Glauben an einen Gott, den es nicht gibt

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Agnostiker und Etwasisten

Neben Gläubigen und Atheisten gibt es auch die sogenannten Agnostiker und die Etwasisten.

Ein Agnostiker (wörtlich: einer, der es nicht weiss) verzichtet auf eine Antwort auf die Frage, ob es Gott gibt; er lässt das offen. Er hält sich weder zum Gläubigen noch zum Atheisten, sondern lässt die Frage auf sich beruhen, oder einfacher gesagt, er weiss nicht oder weiss noch nicht. Die Atheisten halten wenig von ihm; sie finden, er kokettiere mit seiner Toleranz und seiner Besonnenheit, und werfen ihm Feigheit vor, weil er eine Entscheidung noch immer – und wahrscheinlich auf unbestimmte Zeit – verschiebt. Der Agnostiker gleicht einem, der den ganzen Tag im Badeanzug vom Rand des Schwimmbads aus den Schwimmern zuschaut, sich aber nicht entscheiden kann, ins Wasser zu springen, und am Ende des Tages trocken nach Hause geht, um am nächsten Tag wieder zurückzukommen.

Die Etwasisten gehen nicht wie die Atheisten so weit zu behaupten, dass es Gott nicht gibt. Oder sie gehen eben gerade dort weiter, wo die Atheisten anhalten. Ihre Ansichten über den Glauben sind offener als die der Atheisten. Wo diese nicht glauben, glauben die Etwasisten schon: Sie glauben schon, dass es etwas gibt, bloss nennen sie es nicht Gott. Um im Bild zu bleiben: Die Etwasisten begnügen sich damit, die Füsse ins Wasser zu halten; sie würden vielleicht ganz gerne schwimmen wollen, doch lieber ohne nass zu werden. Ich füge noch bei, dass über den negativen Qualifikationen, die man ihnen oft erteilt, meist vergessen wird, dass viele Etwasisten einmal kirchlich waren: Sie sind bereits einmal nass gewesen.

Was Atheisten über Gott sagen

«Gibt es die Ameise eigentlich …? Oder hab ich sie erfunden …?»21 (Ja, sagt der Atheist, du hast sie erfunden …)

Ein Atheist glaubt also nicht, dass es Gott gibt. Nun kommt aber kein Mensch, der bei Verstand ist, auf die Idee zu behaupten, es gebe etwas nicht, was es nicht gibt. Da muss erst ein anderer da gewesen sein, der behauptete, es gebe Gott. Der Atheist «hat es vom Hörensagen»; er glaubt nicht, was andere von Gott sagen.

Wer sind die anderen? Um im Überschaubaren zu bleiben und nicht in die Ferne zu schweifen, nenne ich die anderen Christen und setze voraus, dass deren Behauptungen sich auf die Lehre der Kirche stützen. Der Atheist glaubt also nicht an das, was die Kirche aus Gott gemacht hat. Und was hat die Kirche – nach Meinung der Atheisten – aus Gott gemacht?

Das atheistische Gottesbild

Ich skizziere, ausgehend von dem, was ich von Atheisten gehört und gelesen habe, ein «atheistisches» Gottesbild; es sieht, in zwei Sätzen gesagt, folgendermassen aus: 1) Gott ist ein hocherhabenes allmächtiges Wesen, das einst beschlossen hat, Himmel und Erde zu erschaffen, das Wort (auf Hebräisch) an sich selbst richtete und auf diese Weise die Schwerarbeit der Schöpfung eigenhändig und aus dem Nichts in sechs Tagen vollbracht hat, worauf er feststellte, dass alles «sehr gut» war. 2) Bei genauerem Hinsehen stellten sich die Dinge dann – hienieden mindestens – als ziemlich enttäuschend heraus, so dass er sich genötigt sah, seinen Sohn auf die Erde zu schicken, was allerdings ein Fiasko zu werden drohte, da Jesus ermordet wurde, doch das wiederum stellte sich gerade als die Rettung heraus, denn dadurch konnte eine Kirche entstehen, die bis auf den heutigen Tag bekennt, dass Jesus Christus «unser Herr und Erlöser» ist, und die überzeugt ist, dass es einen personalen, vollkommenen, voraussehenden, allgegenwärtigen, ewigen, unwandelbaren, doch nichtsdestotrotz gelegentlich zornigen, meist aber gerecht urteilenden und überaus gnädigen Gott gibt.

Das atheistische (Un-)Glaubensbekenntnis

Ich gehe auf drei Merkmale dieses Gottesbildes ein, nicht beliebig herausgegriffene. Im Blick darauf, dass sich die atheistische Kritik am vermeintlich christlichen Gottesbild vor allem gegen das oben im ersten Satz Ausgeführte richtet, formuliere ich ein «atheistisches (Un-)Glaubensbekenntnis»: «Gott, das allmächtige Überwesen, das Himmel und Erde erschaffen hat, gibt es nicht.» Darauf reagiere ich mit Zustimmung, mit Empörung, mit Kritik und mit Verwunderung.

Mit Zustimmung: Ich gehe einig mit den Atheisten, diesen Gott gibt es nicht.

Ich habe sie also erfunden …, dachte er. Also habe ich auch ihre Fühler und ihre Zehen erfunden, und dass sie Honig das Allerleckerste der Welt findet. Und dass ich sie vermisse, das habe ich folglich auch erfunden. In Gedanken sah er seine Erfindung laufen …22

Mit Empörung: Der Atheist karikiert – bewusst oder unbewusst23 – das christliche Gottesbild. Man muss nämlich keineswegs ein Atheist sein, um ein solches «atheistisches Glaubensbekenntnis» unterschreiben zu können. Viele Christen würden ihre Unterschrift darunter setzen; auch für sie ist dieser Gott schon lange tot. Als Pfarrer, der sich dessen bewusst ist, wehre ich mich dagegen, dass sie von Atheisten so bedenkenlos für hinterwäldlerisch erklärt werden.

Und da beginnt auch die Kritik: Der Atheist ist nicht auf der Höhe der Zeit. Seine Argumentation bewegt sich noch im Umfeld der mittelalterlichen Gottesbeweise, und sein Gottesbild ist dementsprechend von Dogmen und Glaubensbekenntnissen geprägt. Für die meisten Gläubigen ist dieser St.-Nikolaus-Gott mit dem langen Bart höchstens noch der Gott ihrer Kinderjahre, der seinerzeit zusammen mit den Spielzeugautos und dem Metallbaukasten auf dem Dachboden verstaut wurde. Der Atheist aber versteift sich darauf, den Gläubigen als einen zu sehen, der es für wahr hält, dass Gott in sechs Tagen Himmel und Erde erschaffen hat und seither als fürsorglicher Vater über seine Schöpfung und seine Geschöpfe wacht. Ich weiss durchaus, dass es noch Leute gibt, die das glauben, aber sie bilden inzwischen eine so kleine Minderheit, dass es zumindest überraschend ist, dass sie noch immer die Vorstellung dessen prägen, was – laut einem Atheisten – Christen glauben oder nicht glauben. Und dass noch so viel Energie investiert wird, um da zu widersprechen. Der Atheist hat offensichtlich eine Schwäche für das Mittelalter. Und daraus ergibt sich ein hübsches Bild für den Atheisten des 21. Jahrhunderts: ein Ritter, der rückwärts auf seinem Pferd sitzt, mit geschlossenem Harnisch, die Lanze auf die Vergangenheit gerichtet.

Meine Verwunderung betrifft vor allem die Argumentation: Religion sei nichts als Hirngespinst, Illusion, kollektive Geistesverwirrung, eine schöne Erfindung, die Menschen Hilfe, Ablenkung und Trost biete, ein Pflästerchen auf die Wunde. Wirkliche Argumente hört man eigentlich kaum, die atheistische Kritik begnügt sich mit der Verketzerung des Andersdenkenden.

Das jüngste Buch des britischen Evolutionsbiologen Richard Dawkins «Der Gotteswahn» illustriert das trefflich. Seine Beweiskraft bezieht es vor allem aus der Präsentation (als «Bombe»24) und aus der Entschiedenheit seiner Behauptungen. Dawkins scheut auch nicht davor zurück, andere Auffassungen zu diskreditieren: Wer nicht zu seinen Geistesverwandten gehört, wird durch den Fleischwolf gedreht. Sein Fazit, «dass es Gott höchstwahrscheinlich nicht gibt»,25 hat nicht mehr Bedeutung, als es seine Voraussetzungen haben.

Eines der beliebtesten atheistischen «Argumente» lautet: An einen Gott, der so etwas zulässt, glaube ich nicht (mehr). Und Menschen, die so etwas zulassen – hat man mit denen keine Mühe? Und wenn es all das Elend nun auf einmal nicht mehr gäbe, würde man dann daraus schliessen, dass es Gott doch gibt?

Es ist denn auch nicht erstaunlich, dass nur ein kleiner Teil26 der Bevölkerung in den Niederlanden sich als atheistisch bezeichnet. Die Mehrheit, die dennoch nicht auf den Kopf gefallen ist, lässt sich offenbar ohne solide Argumente nicht überzeugen. Und die vielen, die die Kirche verlassen, weil sie nicht mehr glauben, dass es Gott gibt, und die darum eigentlich in die Kategorie «Atheisten» gehörten, nennen sich trotzdem nicht so. Der Atheismus geht offensichtlich nicht so einfach weg wie frische Semmeln, und zu Recht: Etwas stimmt nicht. Schon die wachsende Zahl von Etwasisten und Agnostikern (Leuten also, die sich fragen, ob es Gott gebe27) weist darauf hin: Zu glauben, dass es Gott nicht gibt, führt nicht zum Ausschluss Gottes. Oder – und darauf will ich hinaus – es gibt keine atheistischen Argumente, die es unmöglich machen, an einen Gott (den es nicht gibt) zu glauben.

Was Atheisten über den Glauben sagen

Lasst ab von der Einfalt, so werdet ihr leben, und geht auf dem Weg des Verstandes.28

Weiter oben sagte ich, das «atheistische Unglaubensbekenntnis» beruhe auf einer Karikatur des christlichen Gottesbildes. Dass jemand mit einem karikierten Gottesbild eine differenzierte Vorstellung von Glauben hat, ist nicht zu erwarten. Und in der Tat: Für einen Atheisten ist ein Gläubiger nicht mehr als ein Dummkopf. Die heutige Elite qualifiziert Glauben als «weiter nichts als Dummheit»29 oder als «etwas für zurückgebliebene Leute»30.

Solche Ausdrücke sind – gelinde gesagt – nicht das Ergebnis vernünftiger Überlegungen. Sie sind aufgeladen mit Emotionen, die vermuten lassen, dass da die Lebensgeschichte und die psychische Verfassung dessen, der so urteilt, eine nicht geringe Rolle spielen. Man achte einmal darauf, auf welchen Wegen Angehörige der atheistischen Elite zu ihrem Atheismus gekommen sind, und bilde sich seine Meinung.

 

Ronald Plasterk war enttäuscht von der Antwort, die er in der Volksschule von einem Religionslehrer erhielt auf die Frage: Wenn ich jetzt glaube, dass ich neue Rollschuhe kriege, krieg ich sie dann wirklich?31

Herman Philipse (der schon als Kind Vorbehalte gegenüber der Religion hatte) über den Religionsunterricht, den er mit seiner kleinen Schwester besuchte: «Dazu kam noch, dass der Pfarrer (…) ganz dicke, mattierte Zigarren rauchte (…). Diese Zigarren plus die Langeweile, die ich empfand, genügten, um mir jedes Interesse an Religion zu nehmen.»32

Vincent Icke, dessen Gebete für seinen kranken Vater «einen Dreck nützten», sagt: «Allmählich bin ich da zum Schluss gekommen, dass ich beschissen werde, oder – besser gesagt – dass Gott ein Stümper ist oder ein Sadist.»33

Die meisten Atheisten behaupten, ungläubig zu sein, weil sie zur Überzeugung gekommen seien, dass es Gott nicht gibt. Fast alle erklären übereinstimmend, dass sie «in einem bestimmten Moment diese Entdeckung gemacht» hätten. Wie denn? Indem sie aufhörten zu glauben, was andere glauben. Das unterscheidet sie aber nicht von den meisten Gläubigen: Auch sie glauben nicht mehr an den Gott ihrer Kindheit.

Der entscheidende Unterschied zwischen den beiden besteht vielmehr darin, dass das Gottesbild der meisten Gläubigen sich allmählich verändert hat, während es bei den Atheisten im Augenblick, da sie sich von ihm verabschiedeten, stehengeblieben ist. Das hindert sie aber nicht daran, diejenigen, die weniger radikale Entscheidungen getroffen haben und andere Wege gegangen sind, als «Irrationalisten» abzustempeln.

Der Atheist urteilt und handelt aufgrund einer Auffassung, die er selbst verworfen hat: Zuerst schiebt er den Gläubigen, ohne ihn befragt zu haben, in eine orthodoxe Ecke ab und dann verkauft er ihn als blöd. Die Frage, ob dieser umgekehrte Fundamentalismus eigentlich noch Atheismus genannt werden kann, lasse ich vorläufig noch offen.

Ich habe Verstand so gut wie ihr, ich stehe nicht hinter euch zurück …34

Der Atheist gerät – meines Erachtens – gleich mehrfach ins Schleudern.

Erstens: Der Atheist reduziert den Menschen auf seinen Verstand, während doch die meisten von uns mit mehr ausgestattet sind als bloss mit Hirn: mit Gefühlen, Wünschen, Sorgen, Hoffnungen … Doch in den Augen von Atheisten bedeutet «glauben» einfach, etwas Unmögliches für wahr halten, indem man seinen Verstand auf null setzt. Dass es auch Gebildete gibt, die sonntags zur Kirche gehen, Wissenschaftler, Leute mit hervorragendem Verstand, kann sie nicht von dieser Meinung abbringen. Im Gegenteil: Letztere werden bloss verhöhnt: «Die Woche hindurch treibt man Naturkunde und am Sonntag geht man in die Kirche.»35

Zweitens: Der Atheist unterschätzt den Gläubigen. Meint er wirklich, dass ein Gläubiger des 21. Jahrhunderts alles, was ihm gesagt wird, einfach schluckt? Ein Beispiel: An den Gott, der im Buch Hiob vorkommt, kann man nicht glauben. Da wird ein unschuldiger Mensch als Einsatz einer Wette zwischen Gott und dem Teufel missbraucht und dadurch ins Elend gestürzt. Gott verkörpert hier alles, was Nicht-Gott ist; wir würden ihn einen Schuft nennen, und er käme damit noch gnädig davon. Meint der Atheist wirklich, dass ein «normaler Gläubiger» an einen solchen Gott glaubt? Das ist doch nicht zu glauben!

Doch für den Atheisten gibt es offenbar nur alles oder nichts. Für ihn ist der Glaube ein Multipack, das in seiner Gesamtheit angenommen werden muss: Ein Gläubiger hat die Bibel wörtlich aufzufassen und die unverkürzte Lehre der Kirche zu unterschreiben.

Wenn ein Gläubiger dann vorsichtig dagegenhält, dass er nicht alles für bare Münze nehme und selbst bestimme, was er für glaubwürdig halten wolle, reagiert der Atheist verärgert: Religiöser Liberalismus, unzulässige Willkür sei zu glauben, was einem in den Kram passe, und zu verwerfen, womit man nicht zurechtkomme.36 Für ihn gibt es nur ein Entweder-oder: Entweder sagt man ja zum ganzen Paket, und das heisst dann, auf Geheiss der Kirche alles anzunehmen, selbst das, wozu der Verstand nein sagt, oder Gebrauch zu machen von seinem Verstand und dem Glauben an Gott völlig abzusagen.

Und als Letztes: Der Atheist findet den Gläubigen «dumm». Was ihm da begegnet, entspricht für mich dem, was einem Pfarrer als «kindlicher Glaube» entgegenkommt: «Ich glaube eben wie ein Kind, Herr Pfarrer.» Nach atheistischen Massstäben ist das wohl das Dümmste, was man machen kann. Mein Massstab ist die Integrität. Anders gesagt: Ich halte die Bedeutung, die der Glaube im Leben eines Menschen hat, für wichtiger als die Frage, ob der Inhalt seines Glaubens meinen intellektuellen Massstäben genügt. Ich komme täglich mit Menschen zusammen, die anders glauben als ich, und sie und ich wissen durchaus, dass es sich dabei inhaltlich oft nicht um Spitzenleistungen handelt, aber ich hatte noch nie das Bedürfnis, da eine Messlatte anzusetzen. Im Gegenteil, wenn der Glaube «wirkt» im Leben der Menschen, wenn sie damit leben und sterben können, wer bin ich dann, um …?

Zur Argumentation, zu den Motiven und zum Benehmen des Atheisten wäre noch einiges anzumerken, mit seiner Überzeugung jedoch, dass es Gott nicht gibt, hat er recht.37 Und im nächsten Abschnitt bekommt er auch recht. Von der Bibel her erst recht: Gott hat es nie gegeben; ein Gott, den es gibt, ist ein historisches Missverständnis.

Die Bibel: «Im Anfang» ist nicht «der Anfang»

Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde.38

Die Bibel fängt an mit «Im Anfang …» Das sind die ersten Worte der Genesis, des ersten Buches der Bibel. Auf das Buch Genesis folgt das Buch Exodus, dann das Buch Leviticus und so fort. Doch das ist eine optische Täuschung: Wären die Bücher der Bibel in der Reihenfolge ihres Entstehens angeordnet, käme das Buch Genesis irgendwo weiter hinten zu stehen. Der Text selbst verrät es: Da stehen babylonische Lehnwörter drin, und die können seine Autoren erst im 6. Jahrhundert v. Chr., in der Zeit der sogenannten Babylonischen Gefangenschaft, vernommen haben.

Angefangen hat es schon viel früher. Aus historischer Sicht müsste die Bibel mit dem Auszug aus Ägypten und der anschliessenden Reise durch die Wüste beginnen. Das fand im 13. Jahrhundert v. Chr. statt, nachdem Gott sich in einem brennenden Dornbusch «vorgestellt» hatte mit den Worten: «Geh, und ich gehe mit dir.» In dieser Geschichte39 finden sich die Ur-Intuitionen, auf denen alles spätere Reden von Gott gründet oder gründen sollte.

Im Folgenden werde ich darlegen, dass es Gott am Anfang nicht gab, sondern dass man erst «im Anfang» anfing zu sagen, es gebe ihn.

Der Anfang – das 13. Jahrhundert vor Christus

Mose sagte: Wer bin ich, dass ich zum Pharao gehen und die Israeliten aus Ägypten führen könnte? Gott antwortete: Geht, und ich gehe mit euch.40

Im Buch Exodus ist keine Rede von einem Gott, den es gibt. Am Anfang wussten es also alle: Gott gibt es nicht. Atheisten gab es noch keine, es gab ja nichts zu bestreiten. Wenn irgendwo von Atheismus die Rede ist, dann bei den Autoren der Schrift selbst. Das ganze Alte Testament muss gelesen werden als ein andauernder Kampf gegen «Abgötterei», wobei immer wieder mit allem Nachdruck gesagt wird, was Gott nicht ist: Er ist nicht wie die anderen Götter.

Wenn das Wort «Gott» fällt, dann geschieht dies immer im Kontext von «Befreiung». Die Zehn Gebote werden eingeleitet mit den Worten: «Ich bin der HERR, dein Gott, der dich herausgeführt hat aus dem Land Ägypten, aus einem Sklavenhaus.»41 So wurde das später aufgeschrieben.

Doch der Glaube an JHWH, den Gott Israels42, hat eine religiöse Vorgeschichte. Die Hebräer (die späteren Israeliten) werden unterdrückt und ausgebeutet von Ägyptern, die eine Religion haben. Das durfte nicht sein. Die Alternative zur Unterdrückung ist die Befreiung: So musste es sein. Mose wird zum Pharao geschickt: Er, nicht Gott, muss sein Volk befreien. Als Atheist kann ich das nicht genug betonen: Gott ist kein «Befreier», die Erzählung sagt nicht mehr, als dass der Name Gottes verbunden ist mit einer «Befreiung», die durch Menschen Gestalt annehmen muss. So war es damals und so ist es geblieben und so ist es noch heute: Befreiung ist Sache der Menschen. Was ursprünglich unter «Gott» verstanden wurde, hat zu tun mit dem, was im Leben der Menschen geschieht.

Ehjeh ascher ehjeh: «Geht, und ich gehe mit euch.»

Gott «macht seinen Namen wahr», nichts anderes, wie gesagt: «Geht, und ich gehe mit euch.» Diesen Namen muss man in Anführungszeichen setzen, denn was es nicht gibt, das kann keinen Namen haben. Ein Hinweis darauf befindet sich bereits da, wo Gott «sich vorstellt»: «Mose aber sagte zu Gott: Wenn ich zu den Israeliten komme (…) und sie sagen zu mir: Was ist sein Name?, was soll ich ihnen dann sagen? Da sprach Gott zu Mose: ‹Ehjeh ascher ehjeh›. Und er sprach: So sollst du zu den Israeliten sprechen: ‹Ehjeh ascher ehjeh›, der hat mich zu euch gesandt.»43

Auf den ersten Blick scheint die Sache ganz einfach: Mose stellt die Frage: Was ist dein Name?, und Gott antwortet: «Ehjeh ascher ehjeh.» Aber so einfach ist es nicht; denn die Frage wurde so nie gestellt, und die Antwort wurde so nie gegeben; das Gespräch hat nie stattgefunden. Die Erzählung ist entstanden, nachdem man mit dem fremden Namen schon siebenhundert Jahre lang Erfahrungen gemacht hatte. «Ehjeh ascher ehjeh», mehr konnten die biblischen Autoren nach all den Jahrhunderten nicht sagen.

Der Name ist unübersetzbar geblieben. Die Übersetzungen variieren zwischen «Ich bin, der ich bin»44 und «Ich werde sein, der ich sein werde»45. Um sich so zu definieren, braucht man kein Gott zu sein, das kann mein Nachbar auch sagen. Ich ziehe die Übersetzung vor: «Geht, und ich gehe mit euch.»46 Damit will ich ausdrücken, dass Gott nur dort ist, wo Menschen in Bewegung kommen.

Die Übersetzung dieses Namens bietet aber noch weitere Schwierigkeiten: Das Hebräische kennt kein Präsens. «Ich laufe» kann man nicht sagen, wohl aber «ich, laufend», entsprechend etwa dem englischen «I am walking», das ausdrückt: Mein Laufen ist noch nicht abgeschlossen, ich bin noch damit beschäftigt. Deshalb genügt die Übersetzung «Ich bin, der ich bin» nicht, denn sie gibt die Bewegung nicht wieder. Und allein schon aus diesen Gründen kann Gott keinen Namen haben: Er ist noch nicht fertig. Und das Unfertige kann natürlicherweise auch nicht bestehen, es ist ja noch immer am Entstehen. Und ob auch tatsächlich etwas daraus wird, muss sich noch erweisen: «Geht, und …». Und wenn man nicht geht, dann ist eben nichts.47

«Geht, und ich gehe mit euch», das ist keine logische Schlussfolgerung, die sich aus diesem Namen ergibt, sondern der Ausdruck einer Erfahrung, die mithilfe dieses Namens angedeutet ist. Warum und wie sind die Hebräer seinerzeit aus Ägypten ausgezogen? Aufgrund einer göttlichen Offenbarung? An Gottes Hand? Gewiss nicht! Nein, sie haben sich in einem bestimmten Moment einfach davongemacht, aus der Sklaverei in die Wüste, in der Hoffnung auf Leben. Hinterher wurde das gedeutet als ein Auszug unter der Führung einer Kraft, die sie mit der Zeit «Gott» nannten, ohne den ihnen das nie gelungen wäre. Eine Erfahrung also wurde mit diesem Namen gedeutet. Theologisch gesprochen: Ein gewöhnliches geschichtliches Ereignis wurde als «Heilsgeschichte» ausgelegt.

 

Mehr kann auch ein Theologe darüber nicht sagen. Der Name hat sich gleichsam von Anfang an abgesichert gegen alle spätere Theologie. Gott ist «immun» gegen Theologie: Geh, heb dich vom Stuhl, komm heraus aus deinem Büro. Und dann …

Gott tut also nichts anderes, als dass er seinen Namen bestätigt. Nichts mehr und nichts weniger; im Buch Exodus finden sich keine Hinweise auf ein Davor oder ein Danach. Von einem Schöpfergott ist nicht die Rede, so wenig wie von einem Gott, der auch nach dem Tod noch für die Menschen da wäre. Ich weise hier kurz darauf hin,48 weil dies eine Botschaft ist, die man in der Kirche kaum zu hören bekommt: dass man nämlich an Gott glauben kann, ohne zu erwarten, dass Gott etwas zu tun hat mit der Entstehung der Welt und der Menschen, und ohne zu hoffen, dass er nach dem Tod auch da sein wird. So war es am Anfang, und darin müsste man die Quelle der sogenannt jüdisch-christlichen Tradition erkennen. Alle Schöpfungs- und Jenseitstheorien sind später entstanden. Was ursprünglich unter «Gott» verstanden wurde, wurde nicht in Verbindung gebracht mit der Frage, woher der Mensch kommt und wohin er geht, sondern mit dem eigentlichen Leben zwischen Geburt und Tod.

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