kunden ihr Essen noch halbwegs warm mitbekommen.

Nun ist Frau Plüschke schon ein sehr besonderer Kunde im Laden, der auch ansonsten Originale aufzuweisen weiß: Sie ist so um die Siebzig, groß – fast 180 cm wäre sie, wenn man ihren leichten Bechterew aufbiegen würde – und hager. Und sie durfte eine Nase ihr Eigen nennen, auf die jeder Adler neidisch wäre: Groß und in wildem Schwung gebogen. Ihr Blick war irgendwie stechend, unangenehm... Ihre Stimme war immer etwas zu laut und ihre Wortbeiträge meistens „für die Galerie“ gesprochen.

Aber weil in dem Alter meist nicht mehr viele Alternativen bestehen, die überhaupt mit einem reden und weil die meisten Menschen im Alter – wenn sie allein leben müssen – etwas schrullig wurden, war sie trotz ihrer Eigenschaften ein gesuchter Gesprächspartner, denn sie hatte immer Zeit für einen Ratsch und wer mit ihr redete, erfuhr immer etwas – Neues, Interessantes, Klatsch und Tratsch aus und über die Nachbarschaft.

Die lila Perücke war einmal hell gewesen, dann hatte sie versucht, sie selbst umzufärben („dafür muss man doch kein Geld zum Friseur tragen!“) – der Versuch war in einer Katastrophe geendet, die Perücke wurde nicht „nussbraun mit leichtem Rotstich“ (wie die Packung versprochen hatte), sondern giftgrün (DAS hatte die Packung nicht versprochen).

Nach mehreren weiteren in die Hose gegangenen Versuchen, trug sie die Perücke nun eben lila. Die Rente erlaubte keine neue Zweitfrisur. Die war in der Zwischenzeit zu ihrem Markenzeichen geworden: Frau Plüschke mit den lila Haaren. Und niemand nahm die seltsame Farbe mehr wahr… das war eben die Plüschke!

Vor Jahren war Frau Plüschke mit dem Bus durch Frankreich gefahren und war danach monatelang allen, die nicht schnell genug fortkamen, mit ihren Schwärmereien von „Fraankreisch“ auf die Nerven gegangen. Seitdem redete Herr F. sie – früher häufiger, in letzter Zeit eher selten – mit „Madame“ an, was sie jedes Mal sichtlich aufblühen ließ.

Ab und zu kommen polnische Bauarbeiter in den Laden, die die Häuser in der Gegend um den Hübnerplatz renovieren. Die holen meist eine Leberkäs-Semmel oder ein Kümmelweckerl mit Schweinebraten (mit oder ohne Senf). Die gut belegten Semmeln gibt es nämlich an jedem Tag, und saure Gurken aus dem großen Glasl auch! Man verstand sich prima, die Bauarbeiten verstanden zwar kein Wort Bayrisch und Frau Z. und Herr F. naturgemäß kein Wort polnisch – aber Handzeichen taten es auch, und wer im Laden von Angesicht bekannt war, bekam auch ohne Worte das, was er gestern bekommen hatte. Und alle waren es zufrieden.

Frau Z. sagte dann schon einmal um Zustimmung heischend zu den anderen Kunden (aber erst, wenn der Bauarbeiter schon wieder fort war, man weiß ja nicht, der Pole, vielleicht versteht er ja doch deutsch?): „Mei, die armen Kerle“, sagte sie dann, „müssen die gar aus Polen kommen, um bei uns marode Häuser zu reparieren… so weit fort von zuhause…“, und dann schnitt sie die Scheibe Leberkäs schon mal ein bisschen stärker und glaubte, Herr F. würde nichts merken…

Es soll nicht vergessen werden, dass Herr F. ein kleines feines Hobby hat, das so gar nicht in den Laden zu passen schien: Weine! Da kann man sich blind auf ihn verlassen. Wenn Herr F. sagt, der Wein, den man gerade aus dem Regal genommen habe, der sei natürlich schon gut, aber der, den er in der Hand halte, sei noch besser, und den solle man doch mal probieren, dann sollte man seinem Rat ohne Wenn und Aber folgen! „Sein“ Wein ist immer besser – und meistens nicht teurer.

Als Kunde muss man sich für diese Ratschläge erst einmal qualifizieren. Denn die gibt Herr F. keinesfalls jedem x-beliebigen Kunden… bei neuen oder nicht so netten Besuchern, da schweigt er… aber wer ab und zu eine witzig-freche Bemerkung drauf hat, oder wer den Lardo in der Kühltheke a) als solchen erkannt hat und b) genossen und c) drei Tage später ausreichend gelobt hat, den mag er… und dann hilft er bei der Weinauswahl! Und Herr F. hat noch nie daneben gelegen…

Besonders stolz ist er, wenn er einen besonders guten Wein günstig aufgetrieben hat – dann läuft er zur Hochform auf, dann erhalten seine Lobpreisungen der Weine literarische Qualität.

Der Laden (einen Namen hat der nicht) ist ein soziales Zentrum in der Gegend. Für ein paar alte Kundinnen, die mit einer viel zu kleinen Rente auskommen mussten („Ja, die haben eben nicht vierzig Jahre lang Rentenmarken geklebt und zusätzlich Altersvorsorge betrieben, wie die Bekloppten von der FDP es wollen“ – wie Herr F. es nach intensiven Studium der „Bildungszeitung“ eines Tages allen im Laden erklärt hatte. Nicht alle hatten den Sarkasmus der Bemerkung verstanden), und die sich deshalb selbst die wirklich preiswerten Mittagsgerichte im Laden nicht jeden Tag leisten konnten, hatte „der Engel vom Hübnerplatz“, die „Frau Doktor“, wie sie im Laden genannt wurde, ein Budget eingerichtet. Damit wurde deren Mittagessen finanziert. Bezahlen mussten die schon… „vorneherum“, damit alle sahen, dass sie bezahlten! Aber „hintenherum“ bekamen die ihr Geld wieder. Das sollte dann keiner sehen, damit das nicht nach Almosen aussah…

Vor Jahren hatte ein Tengelmann ein paar Ecken und einige hundert Meter entfernt eröffnet. Seitdem kauften dort die Eiligen ein, die Essen in Dosen-, die Fertigpizza- und die Billigbier-Käufer…

Hier im Laden, hier gibt es im Herbst dagegen noch „richtige“ Boskop-Äpfel mit rauer Haut, hart und richtig sauer! Oder drei verschieden fest kochende Kartoffelsorten, alle persönlich ausprobiert und für gut befunden von Frau Z., die Wurst schmeckt herzhaft und die stets frisch gemachten Pflanzl (Frikadellen) sind natürlich aus von Herrn F. persönlich entfettetem und selbst durch den Wolf gedrehtem Kalbfleisch und den Essig, den es hier gibt, den muss man einfach probiert haben...

Hier geben die diversen Paketdienste die Pakete für diejenigen im Quartier ab, die tagsüber nicht zuhause waren – da kommen dann auch die Jungen, um ihre Amazon-, Ebay- und Zalando-Sendungen im Laden zu holen. Immer eilig, meist nicht gut drauf und nie in der Stimmung für einen noch so kurzen Ratsch – demzufolge eine durch und durch enttäuschende Kundschaft …

Wer regelmäßig seine Zeitung im Laden kauft, für den wird sie (ungefragt) auch bis abends um sechs aufgehoben und wird keinesfalls vorher verkauft... Kurz, hier im Laden ist Leben, das richtige Leben, nämlich Leben wie früher! Für die Älteren unter den alten Kunden daher das einzig richtige Leben

Und falls ein Kunde – unabgemeldet! – ein paar Tage zu viel nicht in den Laden kommt, geht Frau Z. schon mal „nachschauen“. Das hat dann gar nichts mit Neugierde zu tun, das ist positive soziale Nahkontrolle.

Ab und zu stirbt eine oder einer von den Alten. Dann steht eine Sammelbüchse auf dem Verkaufstresen. Handgeschrieben liegt ein Zettel mit dem Hinweis daneben: „Für einen Kranz“ – und kaum jemand geht aus dem Laden, der oder die nicht ein Scherflein beiträgt, schließlich will „man“ auch einen Kranz haben, wenn es dann einmal soweit sein sollte…