Buch lesen: «Kein Himmel ohne dich»

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Kerstin Teschnigg

Kein Himmel ohne dich

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2 – Der Tag davor

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Impressum neobooks

Kapitel 1

Langsam erwache ich aus einem Zustand den ich weder kenne, noch zuordnen kann. Doch eines weiß ich ziemlich genau, auch wenn meine Gedanken alles andere als klar sind, der Zustand in dem ich mich befinde ich keinesfalls normal. Mir tut alles weh und mein Herz pumpt ungewohnt unregelmäßig in meiner Brust, fast als wäre es mit der Situation überfordert, was nicht überraschend ist. Es versucht das Durcheinander in meinem Körper in irgendeinen geregelten Ablauf zu bringen, auch wenn es nicht zu gelingen scheint. Ich lasse meine Augen noch zu und versuche ruhig zu atmen. Mein Kopf und mein Gehirn fühlen sich dumpf an, so als wäre alles in dicke Watte gepackt, es ist unmöglich zu denken. Der Boden unter mir ist kalt - mir ist kalt. Ich öffne vorsichtig meine Augen, irgendwann muss ich es ja tun, und blicke auf meine Hände. Meine Fingerknöchel sind aufgeschlagen und voller Blut, gleich wie meine Knie und Schienbeine. Mein rechter Ellenbogen tut auch weh. Vorsichtig greife ich unter meine Nase die auch blutig ist. Der Herzschlag in meiner Brust beginnt stechend zu brennen, ich schnappe hysterisch nach Luft. Scheiße, Scheiße, Scheiße. Was zur Hölle… Ich habe keine Ahnung wo ich bin, ich weiß auch nicht wie ich auf die Treppe dieser scheißdunklen abgefuckten Gasse gekommen bin. Einen Moment lang versuche ich mich zu beruhigen, da ich befürchte sonst eine Panik Attacke zu bekommen. Ich erinnere mich wage, dass ich dieses wahnsinnige Herzklopfen heute Nacht schon hatte, aber mehr will mein Gehirn mir nicht verraten. Wie spät ist es überhaupt? Auf jeden Fall ist es schon hell, aber die Straßen scheinen noch ruhig. Wieder sehe ich an meinem Körper hinab. Ich kann mich einfach nicht erinnern was passiert ist. Keine Ahnung, auch wenn ich es noch so sehr versuche. Tränen lösen sich aus meinen Augen die ich immer noch schwer offenhalten kann. Meine Tasche? Wo ist meine Tasche? Ich greife um mich und finde sie schlussendlich. Hektisch ziehe ich mein Handy heraus. Darauf sind unzählige Anrufe und Nachrichten. Von Tyler. Ich muss kurz meine Augen zu machen, denn die Tränen laufen immer unkontrollierter meine Wangen hinunter und tropfen auf meine blutigen Hände, wo sie sich zu einer rotwässrigen Flüssigkeit gemischt ihren Weg über meinen Körper suchen. Meine Lippen aufeinanderpressend versuche ich mich zu beruhigen. Daran erinnere ich mich. Er ist ein Arschloch. Ich hasse ihn. Nein ich liebe ihn. Nein. Man kann so einen Menschen nicht lieben. Er hat mich fallen gelassen. Mich verraten. Uns verraten. So etwas macht man nicht. Mit zittrigen Fingern tippe ich Amys Kontakt. Sie ist die Einzige die mir helfen kann. Es klingelt lange.

„Holly?“, fragt sie verschlafen auf der anderen Seite.

Ich atme schwerfällig durch.

„Hilf mir bitte…“, murmle ich verzweifelt. „Ich kann nicht… Ich weiß nicht…“ stammle ich weiter bis sie mich unterbricht.

„Scheiße Holly, was ist los? Wo bist du denn?“

„Ich weiß es nicht.“

Wieder beginne ich zu weinen und kann darum kaum sprechen.

„Holly! Was heißt du weißt es nicht? Ich kann dir nicht helfen, wenn du dich nicht kurz beruhigst“, sagt sie mit ernstem Ton.

Ich atme ein und aus und versuche aufzustehen, was gar nicht so einfach ist, denn jeder Knochen tut mir weh. Doch am schlimmsten sind die Kopfschmerzen.

„Ich bin in einer Gasse…“ Ich gehe ein paar Schritte.

„Ist da vielleicht eine Straßenbezeichnung oder so? Schau mal auf die Hauswände“, weist sie mich an.

Plötzlich rauschen Erinnerungsfetzen durch mein Gehirn. Es sticht fürchterlich und pfeift schrill in meinem Kopf. Mir wird schlecht, ich unterdrücke den Würgereflex.

„Holly!“, schreit Amy ins Telefon, was das Stechen noch verstärkt.

„Ich…Ich bin in Dover glaub ich. Ja. In Dover.“

„Scheiße, was machst du denn dort? Was ist überhaupt passiert? Wo ist denn Tyler? Hast du ihn schon angerufen?“

„Nein!“, schreie ich lauter als nötig. „Und ich rufe ihn auch nicht an, er ist doch der Grund für das alles hier…“ Meine Stimme wird wieder leiser.

„Was? Ich verstehe kein Wort. Bleib wo du bist Holly. Ich bin gleich bei dir. Dreißig Minuten. Schaffst du das?“

„Ja“, antworte ich kleinlaut.

„Warte auf meinen Anruf, ich melde mich wenn ich dort bin“, sagt sie noch.

Ich bin einfach nur unglaublich erleichtert, dass sie gleich hier sein wird. Kraftlos lehne ich mich an die Hauswand und öffne meine Tasche. Mein Blick fällt auf die bunten Tabletten in den Blisterpackungen. Ich greife danach. Sie würden mir helfen. Gegen die Kopfschmerzen. Vielleicht auch gegen die anderen Verletzungen und sie würden mich runterholen, mich beruhigen.

„Nein!“, sage ich für mich selbst und kralle meine Finger um die Tabletten was ein knisterndes Geräusch zur Folge hat. „Nein…Nein…Nein…“

Wieder kann ich die Tränen nicht kontrollieren. Ich habe das Gefühl es dauert ewig bis sie kommt. Zum Glück habe ich irgendwie den Weg aus dieser Gasse hinaus in eine befahrene Straße geschafft, wo sie mich aufliest und sichtlich geschockt über meinen Zustand ist.

Etwas später sitze ich im Untersuchungszimmer der örtlichen Klinik und nippe an meiner Wasserflasche. Ich wollte nicht her, aber Amy hat darauf bestanden, darum habe ich nicht widersprochen. Sie tut so viel für mich. Mehr als man erwarten kann. Wie blöd bin ich eigentlich? Meine Gedanken sind inzwischen klar, auch wenn ich mich kaum daran erinnere was passiert ist. Ich schäme mich dafür. Es fällt mir schwer der Ärztin in die Augen zu sehen. Amy streicht über meine Hand. Das beruhigt mich ein wenig. Was wenn ich sie nicht hätte? Sie ist so eine wunderbare Freundin. Und ich? Es ekelt mich vor mir selbst.

„Sie haben Glück gehabt Mrs. Barnes“, lächelt mich die junge Ärztin an. Auf ihrem Namensschild steht „Dr. Jones.“

Sie ist jung und hübsch. Was wird sie von mir denken? Ich senke meinen Blick, meine Hände zittern ein bisschen.

„Es ist nichts gebrochen, die Schürfwunden werden in ein paar Tagen abheilen, gleich wie die Blutergüsse.“

Ich nicke wortlos. Was soll ich auch sagen. Ich schäme mich fürchterlich.

„Wir haben Reste von Schlaf-, Schmerz- und vermutlich Aufputschmitteln in ihrem Blut gefunden. Ich denke Tabletten und eine Lifestyle Droge, natürlich auch reichlich Alkohol. Keine gute Kombination. Ich vermute das ist der Grund für Ihr Blackout.“

Ich spüre wie mein Gesicht heiß wird. Kurz erinnere ich mich an einen jungen Typen. Er hat mich geküsst und mir dann eine kleine Tablette mit seiner Zunge in meinen Mund geschoben.

„Was hast du denn?“, fragt mich Amy leise, weil ich nervös, fast hysterisch über den Erinnerungsfetzen herum zapple.

„Ich bin nicht vergewaltig worden, oder hatte ich Geschlechtsverkehr?“, frage ich beschämt nach. Ich bringe die Worte fast nicht über meine Lippen. Vorhin wurde vorsichtshalber auch eine gynäkologische Untersuchung vorgenommen. Ich war mir zwar gerade noch sicher, dass nichts in dieser Art passiert wäre, aber jetzt habe ich doch Angst. Keine Ahnung was mit dem Typen noch war.

„Nein. Keine Anzeichen dafür, auch nicht für Geschlechtsverkehr“, entgegnet sie beruhigend.

Ein wenig erleichtert atme ich aus.

„Sie bekommen jetzt noch eine Infusion gegen die Schmerzen, dann können Sie nach Hause gehen.“

Ich nicke, Amy drückt meine Hand.

„Ist mein Herz ok? Ich habe das Gefühl es platzt gleich aus meiner Brust.“

„Ja, es ist soweit in Ordnung. Wie gesagt, Aufputsch- und Schlafmittel vertragen sich nicht sonderlich gut in Kombination, dass ihr Herz da überfordert ist wundert mich nicht.“

Wieder nicke ich mit beschämtem Blick.

Nachdem Dr. Jones die Infusion angelegt hat, streicht sie noch einmal über meinen Arm.

„Ich verschreibe Ihnen keine Tabletten gegen die Schmerzen“, sagt sie und sieht mich eindringlich ein.

Wieder wird mein Gesicht heiß. Keine Ahnung was ich sagen soll, doch sie fährt auch schon fort.

„Was nehmen Sie so alles?“

Ich sehe zu Amy die kopfschüttelnd ihre Augen schließt. Auch wenn ich davon ausgehe, dass sie es schon vorher wusste, tut es mir leid sie zu enttäuschen. Ich öffne meine Tasche und lege ihr die Tabletten wortlos hin.

Dr. Jones sieht kurz auf die Packungen und seufzt leise.

„Ein schöner Cocktail. Sie müssen damit aufhören. Können Sie denn damit aufhören?“, fragt sie ernst.

Ich zucke mit den Schultern.

„Du hast es versprochen“, flüstert Amy und verlässt enttäuscht das Behandlungszimmer, was mir einen schrecklichen Stich verpasst, vor allem, weil ich ihr nicht nachlaufen kann um mich zu entschuldigen.

„Wie lange nehmen Sie denn das Zeug schon?“

„Ein paar Monate, aber ich nehme keine Drogen. Keine Ahnung was heute Nacht war und warum ich das getan habe.“

Sie nickt. Bevor sie noch etwas sagen kann, nutze ich die Gelegenheit und rede selbst.

„Ich weiß, dass ich damit aufhören muss, ich wollte es ja aber…Es ist schwer…“ Ich schließe meine Augen. „Es ist einfacher damit. Das Leben ist leichter zu ertragen. Keine Schmerzen. Keine Selbstzweifel.“

Wieder nickt sie.

„Das was da heute Nacht passiert ist, ich schäme mich so unglaublich dafür.“ Ich schüttle den Kopf. „Das passiert mir nicht noch einmal. Ganz sicher nicht. Ich werde sie nicht mehr nehmen. So die Kontrolle zu verlieren, das schockiert mich wirklich. Ich bin so nicht.“

„Ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen, dass sie das aus eigener Kraft schaffen. Ihre Einsicht ist ein guter Anfang.“ Sie zieht eine Visitenkarte aus ihrer Manteltasche. „Doch ich weiß wie schwer das ist und dass es immer einen Grund gibt um es doch nicht zu schaffen. Wenn Sie Hilfe brauchen, rufen Sie mich einfach an. Sie müssen sich dafür nicht schämen. Zögern Sie nicht um Hilfe zu bitten.“

„Danke“, sage ich und versuche dabei ein wenig zu lächeln.

Nach einer halben Stunde ist die Infusion durch. Amy ist nicht wieder hereingekommen. Ich bin froh sie im Wartebereich zu sehen, mein schlechtes Gewissen nagt an meinem sowieso schon komplett lädierten Körper. Wortlos gehe ich auf sie zu und bleibe vor ihr stehen.

„Holly…“, sagt sie kopfschüttelnd.

Doch dann nimmt sie mich in den Arm und drückt mich fest, was ich mit energischem Druck erwidere.

„Was ist denn eigentlich passiert?“, fragt sie mich und streicht meine Haare zurück. „Und was zum Teufel ist mit Tyler?“

„Ich würde jetzt einfach gerne duschen und ehrlich gesagt habe ich Hunger. Kann ich dir nachher alles erzählen?“, seufze ich. „Also das woran ich mich noch erinnere.“

Sie lächelt und greift nach meiner Hand als wir losgehen.

„Du kommst erstmal mit zu mir. Das wird schon wieder. Du kannst dich frisch machen und ich bereite uns ein Frühstück.“

„Danke Amy.“ Ich bleibe noch einmal stehen. „Es tut mir leid. So unendlich leid. Ich weiß ich habe dir versprochen…“

Sie unterbricht mich.

„Ich habe doch gesagt das wird schon wieder. Wir schaffen das.“ Sie streicht über meine Wange.

Wir schaffen das. Das wird schon wieder. Schaffe ich das? Ich muss.

Nach einer langen Dusche fühle ich mich etwas klarer und vor allem wohler, weh tut mir aber immer noch alles. Ich versuche krampfhaft zu überlegen was genau passiert ist. Amy hat mir etwas zum Anziehen hingelegt. Ich sehe mich im Spiegel an. Kein schöner Anblick. Meine Nase ist aufgeschlagen, gleich wie meine Oberlippe. Tiefe Augenringe und eine rote Schürfwunde an der Wange runden das katastropale Bild ab und das ist nur mein Gesicht. Mein Körper ist zusätzlich voll mit unzähligen Blessuren. Ich bürste meine langen dunklen Haare durch. Lufttrocknen muss heute reichen, zu mehr bin ich nicht fähig, auch wenn ich weiß, dass ich dann die Locken, die ich an mir gar nicht mag, ertragen muss. Egal. Kurz muss ich an Tyler denken. Er sagt immer mit den Locken sehe ich aus wie ein falscher Pudel. Es gefällt ihm nicht, er findet es nicht zeitgemäß und unmodern. Darum föhne ich sie eigentlich immer aus, oder glätte meine Haare, was mir nach fünf Jahren Ehe und gesamt acht Jahren Beziehung inzwischen auch besser gefällt. Mit schlurfendem Gang und gesenktem Blick gehe ich in die Küche. Acht Jahre und er schmeißt einfach alles weg, einfach so. Ich bin unendlich traurig und wütend auf ihn.

„Ich hab uns Tee gemacht und Pancakes. Mit Sirup und Früchten.“

Amy stellt mir den Teller vor die Nase und gießt den heißen Tee ein. Inzwischen ist mir wieder schlecht. Ich lächle und versuche mir das nicht anmerken zu lassen. Sie gibt sich so viel Mühe. Der Tee tut auf jeden Fall gut. Sie setzt sich neben mich.

„Ich weiß du bist müde, aber erzähl mir bitte was passiert ist Holly.“ Sanft streicht sie über meine aufgeschlagenen Fingerknöchel. „Und du solltest Tyler sagen wo du bist.“

Ich schüttle den Kopf. „Nein. Ganz sicher nicht.“

Sie seufzt und nimmt einen Schluck von ihrem Tee. Ich atme tief durch, dann beginne ich zu erzählen.

Kapitel 2 – Der Tag davor

Auch wenn ich mich heute absolut nicht wohl fühle, versuche ich mich zusammen zu reißen. Ich weiß, dass der heutige Abend für Tyler wichtig ist. Ich ziehe gerade die letzten Haarsträhnen durch das Glätteisen, als ich die Wohnungstüre zufallen höre.

„Hey Schatz! ruft Tyler quer durch den Flur. Ich höre das Scheppern des Schlüssels den er wie immer in die Schale am Garderobenkästchen wirft.

„Hey! Ich bin im Bad“, rufe ich zurück, doch da steht er schon vor mir.

Ich lächle und gebe ihm einen Kuss. Musternd sieht er mich an.

„Du bist blass.“

Ich schüttle den Kopf. „Nein, es geht mir gut.“

Ablenkend krame in einer Lade nach meinem Haaröl. Er greift nach meiner Hand.

„Sicher? Wenn du dich nicht wohl fühlst, ich gehe auch allein. Ich verstehe das.“

Ich drehe mich zu ihm. „Es geht mir gut Tyler. Ich freue mich auf den heutigen Abend. Wir waren ewig nicht mehr gemeinsam weg.“

Er nickt seufzend und löst seine Krawatte, ich habe das Gefühl er glaubt mir kein Wort. Schnell schließe ich meine Arme um ihn und drücke mich fest an ihn.

„Du hast so hart gearbeitet die letzten Monate, ich muss einfach sehen wie der Spot geworden ist. Es wird Zeit, dass ich wieder anfange zu leben.“

Er streicht durch meine Haare, dann küsst er mich und reibt seine Nasenspitze an meiner.

„Ich muss jetzt unter die Dusche, sonst kommen wir noch zu spät“, lächelt er mich an.

„Ja du hast recht“, nicke ich.

Ich gehe ins Schlafzimmer und schlüpfe in meine schönste Unterwäsche. Es soll ein toller Abend werden. Ich wünsche mir nichts mehr als endlich wieder die Nähe meines Ehemannes zu spüren. Wir haben ewig nicht mehr… Ich seufze für mich selbst. Das letzte halbe Jahr war zermürbend. Tyler hat ständig bis spät in die Nacht gearbeitet und ich eigentlich immerzu auf ihn gewartet. Dass ich die ganze Zeit zu Hause bin, macht die Angelegenheit nicht gerade einfacher. Wir hatten so oft Streit, ich will nicht mehr streiten. Er arbeitet hart für seinen Job in einer großen Werbefirma und ich kann im Moment einfach nicht wieder arbeiten. Ich schaffe es nicht. Viele Dinge belasten meine Gedanken. Doch nichts zu tun lässt meine Welt nur noch sinnloser erscheinen. Tyler kommt mit einem Handtuch um die Hüften gewickelt ins Schlafzimmer. Seine blonden Haare sind ganz nass. Am liebsten würde ich ihm jetzt einfach das Handtuch wegnehmen und über ihn herfallen, denn genau das wäre längst überfällig. Auch wenn er das früher ganz gern mochte, glaube ich, dass es heute nicht passend wäre.

„Ich habe dein Hemd gebügelt und dir den grauen Anzug rausgehängt“, sage ich und wende meinen Rücken zu ihm. „Machst du bitte den Reißverschluss zu.“

Ich ziehe meinen Bauch ein während er ihn hochzieht. Das Kleid ist das einzige, das mir noch halbwegs passt, aber auch nur deshalb, weil es mir früher zu groß war und einen relativ fließenden Schnitt hat. Außerdem trägt das dunkle blau nicht zusätzlich auf. Tyler schnappt sich sein Hemd, ich sehe mich im großen Wandspiegel an. Im vergangenen halben Jahr habe ich fast zwei Kleidergrößen zugelegt. Von 36 auf 40, ganz selten passe ich noch in Teile mit Größe 38. Als wir uns kennen lernten vor acht Jahren hatte ich sogar noch Kleidergröße 34. Es fällt mir schwer mein Spiegelbild zu akzeptieren. Im Streit hat mich Tyler auch oft genug spüren lassen, dass er es absolut nicht gut findet, wie sich meine Figur verändert hat. Er ist sportlich und trainiert, außerdem auch total diszipliniert, da passt mein fetter Arsch wohl nicht dazu. Ich drehe mich zur Seite. Genau. Fetter Arsch. Ich hasse diesen Arsch und die Schwabbelstellen an meinen Hüften. Die Oberschenkel sind auch viel zu fett. Das einzig Positive an der Sache ist, dass meine Oberweite etwas üppiger geworden ist, was ich ziemlich gut finde. Endlich habe ich einen ordentlichen Busen. Ich schüttle den Kopf. Dafür ist alles andere komplett formlos. Seufzend ziehe ich meinen Bauch ein.

„Holly…Was machst du denn?“ Tyler zeigt genervt auf seine Uhr und schnappt sich seine Krawatte.

„Ich bin gleich soweit“, entgegne ich und hüpfe noch einmal ins Bad um mich gesellschaftstauglich herzurichten. Ich bin wirklich blass und brauche etwas Farbe. Eigentlich bräuchte ich viel Farbe, aber ich mag das nicht, ich fühle mich dann so angeschmiert. Am Gang greife ich nach meiner kleinen Tasche und packe noch mein Lipgloss ein. Mein Blick fällt auf die Tabletten, die ich immer für Notfälle in jeder Tasche habe. Notfälle. Es gibt keine Notfälle mehr, denn in Wahrheit ist mittlerweile alles ein Notfall. Kurz überlege ich, doch dann schließe ich die Tasche und schlüpfe schnell in meine Pumps. Heute keine Tabletten. Ich brauche sie nicht. Das habe ich mir morgens vorgenommen und bis jetzt durchgezogen. Mir tut nichts weh, ich fühle mich gut und ich will einfach nur, dass es ein schöner Abend mit meinem Mann wird.

„Gut siehst du aus“, lächle ich ihn an und rücke seinen Krawattenknoten zurecht.

„Du auch Süße“, erwidert er mein Lächeln. „Können wir?“

Ich nicke zufrieden.

Ich nippe an meinem Wasser und sehe mich unauffällig um. Das erste Mal seit Monaten bin ich unter so vielen Menschen. Ich bin nervös und versuche nicht zu zittern. Ohne Tabletten ist also doch nicht so einfach, aber ich ziehe das durch. Die vielen Menschen die sich durch den Raum drängen, machen es mir nicht gerade leichter ruhig zu bleiben. Eine Kollegin von Tyler geht an mir vorbei und lächelt mich gekünstelt an. Ich lächle ebenso gekünstelt zurück. Tyler spricht mit einem Kollegen und sieht hin und wieder zu mir. Ich bin echt stolz auf ihn und total neugierig wie der Spot für eine große Outdoorfirma geworden ist. Wenn alles gut läuft, kann er mit einer Beförderung rechnen. Auch wenn ich das toll finde, weiß ich, dass er dann noch weniger Zeit für mich haben wird.

„Alles gut?“, fragt er mich als er auf mich zukommt.

Ich nicke bestätigend. „Ja sicher.“

„Es geht gleich los, nimm da drüben Platz, da siehst du alles gut.“

Ich nicke zustimmend.

„Und drück mir die Daumen“, fügt er noch hinzu.

Schnell greife ich noch nach seiner Hand. „Ich weiß, dass alles gut geht.“

Er nickt und zwinkert mir zu, dann geht er los Richtung Bühne. Ich gehe zum Platz den er für mich vorgesehen hat. Mittlerweile bin ich auch ordentlich nervös. Es dauert noch ein bisschen, dann geht es los. Als er zu sprechen beginnt, bekomme ich vor Aufregung kaum Luft. Er macht das so gut. Ich könnte das nie. Dann läuft der Spot an. Ich bin begeistert. Er ist noch besser geworden, als ich dachte. So viel Abenteuer, Spannung in perfekter Harmonie mit Landschaft und Emotionen. Nicht nur ich, sondern auch sein Chef und was noch wichtiger ist, seine Auftraggeber, scheinen außerordentlich zufrieden zu sein. Ich kann förmlich spüren wie all die Last und Anspannung der vergangenen Wochen von ihm abfällt. Das lässt auch mich ruhiger werden, wenn die Werbestrategie nicht aufgegangen wäre, hätte das bestimmt keine Gute Laune gegeben. Nach der Präsentation gibt es noch ein Buffet bei dem ich mich bewusst zurückhalte. Womöglich springt mir sonst noch der Reißverschluss vom Kleid und ich möchte keine Peinlichkeit herausfordern. Wie befürchtet stehe ich die meiste Zeit allein herum. Ich habe mich nie mit den Kollegen meines Mannes auseinandergesetzt, darum kenne ich auch kaum jemanden. Tyler ist von Gratulanten umringt und muss scheinbar unzählige Fragen beantworten. Ich gönne ihm den Erfolg. Nach einiger Zeit stellt sich doch eine von Tylers Assistentinnen neben mich. Keine Ahnung was ich mit ihr reden soll, zum Glück beginnt sie ein Gespräch.

„Echt toll geworden der Spot, nicht wahr?“, lächelt sie mich etwas verkrampft an, so als müsste sie Smalltalk mit mir führen.

„Ja. Wirklich sensationell“, antworte ich und überlege was ich mit ihr reden könnte. Ich glaube sie heißt Samantha. „Tyler hat total hart dafür gearbeitet, ich bin echt stolz auf ihn“, füge ich noch hinzu.

Sie nickt und nippt an ihrem Glas. „Ja das stimmt.“

„Hast du auch an dem Projekt mitgearbeitet?“

„Nein, Carolin war in seinem Team.“

Ich sehe zu Tyler. Carolin. Genau. Er hat mir erzählt, dass sie die einzige Frau im Entwicklungsteam war. Sie steht neben ihm und genießt sichtlich den Erfolg. Sie hat den Arsch den ich gerne hätte. Blond. Langbeinig und ziemlich hübsch würde ich sagen.

„Geht es dir gesundheitlich wieder besser?“, reißt mich Samantha aus meinen Gedanken.

„Ähm…Ja…Besser“, stammle ich überrascht über ihre Frage. Ich dachte nicht, dass Tyler das hier jemandem erzählt hat.

„Burnout, nicht wahr?“, fragt sie vorsichtig nach, was ihr etwas unangenehm zu sein scheint.

Mir ist es allerdings noch unangenehmer. Noch nie hat mich jemand so direkt darauf angesprochen. Ich nicke zögerlich, obwohl ich mir gar nicht sicher bin ob es wirklich ein Burnout war oder ist. Nervenzusammenbruch würde es wohl eher beschreiben. Ja, ein Nervenzusammenbruch der mich dann in ein Burnout getrieben hat.

„Arbeitest du nicht mehr als Krankenschwester?“

„Nein. Ich habe auch schon vorher nicht mehr im Krankenhaus gearbeitet, sondern war in einem privaten Haushalt tätig.“

Mehr kann und will ich dazu nicht sagen. Weil ich nicht darüber sprechen will. Weil es mich zermürbt daran zu denken. Weil ich von einer Sekunde auf die andere spüre wie sich eine schmerzliche Traurigkeit in mir aufbaut. Nervös zupfe ich an meinem Kleid.

„Ach ja. Tyler hat einmal erwähnt, dass du dich um ein krankes Kind gekümmert hast.“

Scheiße, ich will nicht darüber reden. Ich atme ein und halte kurz die Luft an. Dann sehe ich mich um und suche in der Menge Tyler. Wo ist er denn? Ich halte diese Fragerei nicht aus, außerdem will ich ihn endlich in den Arm nehmen und ihm gratulieren.

„Ja genau“, sage ich schnell und lächle sie vermutlich ziemlich gekünstelt an. „Ich muss mal sehen wo Tyler ist, ich habe ihm noch gar nicht gratuliert.“

„Natürlich“, meint sie als ich ihr schon den Rücken zugewandt habe.

Ich schiebe mich durch die Menschenmassen und fühle mich von Minute zu Minute unbehaglicher. Tyler ist wie vom Erdboden verschluckt. Einer seiner Kollegen aus dem Team kommt an mir vorbei.

„Entschuldige…Weißt du wo Tyler ist?“, frage ich ihn schnell.

Er sieht sich kurz um, als ihm etwas einzufallen scheint. „Er wollte das Technikequipment wegräumen.“

„Ach so. Und das ist wo?“

„Raus auf den Gang, die vorletzte Türe rechts“, meint er und geht auch schon weiter.

„Danke“, sage ich ihm noch hinterher.

Ich gehe den Gang hinaus und bleibe kurz im menschenleeren Raum stehen. Einen Moment lang atme ich die Ruhe und kühle Luft ein. Da drinnen war es fürchterlich stickig und warm und die ganzen Leute, dann noch die Fragerei, keine Ahnung wann es aufhört mich so fertig zu machen. Dann gehe ich den Gang hinunter und bleibe vor der vorletzten Türe rechts stehen. Die Tür ist angelehnt und ich höre Geräusche und ein leises Kichern aus dem Raum.

„Tyler?“ Ich öffne die Türe vorsichtig ein Stückchen.

Ich stehe da und sehe wie versteinert auf das Bild welches sich mir offenbart, unfähig einen Ton von mir zu geben. Völlig neben mir versuche ich etwas zu sagen, aber die Luft in meinem Hals stockt und baut sich beklemmend immer weiter auf. Hysterisch schnappe ich nach Luft. Fast hätte ich etwas sagen können, doch da höre ich die Worte „Ach du Scheiße…“ aus dem Mund der Blondine mit dem wünschenswerten Arsch. „Tyler…Hör auf…“, fügt sie noch hinzu.

Sein Rücken ist mir zugewandt, er hat noch nicht einmal bemerkt, dass ich in der Tür stehe. Er dreht sich langsam aus einer eindeutigen Situation zu mir. Fast wie in Zeitlupe fühlt es sich an. Seine Lippen formen sich zu einem tonlosen „Fuck“.

Ich schnappe immer noch nach Luft und einem Wort das ich sagen könnte, was in dieser schrecklich peinlichen Situation aber nicht möglich ist. Leicht überfordert lässt er von der Frau ab, zieht sich seine Hose hinauf und dreht sich zu mir. Völlig außer mir kann ich nur meinen Kopf schütteln, Tränen steigen haltlos in mir auf.

„Holly, warte…Versteh das bitte nicht falsch…Das ist anders als es aussieht…“, beginnt er zu stammeln.

Carolin springt vom Schreibtisch auf dem mein Ehemann sie gerade noch gefickt hat auf, und zieht sich scheinbar geschockt darüber erwischt worden zu sein ihren Tanga hoch. Verlegen streicht sie ihr Kleid zurecht, diese Geste fühlt sich in gegenständlicher Situation wie ein Witz an.

„Was kann man denn bitte daran falsch verstehen?“, sage ich überraschend leise und verwundert über mich selbst plötzlich wieder Worte gefunden zu haben. Dann drehe ich mich um und gehe den Gang zurück hinauf. Meine Hände beginnen zu zittern und ich spüre wie mir Übelkeit den Hals hochkriecht.

„Holly…Bitte…“ Tylor kommt mir schnellen Schrittes hinterher und hält mich am Arm zurück. Sofort versuche ich mich loszureißen.

„Mach hier bitte keine Szene“, sagt er relativ ruhig.

„Keine Szene?“, keife ich mit leicht erhöhter Stimme.

Carolin marschiert starren Blickes an uns vorbei und verschwindet hinter irgendeiner Tür.

„Es bedeutet nichts“, flüstert er und sieht mich dabei eindringlich an. „Es ist einfach alles von mir abgefallen und dann…“

„Was? Es bedeutet nichts? So sah es aber nicht aus. Darum sollte ich wohl besser zu Hause bleiben, damit du hier in Ruhe ficken kannst, oder wie?“

Er öffnet eine Bürotür und zerrt mich hinein. Dann packt er mich mit beiden Armen an meinen Schultern, fast als wolle er mich zur Besinnung bringen. Seine Augen weiten sich.

„Holly! Hör auf hier so herumzuschreien! Willst du mich ruinieren?“ Er atmet ein paarmal durch, so ruhig wie er versucht zu sein ist er nicht, ich kenne ihn. „Ich weiß ich habe einen Fehler gemacht, bitte lass und das zu Hause besprechen.“

Ich schüttle den Kopf. „Einen Fehler gemacht?“, murmle ich tränenerstickt. „Wie lange schon?“

Bei dieser Frage kann er mir nicht mehr in die Augen sehen und ich weiß darum sofort, dass das hier nicht das erste Mal mit dieser Schlampe war.

„Wie lange schon?“, frage ich deshalb noch einmal etwas lauter nach.

„Es bedeutet nichts…“, stammelt er.

„Wie lange will ich wissen“, jetzt schreie ich fast, was ihn schnell antworten lässt.

„Seit ein paar Wochen.“

Geschockt weiche ich einen Schritt zurück. Ich kann nichts mehr sagen. In mir baut sich ein fürchterliches Gefühl auf das ich mit keinem Wort beschreiben kann. Ich liebe diesen Mann, ich habe ihn immer geliebt, ganz selbstverständlich und bedingungslos, auch wenn wir in letzter Zeit viel gestritten haben. Immer habe ich versucht über meinen Schatten zu springen und war ihm nie lange böse, selbst wenn er mich oft richtig beleidigt hat. Es ist schwer ihm zu entsprechen, ich bin nicht wie er. Mal sind meine Haare nicht so wie er sich das vorstellt, dann ist es meine Figur mit der er im Moment nicht zurechtkommt. Ich bin immer zu langsam oder nicht genau genug, oder ich denke zu intensiv nach. Dann rede ich zu viel und im nächsten Moment wieder zu wenig, oder sage nicht das was er hören will. Auch wenn es mir in den letzten Monaten schlecht ging, versuchte ich ihm alles recht zu machen. Und jetzt? Wozu das alles?

„Es war die Anspannung, ich musste irgendwo Druck ablassen, du bist im Moment nicht du selbst…“, beginnt er fast verzweifelt zu erklären. Ich will das alles gar nicht hören. Seine Worte machen alles nur noch schlimmer. Oft habe ich versucht mich ihm zu nähern. Ich habe es mir sogar ziemlich gewünscht, es hätte mir bestimmt geholfen aus meinem seelischen Tief zu kommen. Doch er hat mich immerzu zurückgewiesen. Jetzt verstehe ich warum.

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