Kurze Geschichten über Abschiede

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Kira Berg

KURZE GESCHICHTEN ÜBER ABSCHIEDE

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2014

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte bei der Autorin

Titelfoto © HappyAlex - Fotolia.com

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Leonore

Allein in Rom

Welkhüll

Umkehr

Loslassen

Am Bahnhof

Der Brief

Die Spende

Eine Fahrradpanne

Die Kreuzfahrt

Das Segelboot

Die vergessene Weihnachtsfigur

Nach Jahren

Leonore

Das kleine Bistro lag verschlafen an einer Straßenkreuzung, die allenfalls am Nachmittag so etwas wie eine Rush hour verspürte. Die Hitze des Tages ließ die Luft vibrieren und hüllte alles in ein viel zu enges Gewand. Der schmale Bürgersteig vor dem Bistro reichte gerade aus, um zwei Tischen mit schmalen Stühlen Platz zu lassen, so dass gleichzeitig Bummelnde, die es hier kaum gab, hätten vorbeilaufen können. Die heruntergezogenen Fensterläden der umliegenden Häuser vermittelten den Eindruck leerer, unbewohnter Wohnungen. Es roch nach Provinz und Vergangenheit. Eine Luft, die einem die Kraft zum Atmen nahm. Das Bistro hatte wie überall in der französischen Provinz um die Mittagszeit kaum Gäste. Claudette, die Besitzerin saß hinter der Theke, gelangweilt über ein Magazin gebeugt. Ein Radio spielte „… c’est une chanson …“

Pierre schloss seine Apotheke Punkt 12 Uhr ab. Wie immer benötigte er dazu viel Zeit. Er kehrte mehrfach zurück, rüttelte an der Türe, schloss sie dann ein erneutes Mal auf, schaute hinein, kontrollierte die Fenster, um dann nochmals mit dem Schließen zu beginnen. Nicht selten führte er diese Prozeduren mehrere Male hintereinander aus. Danach schritt er mit bedächtigem Gang, kaum nach links und rechts blickend in den kleinen Park am Gemeindehaus, aß immer auf derselben Bank unter der großen Linde sein zuvor gekauftes frisches Baguette, strich den Frischkäse mit parallel geführten Linien darauf, um es dann beim Lesen eines Buches zu verspeisen. Heute hatte er eine Nachricht von Leonore erhalten. Er nahm den Weg zum Bistro.

Leonore, bei diesem Gedanken öffnete sich sein Herz. Leonore, dunkelhaarig von zarter Statur, ebene Gesichtszüge und dieser Blick mit den stechenden Augen. Vor drei Jahren in Paris war er in diesen Blick verfallen. Er, der sonst die Augen sofort senkte, wenn eine Frau ihn anschaute, eine andere Straßenseite nahm, wenn ihm eine entgegen kam. Er, der nach dem Tod seiner Mutter, die er aufopferungsvoll über viele Jahre gepflegt hatte, bei Frauen regelrecht Ekel verspürt.

Doch bei Leonore war das anders. „Ziehe dich zurück!“, hatte seine innere Stimme ihn gemahnt. „Sie wird dich unglücklich machen.“ Bisher hatte er immer auf diese Stimme gehört, die Unglück, Leid und Schmerz von ihm fern gehalten hatte; denn seine Seele war zart und rasch verwundbar, musste geschützt und beschützt werden.

Vor drei Jahren in Paris hatte Leonore auf einem Pharmaziekongress einen Vortrag gehalten. Sie war eine jener Frauen, die in der Männerwelt zu Hause waren, sich angepasst und der Karriere ihr Leben verschrieben hatten. Pierre hing während des Vortrags an ihren Lippen und Leonore war auch dann noch für ihn anwesend, als sie schon längst in einem Männertross abgereist war.

Wie ein magischer Sog zog es ihn an und schon am selben Abend fühlte er sich in ihrem Hotelzimmer. Er spürte, wie sich ihre Seelen vereinten und ineinander überflossen. Seitdem erschien sie jeden Donnerstag in seinem Haus. An diesen Abenden lebte er. Sie waren sein Lebensmittelpunkt geworden. Von nun an hatte das Leben einen Sinn. An diesen Donnerstagen wurde aus ihm ein anderer Mensch. Nachdem er die Apotheke an diesen Tagen abgeschlossen hatte, ging er in den kleinen Supermarkt, kaufte frischen Fisch, holte Wein aus dem Keller und deckte festlich den Tisch. Überall brannten Kerzen, als sie dann erschien. Meist trug sie ein weißes Kleid aus fließendem Satin, das bei jedem Schritt um ihren Körper wehte. Ihr langes schwarzes Haar fiel in vielen kleinen Löckchen um ihre Schultern. Sie kam und nahm den gesamten Raum ein. Er war ihr verfallen, ihrem Duft, ihrem Wesen. Nach dem Essen lagen sie viele Stunden stumm nebeneinander auf seinem Bett, sich an den Händen haltend. Er war viel zu sehr von ihr gefangen, als dass er hätte reden können. Es brauchte keiner Worte. Ihre Körper und ihre Seelen wurden eins. Spät in der Nacht verschwand sie, um eine Woche später wiederzukehren.

Im Dorf war er als der ein wenig seltsame verschrobene Einzelgänger bekannt, der gemieden wurde. In seiner Apotheke war er Fachmann und man schätze ihn wegen seines Wissens.

Seitdem Leonore für ihn existierte, lebte Pierre in seinem Glück und noch ein Stück weiter der Welt entrückt als vorher.

Doch seit einigen Wochen hatte sich etwas verändert. Er spürte es. Er spürte die Angst in sich, dieses Aufgeregt-Sein, diese Spannung, die seine Brust einengte. Leonore wirkte kühler und schien sich von ihm zu entfernen. Wenn er nach ihrer Hand griff, spürte er die Kälte, die von ihr auszugehen schien. Er lag neben ihr, doch er konnte sie kaum noch sehen. Ihre Umrisse verschwanden. Die Konturen schienen eins zu werden mit der Enge, die ihn zu erdrücken drohte. Es war gerade so, als löse sie sich vor seinen Augen in Luft auf, bis er sie eines Tages gar nicht mehr sehen konnte und zu der Überzeugung kam, dass sie ihn, so wie es auch seine Mutter getan, lange bevor er sie krank und pflegebedürftig in sein Haus nahm, verlassen hatte.

Heute Morgen dann, die im Flur liegende Visitenkarte des Bistros konnte für ihn nur ein Zeichen von Leonore sein. Sie hatte ihm eine Einladung geschickt. Die Möglichkeit, dass sie zufällig auf dem Boden hätte liegen können, war für seine Gedankenwelt nicht vorstellbar. Dieses Zeichen, er war sich dessen sofort bewusst, bedeutete das Ende.

Seine Gedanken kreisten um Paris, um die vielen Abende des Glücks. Sie kreisten schneller und schneller, wurden zu einem Sog, an dessem Ende die Angst, wieder verlassen zu werden, lauerte. Alles um ihn herum lärmte. In diesen Lärm drang eine Stimme „c’est une chanson, qui nous ressemble …“ Für einen kurzen Moment schien es ihm die Orientierung zu nehmen. Er schaute sich angstvoll um und erblickte vor sich den Eingang des Bistros, die Theke mit der Frau. Er ging an zwei Tischen auf dem Gehweg vorbei und trat ein. Er setzte sich an den Tresen. Alles löste sich um ihn herum auf. Nur Leonore blieb in seinen Gedanken, seinen Blicken. Alles wurde zu Leonore. Sie schien ihn etwas zu fragen. Doch ihre Worte klangen wie ein breit gezogenes Lachen, verzerrt auf einer falschen Tonspur abgespielt, an sein Ohr. Ihr lächelnder Mund entstellte sich zu einer fürchterlichen Grimasse. Sie schien zu singen, zu lachen und zu gestikulieren. Es war ein unheimliches Stimmengewirr, das an sein Ohr drang. Er hielt sich die Ohren zu und schrie ihr seinen Hass ins Gesicht. Sie lachte. Sie lachte ihn aus. Erst als seine Hände über die Theke hinweg ihren Hals umfassten und sich immer enger zusammen drückten, entschwand dieses Lachen aus ihrem Gesicht und nichts als das blanke Entsetzen blickte aus ihren Augen. Es sollte ihr so gehen, wie ihm. Sie sollte seinen Schmerz erleben. Sie spürte ihn, dessen war er sich sicher. Er ließ erst los, als ihr lebloser Kopf nach vorn fiel, das Magazin aus ihrer Hand und ihre Arme schlaff über dem Tresen lagen. Jetzt konnte er nicht wieder verlassen werden Er empfand eine erleichternde Stille. „… Mails la vie separe seux quisaiment tout.“

Entspannt und ruhig verließ Pierre das Bistro. Nichts hatte sich verändert. Die drückende Wärme vibrierte noch immer in der Luft. Es roch nach Vergangenheit. Er ging zurück und schloss die Apotheke auf. Es kamen kaum Menschen an diesem Nachmittag, hatte sich doch in ihrem Dorf ein grauenvolles Verbrechen ereignet.

Erst einige Tage später erschien die Polizei in der Tür der Apotheke. Als man ihn abführte, wusste er nicht, was man von ihm wollte. Er kannte keine Claudette.

 

Allein in Rom

Sie hatten nicht geheiratet. Das Ja-Wort für die Ewigkeit, wie sie es nannten, gaben sie sich in einem kleinen Café in Salzburg und waren anschließend nach Rom geflogen. Tim kannte Rom bereits und er kannte auch Helens Geschmack. Er war sich sicher, dass ihr Rom gefiel.

In Rom angekommen, standen sie, Arm in Arm, vor der Ewigkeit einer Stadt und ihrer Liebe, denn erstmals im Leben fühlte Helen, dass Tim ihr Seelenpartner war. Zum ersten Mal im Leben konnte sie sagen: Mit dir möchte ich alt werden. Sie hatten sich gefunden, nachdem das Leben beiden Blessuren zugefügt hatte, und zu einem Zeitpunkt, an dem beide wussten, wonach sie im Leben suchten. Nichts in ihrer Beziehung geschah geplant. Sie verstanden es zu leben und zu arbeiten, allein oder gemeinsam die Zeit zu verbringen, ohne den Zwang zu haben, den anderen glücklich machen zu müssen. Sie waren es, jeder für sich und beide zusammen.

Nachdem sie sich im Hotelzimmer frisch gemacht hatten und Helen sich ein Abendkleid überstreifte, brachen beide auf, um ihre erste Nacht in Rom zu genießen. Bei jedem Schritt war es Helen, als würde sie in eine andere Zeit eintauchen. Bei jedem Schritt hatte sie das Gefühl, diesen Ort zu kennen und zu Hause angekommen zu sein. Gegen Mitternacht fielen sie ins Bett, müde vom Wein, den Gefühlen und ihrer endlosen Liebe.

Am Morgen hörte Helen im Halbschlaf Tim im Bad. Es war erst 8 Uhr und Helen viel zu müde, um sich Gedanken zu machen, weshalb er so zeitig schon auf den Beinen war. Als er ihr einen Kuss auf die Stirn drückte, versuchte sie ihn ins Bett zu ziehen. Da fiel auch schon die Tür ins Schloss.

Sie musste wohl wieder eingeschlafen sein, denn als sie erneut die Augen öffnete, strahlte ihr die Sonne direkt ins Gesicht. „Tim?“, rief sie, als sie das leere Bett neben sich sah. Er schien nicht da zu sein. Sie zog sich an und ging nach unten in den Hotelhof zum Frühstücken. Sicher saß er da bereits mit einer Zeitung in der Hand, auf das gemeinsame Frühstück wartend. Doch auch hier keine Spur von ihm. 11 Uhr war es bereits. Er joggte nie länger als 30 Minuten am Morgen. Vielleicht hatte er unterwegs einen interessanten Laden gesehen und war aufgehalten worden? Tim richtete sich nie nach der Zeit und nahm sich die Zeit, die er benötigte, ganz egal ob Helen auf ihn wartete oder nicht. Im Laufe der Jahre hatte sie sich daran gewöhnt und war dazu übergegangen, es ihm gleich zu tun. Das reduzierte den Stress.

Deshalb suchte sich Helen, ohne sich weiter darüber Gedanken zu machen, einen Tisch in der Herbstsonne und begann zu frühstücken, etwas Zeitung zu lesen und die Sonne zu genießen. Als sie das nächste Mal auf die Uhr schaute, war es 13 Uhr.

Ihr Magen verkrampfte sich.

Sie ging ins Zimmer, um zu schauen, ob er ihr irgendeine Nachricht auf dem Handy hinterlassen hatte. Nichts. Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Auch an der Rezeption hatte keiner eine Nachricht für sie hinterlassen. Schulterzucken und fragende Blicke, mehr war nicht zu erfahren. „Das kommt vor, mal eben Zigaretten holen und weg sind sie“, hörte sie neben sich eine amerikanische Touristin tönen, die ihr dabei scherzend auf die Schulter klopfte. Helen spürte Panik aufkommen. Sie zog sich im Zimmer etwas über und verließ das Hotel. Zunächst irrte sie planlos durch die Straßenzüge von Travestere, gelangte zum Tiber und verfolgte entlang des Flusses die Laufstrecke. Genau hier hatten sie im Schein der Laternen gestanden und auf den Petersdom geschaut. Sie machte sich Vorwürfe, nicht mit ihm aufgestanden zu sein. Sie hätte die Zeit zurückdrehen wollen. Gleichzeitig spürte sie Ärger. Er hatte sie einfach so allein gelassen. Am Ufer entlang gehend, achtete sie auf jede Kleinigkeit, auf jeden Läufer, der ihr entgegenkam oder der sie überholte. Sie schaute auf jede Bank in der Hoffnung, irgendein Zeichen zu erkennen. Nichts, überhaupt nichts. Vielleicht war er in ein Krankenhaus eingeliefert worden? Im Gegensatz zu Tim sprach sie kein Wort italienisch. Sie musste ein Polizeirevier aufsuchen. Auf dem Weg in die Innenstadt hielt sie ein Taxi an. Zum Glück sprach der Fahrer englisch. Sie machte wohl einen recht konfusen Eindruck, so dass er sie fragte, ob man ihr etwas gestohlen habe „Nein“, sagte sie, nun schon den Tränen nah, „mein Mann ist verschwunden.“ Er schaute fragend in den Rückspiegel: „Seit wann?“

„Seit heute Morgen“, sagte Helen. Und nun erzählte sie ihm die ganze Geschichte.

„Ich fahre sie in die Viale Romania 45, das Generalkommando der Carabinieri. Dort können Sie fragen, ob ihn die Krankenhäuser im Umkreis aufgenommen haben“, beruhigte er sie und fuhr los. Nach einer kaum enden wollenden Fahrt durch die verstopften Straßen Roms, für die Helen keinen Blick hatte, hielt er vor einem großen hässlichen Gebäude, dass mit der italienischen Landesflagge und der Europafahne geschmückt war. Mit einer Mischung aus Angst, Hoffnung und Hoffnungslosigkeit betrat sie einen großen Innensaal, fragte sich durch, wurde umhergeschickt, bis sie in einem Zimmer ankam, in dem einige heruntergekommene Gestalten auf einer langen Bank an der Wand saßen, während ein Beamter in Uniform Daten aufnahm.

Alle redeten wild durcheinander und keiner nahm Notiz von ihr, als sie den Raum betrat. Nach einer halben Stunde schien das Problem der Anwesenden mit vielen Worten gelöst zu sein und alle verließen den Raum. Nun winkte sie der Beamte heran. Ihre Hände waren kalt. Während er italienisch auf sie einredete, hatte sie das Gefühl als schnüre sich ihre Kehle zu. Doch plötzlich schrie sie ihn an: „Holen Sie einen Kollegen, der englisch sprechen kann. Haben Sie mich verstanden! Mein Mann ist weg!“, setzte sie nun mit ersterbender Stimme nach und brach in Tränen aus. Der Beamte schaute zunächst überrascht; dann telefonierte er. Nachdem er aufgelegt hatte, sagte er scheinbar einige beruhigend anmutende italienische Worte und deutete ihr, auf einem Stuhl Platz zu nehmen. Er reichte ihr ein Formular zur Erfassung der Personalien. Was in aller Welt konnte nur passiert sein? Sie hatte keine Antwort auf diese Frage. Leere machte sich in ihr breit. Sie hatte das Gefühl, die Zeit sei stehen geblieben. Irgendwann öffnete sich die Tür und ein Mann in Zivil erschien. Er kam geradewegs auf sie zu und stellte sich als Antonio Saluari vor. Seinen Titel verstand sie nicht. Als er sie fragte was passiert sei, erzählte sie es ihm. Der andere Beamte setzte sich dazu und schrieb das auf, was der Zivilbeamte ihm scheinbar simultan übersetzte. Danach schauten beide längere Zeit auf einen PC. Als sie fertig waren, sagte er zu ihr, dass es öfters vorkomme, dass Menschen eine Auszeit brauchen und gerade im Urlaub damit beginnen. Es sei zumindest sicher, dass Tim in kein Krankenhaus eingeliefert worden sei. Vielleicht sei er auch schon wieder im Hotelzimmer. Sie solle zurückgehen. Falls er in drei Tagen nicht wieder zurück sei, könne sie wiederkommen. Sie stand auf und ging aus dem Zimmer, grußlos und ohne sich auch nur einmal noch umzudrehen. Als sie die Tür des Gebäudes öffnete, schlug ihr eine heiße stickige Luft entgegen. Ihr wurde schwindelig bei all dem Lärm der an ihr vorbeirasenden Autos und sie spürte, wie sich Kopfschmerzen breit machten und sie lahmzulegen drohten. Sie lehnte sich an die kühle Hauswand und dachte an Tim, an den vergangenen Abend oder waren es Jahre? Ihr Blick schweifte in die Ferne.

Sie rief kein Taxi, weil sie Zeit zum Nachdenken brauchte. Wo sollte sie anfangen zu suchen? Was sollte sie jetzt unternehmen? War ihm etwas zugestoßen? Nach stundenlangen Straßenzügen zurück am Tiber und noch einer Stunde Fußmarsch entlang des Flusses, setzte sie sich auf eine Bank und schaute auf die Engelsburg. Wie hatte sie sich darauf gefreut, all diese Dinge hier mit Tim zu besuchen. Nun stand sie vor ihr. Die Statuen entlang der Straße schauten ihr entgegen, so als wollten sie die Engel verhöhnen. Wie in Trance, lief sie an der Engelsburg vorüber zum Petersdom. Im Dom ließ sie sich von den Menschen nach vorn zum Hauptaltar treiben. Gleich nebenan blieb sie vor der heiligen Helena stehen. Sie schaute Helen an, als wolle sie ihr etwas sagen. Ihr etwas überreichen? Wie gebannt stand sie vor der Statue, die ihr die Hand entgegenhielt. Als sie einen Schritt auf sie zu machen wollte, streifte sie ein Mönch in braunem Gewand. Er schaute sie vertraut an, legte ihr die Hand auf die Schulter und sagte: „Er ist zu Hause. Es ist alles gut, gehen sie ihren Weg. Gott mit Ihnen.“ Ihr Herz begann zu rasen. Die Beine wurden weich und kurz bevor sie die schwarze Wolke eingeholt hatte, die ihr das Bewusstsein zu nehmen drohte, erreichte sie eine Bank vor dem Altar. Sie sank auf das harte Holt und wagte keinen Blick zurück. Mit erstarrtem Körper versuchte sie nur noch nach vorn zu blicken. Plötzlich spürte sie eine unsanfte Berührung an ihrem Arm. Wie aus einem Traum entrissen, schaute sie zur Seite. Eine ältere Dame blickte sie mürrisch an und zeigte auf ihre Tasche. Jetzt erst bemerkte Helen das Klingeln und Vibrieren ihres Handys. Hastig holte sie es heraus. Ihr Herz schien ihr aus dem Kopf springen zu wollen. Doch als sie auf das Display schaute, stellte sie enttäuscht fest, dass es Adrian war, ihr Sohn. Sie flüsterte „Hallo, Adrian?“

„Mutti, wie geht es dir?“, fragte er sie und klang besorgt. Sie unterbrach ihn, „Adrian, es ist alles in Ordnung. Ich kann jetzt nicht sprechen. Ich rufe dich später wieder an.“ Das war typisch für ihren Sohn. Er spürte immer sofort, wenn es ihr nicht gut ging. Sie durfte ihn jetzt nicht beunruhigen und was überhaupt sollte sie ihm sagen; dass Tim einfach wie vom Erdboden verschluckt, mitten im Urlaub, einfach weg war? Je weiter die Zeit dahineilte, desto seltsamer kam ihr das Ganze vor.

Was geschah mit ihr? Mit kalten Händen und Frösteln am ganzen Körper lief sie zurück. Den ganzen Weg über fühlte sie sich beobachtet, als sei sie der Mittelpunkt einer fremden und bedrohlichen Aufmerksamkeit.

Ihr Magen knurrte und die Kraft schien aus den Beinen entweichen zu wollen. Sie fand ein kleines Restaurant. Alles schien ihr so vertraut. Wenn Tim jetzt da gewesen wäre, hätte er in einwandfreiem Italienisch bestellt. Sie verlangte auf Englisch etwas zu trinken und zu essen und lächelte müde zurück, als der Kellner ein paar höfliche Komplimente zu ihrem Kleid machte. In ihr keimte etwas Hoffnung, doch noch Tim im Hotel wiederzufinden. So als ob nichts geschehen wäre, würde er vielleicht auf dem Bett liegen und Fernsehen schauen. Es dämmerte bereits. Das Restaurant füllte sich. Sie bekam kaum etwas von ihrer Umgebung mit, aß wenig und fühlte sich von innerer Unruhe getrieben, nachzuschauen, ob Tim nicht doch auf sie wartete. Nachdem sie bezahlt hatte und losgelaufen war, fiel ihr nicht einmal auf, dass sie immer schneller lief und die letzten Meter bis zum Hotel rannte. Sie war so aufgeregt, dass sie, angekommen an der Rezeption, ihre Zimmernummer vergessen hatte. Sie gab Tims Namen an, um ihren Schlüssel zu bekommen. Doch die Dame schüttelte nur mit dem Kopf, als sie in das Buch schaute „Es kann nicht sein. Wir sind gestern Abend hier angekommen“, stieß Helena panisch hervor. „Ich kann keinen Tim Kaller finden. Vielleicht haben sie unter ihrem Namen eingecheckt?“, fragte sie zurück. Helen schüttelte den Kopf. Nein das konnte nicht sein, reichte aber ihren Pass über den Tresen. „Na bitte“, die Empfangsdame lächelte, ging zur Wand holte einen Schlüssel hervor. „Seniora Kaller, hier bitte, ihr Schlüssel.“ Helen nahm den Schlüssel fassungslos entgegen. Tim war doch zur Rezeption gegangen und hatte sie angewiesen, mit den Koffern inzwischen im Foyer zu warten. Im Hinausgehen sah Helena die Empfangsdame mit dem Nachtportier tuscheln. Daten verschwammen in ihrem Gedächtnis. Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren.

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