Am Ende der Wahrheit

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Am Ende der Wahrheit
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Kerstin Teschnigg

Am Ende der Wahrheit

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Inhaltsverzeichnis

Titel

TEIL 1

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

TEIL 2

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

TEIL 3

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Epilog

Impressum neobooks

TEIL 1

Prolog

Ich falle. Es tut nicht weh. Nichts tut weh. Alles fällt von mir ab. Kurz ist es dunkel, aber dann unglaublich hell und warm. Ich fühle mich frei, sorgenlos, erlöst. Eine Stimme ruft mich, ganz leise kann ich es hören. Freundlich und vertraut hört es sich an. Langsam gehe ich weiter. Es ist ganz leise. Kurz schließe ich meine Augen, das Licht blendet mich. Da ist niemand und trotzdem bin ich nicht allein. Ich muss mich nicht fürchten. Nein, muss ich nicht. Sterben tut nicht weh und ich habe keine Angst, doch trotzdem hält mich irgendetwas fest, lässt mich nicht los, gibt mich nicht frei. Vor mir das helle Licht und das wohlige Gefühl, hinter mir das Leben und die Macht es nicht so einfach loslassen zu wollen. Ich stehe in der Mitte. Es ist meine Entscheidung. Gehe ich weiter, oder blicke ich zurück. Das Ende – oder das Leben.

Kapitel 1

Ich liege im Bett und starre im Dunklen an die Decke. Ganz dunkel ist es nicht, weil das kleine Nachtlicht noch brennt. Es ist schon die vierte Nacht in Folge in der ich kein Auge zubekomme, auch wenn ich unglaublich müde bin. Müde und erschöpft. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, ich fühle mich ausgebrannt. Die letzten Monate waren wirklich Kräfte zehrend. Ich drehe mich zur Seite. Es scheint, ein leichter Wind kommt auf. Der Vorhang am großen Flügelfenster bewegt sich ein wenig. Ich lausche – ja könnte sein, dass es gleich zu regnen beginnt. Ein zartes Durchatmen neben mir ringt mir ein glückliches Lächeln ab. Das lässt mich die ganzen Strapazen schnell vergessen. Ich streiche sanft durch seine dunklen Haare, aber so, dass ich nicht wecke. Seine Haare sind so weich und wuschelig. Ich liebe das. Darum habe ich sie die letzten Monate auch kaum geschnitten. Ich finde er sieht mit den längeren Haaren unglaublich süß aus. Auch für ihn war die letzte Zeit ziemlich anstrengend. Doch jetzt sind wir hier. Zurück in der Südsteiermark, zurück in meiner Heimat die er gar nicht kennt. Es war richtig so. Ich war lange genug weg. Ich muss vor nichts mehr weglaufen. Es ist mein Leben, und so wie ich es lebe ist es schon ganz richtig. Ein kräftiger Windstoß bläst durch das Fenster, große fette Regentropfen prasseln mit einem Mal herab. Schnell springe ich aus dem Bett um das Fenster zu schließen, gerade noch rechtzeitig, bevor es ins Zimmer regnet, das würde dem neuen Holzboden sicher nicht gut tun. Das Zimmer ist wirklich richtig schön geworden. Ich liebe den Duft vom großen Zirbenbett und die schönen hellen Pastellfarben im Raum. Es ist sogar so, dass ich das ganze Haus liebe. Wie die Holzdielen krachen, auch wenn man versucht ganz leise zu sein, wie früher, wenn ich zu spät nach Hause kam. Mama wusste morgens immer, dass ich zu spät war. Ich schmunzle für mich selbst. Ja, das Haus ist alt, aber in jedem Raum und hinter jeder Tür stecken Erinnerungen. Schöne Erinnerungen. Wir werden uns schon bald eingewöhnt haben, da bin ich mir sicher.

„Mama?...“

Maxi setzt sich auf und schaut suchend in den halbdunklen Raum.

„Ich bin da mein Bärchen.“

Schnell lege ich mich wieder zu ihm ins Bett.

„Komm, schlaf weiter. Das war nur der Wind.“

Er muss sich erst eingewöhnen, alles ist noch fremd für ihn. Die großen Räume und die Weitläufigkeit des Haues ist er nicht gewöhnt. Noch einmal streiche ich durch seine Haare und über seine Wange, dann kuschle ich mich an ihn. Ganz fest. Ich bin da. Immer.

Kapitel 2

„Guten Morgen Mama.“

Ich betrete die große Küche in der meine Mama so ganz allein ziemlich verloren aussieht, auch wenn sie um diese frühe Uhrzeit, es ist erst kurz nach sieben, schon geschäftig herumwerkt.

„Guten Morgen Resi. Frühstück ist gleich fertig. Schläft Maxi noch?“

Sie lächelt mich mild an, ich stelle das Babyfon auf den großen Eichentisch der bereits mit dem Frühstücksgeschirr gedeckt ist. Gmundner Streublumen. Ein Blick auf den Tisch und das wohlige Gefühl daheim zu sein macht sich in meinem Bauch breit.

„Ja er schläft noch ganz tief. Er ist wegen dem Regen ein paarmal munter geworden heute Nacht. Ich nehme mir nur einen Kaffee. Danke.“

Ich gieße mir eine Tasse ein und setze mich auf die kleine Bank neben dem Kachelofen. Der ist zwar um diese Jahreszeit nicht eingeheizt, wäre für Anfang Juni wirklich nicht passend, zumal es draußen auch ziemlich warm ist, aber ich liebe den Platz. Immer schon.

„Glaubst du das Babyfon ist wirklich notwendig? Maxi weiß doch wo er uns findet. Ihr seid doch jetzt schon fast zwei Wochen da. Über die Stiege herunter und er ist bei uns. Er ist fünf und kein Baby mehr.“

Ich seufze und nehme einen Schluck vom Kaffee. Doch. Er ist mein Baby, das wird er immer bleiben. Ich will einfach nicht, dass er aufwacht und sich erschreckt, weil ich nicht da bin. Es ist alles neu und fremd für ihn. Das Haus ist riesig und hier auf dem Hof gibt es tausende neue Eindrücke die auf ihn einstürzen. Alle sind ihm fremd. Meine Eltern und meinen Bruder kennt er nur von WhatsApp Anrufen. Nein stimmt nicht, einmal besuchten sie mich in München, aber da war Maxi noch ein Baby. München ist auch nicht der nächste Weg. Sogar für mich ist momentan alles ungewohnt, obwohl ich unser Weingut wie meine Westentasche kenn. Nach sechs Jahren Stadtleben in einer kleinen Wohnung habe ich das Gefühl mich hier zu verlieren, auch wenn ich die Weitläufigkeit früher immer so geschätzt habe. Daran muss ich mich erst wieder gewöhnen. Mein kleiner Bruder Leopold hat in den letzten Jahren alles liebevoll renoviert und erneuert, sowohl im Haus als auch am Hof und schlussendlich auch mein Zimmer, als wir vor ein paar Wochen beschlossen zurück zu kommen. Zum Glück hat er den alten Holzboden den ich so liebe nur geschliffen und eingelassen. Kleiner Bruder…Er ist nicht mehr der Nerd von früher. Er ist erwachsen geworden. Das Weingut Lorenz ist jetzt am neuesten Stand, was sich zu rentieren scheint. Lorenz Wein hat einen ausgezeichneten Ruf und in den letzten Jahren einen ordentlichen Aufschwung erlebt. Ich bin mir zwar nicht sicher ob mein Vater sich das am Anfang wirklich gedacht hat, aber Leopold hat ihn wieder einmal überrascht. Der stille Leopold. Der Streber. Der Student. Der Stubenhocker. So hat ihn mein Vater immer aufgezogen. Doch das Strebern scheint sich gelohnt zu haben. Er ist ein würdiger Nachfolger und ich freue mich darüber. Meine Eltern haben jahrzehntelang mühsam und hart für das Alles hier gearbeitet. Aus mir ist nicht mehr als eine einfache Frisörin geworden, über die vielen Blödheiten die ich immer im Kopf hatte will ich gar nicht nachdenken. Meine Eltern hatten es nicht immer leicht mit mir. Die Schule war mir nicht besonders wichtig, auch wenn ich heute weiß, dass ich mehr schaffen hätte können. Aber ich hab mich damit abgefunden und ich mag meinen Beruf auch richtig gern. Es ist gut, dass Leopold das Lebenswerk Lorenzhof weiterführt. Ja, ich freue mich wirklich.

 

„Mama…ich fühle mich sicherer wenn dieses Babyfon hier steht und ich ihn höre, sonst kann ich keine Sekunde ruhig sitzen“, wehre ich mich gegen ihren Vorwurf.

Sie nickt und lächelt wieder. Natürlich hat sie schon bemerkt, dass ich mir was mein Kind betrifft nicht viel sagen lasse. Eigentlich hab ich mir nie viel sagen lassen. Egal worum es ging. Darum bin ich auch ziemlich oft an die Wand gefahren in den letzten Jahren, aber bei Maxi will ich einfach alles richtig machen. Er ist mein Lebensmittelpunkt und ich würde einfach alles für ihn tun. Ich atme durch und lehne mich zurück. Unsere Wohnung in München war im Vergleich zum Lorenzhof eine Schuhschachtel. Küche, Badezimmer, Wohnzimmer und ein kleines Schlafzimmer. Für Maxi und mich hat es gereicht. Sie war klein, aber dennoch unglaublich teuer. Die Mietpreise in München sind Wucher. Doch darum bin ich nicht wieder hier. Ich habe schon lange überlegt wieder nach Hause zu kommen. Meine Stelle bei einem Fernsehsender als Stylistin war der Wahnsinn, herausfordernd und auch gut bezahlt, aber ich hatte einfach zu wenig Zeit für Maxi. Zwar hat sich meine Tante Elfi aufopfernd um ihn gekümmert wenn ich gearbeitet habe, trotzdem hatte ich immer ein schlechtes Gewissen. Außerdem wollte ich, dass mein Kind nicht in der Stadt aufwächst, auch wenn München ein Dorf ist. So wie in der Steiermark ist es nicht. Hier kann er einfach hinauslaufen und sich frei bewegen. Rundherum nur grüne Wiesen, viele Tiere und gute Luft. Wir haben zwar selbst am Hof keine Tiere, außer ein paar Hühnern und die Katzen Minka und Petzi, aber auf der angrenzenden Weide stehen die Schafe vom Nachbarn und etwas weiter, etwa fünf Minuten zu Fuß, gibt es eine Pferdekoppel. Wir müssen jetzt jeden Tag einen großen Spaziergang machen und alle Tiere besuchen. Das macht mich zufrieden. Glücklich und zufrieden. Zu sehen wie gut ihm das alles hier tut. Endlich habe ich mehr Zeit für ihn. Kein schlechtes Gewissen. Jetzt ist es nur noch wichtig Freunde in seinem Alter zu finden, doch ich bin mir sicher wenn er im Herbst in den Pfarrkindergarten kommt, wird sich das von selbst erledigen. Keine Ahnung ob ich zurückgekommen wäre wenn meine Tante Elfi nicht so plötzlich einem Schlaganfall erlegen wäre. Es war ein Schock für mich. Doch für Maxi war es noch schlimmer. Elfi war wie eine Oma für ihn. Er hat sie geliebt. Als ich vor sechs Jahren nach München kam hat sie mich ganz selbstverständlich aufgenommen, ohne Wenn und Aber. Keine blöden Fragen. Keine Vorwürfe. Kein Besserwissen. Sie war immer da. Egal ob ich länger arbeiten musste, überraschend für eine Kollegin eingesprungen bin, oder einfach ein Date hatte. Dates kamen jedoch selten vor. In meinem Leben gibt es nur einen Mann. Maxi. Das fanden die meisten Typen nicht so prickelnd, die wollten immer an erster Stelle stehen, doch die ist in meinem Herz fix besetzt. Ich nehme noch einen großen Schluck Kaffee, als sich die Küchentüre öffnet. Leopold steht in der Tür mit Maxi im Arm, der mich verschmitzt angrinst.

„Schau mal wen ich im Treppenhaus getroffen habe“, grinst mein Bruder und lässt Maxi herunter.

„Hey…bist du schon wach? Ich hab gar nichts gehört…“ Ich sehe verwundert auf das Babyfon.

Er tapst in seinem Dinopyjama auf mich zu und krabbelt auf meinen Schoß. Schnell schmiegt er sich an mich und ich vergrabe meine Nase wie gewohnt in seinen Haaren. Das könnte ich den ganzen Tag lang tun, ich muss aufpassen ihn nicht aufzufressen, so sehr liebe ich ihn.

„Guten Morgen mein Bärchen. Ausgeschlafen?“

Als auch noch mein Vater die Küche betritt, nickt er schüchtern. Zu viele Leute. Definitiv.

„Geh Resi, der Maxi ist doch kein Bärchen, sondern wenn schon, dann ein mutiger Bärenfänger, nicht wahr?“

Leopold wuschelt durch Maxis Haare, der sofort laut auflacht. Er mag meinen Bruder, das finde ich gut. Bislang gab es nur mich und Tante Elfi in seinem Leben. Ich schätze so ein bisschen männlicher Erziehungsanteil könnte nicht schaden. Das dürfte in diesem Haus kein Problem sein, mein Vater war immer ziemlich autoritär, gut dass ich in Maxis Fall das Sagen und auch das letzte Wort habe.

„Also dafür, dass du Frisörin bist, schaut dein Junior ziemlich zerzaust aus.“ Mein Vater zieht die Augenbrauen hoch, aber er lächelt.

Ich begutachte den Wuschelkopf. Ja, vielleicht hat er Recht. Ein bisschen Kontur könnte der Frisur nicht schaden.

„Was meinst du Maxi, machen wir dem Opa eine Freude und schneiden deine Haare nachher ein bisschen?“

„Ja Mama…“, murmelt er. „Ich hab Hunger.“

„Na das können wir schnell ändern“, lacht meine Mutter auf.

Nach dem Frühstück will Maxi unbedingt mit Leopold am Traktor mitfahren. Keine Ahnung warum, ich bin mindestens tausend Mal am Traktor mitgefahren, irgendwie fühle ich mich unbehaglich dabei. Vielleicht klammere ich wirklich zu viel. Ich versuche mir meine Sorge nicht anmerken zu lassen. Ihm scheint es jedenfalls riesigen Spaß zu machen.

„Ich muss mir die Reben am Südhang anschauen, keine Sorge, ich passe schon gut auf dein Bärchen auf“, beruhigt mich mein Bruder und fährt von dannen.

Mit einem komischen Gefühl des Verlassen seins, auch wenn es nur für eine Stunde ist, sehe ich den beiden nach.

Ich helfe Mama im Haus, ich hab vergessen wie viel es hier immer zu tun gibt. Vielleicht werde ich heute Abend einmal müde genug sein, um ordentlich schlafen zu können.

„Mei Resi, kannst du bitte zur Apotheke fahren, die Blutdrucktabletten von deinem Vater sind leer, die braucht er aber ganz dringend“, fällt Mama während dem Betten machen ein.

„Ja sicher, ich fahre gleich, brauchst du sonst noch etwas?“

„Nein, sonst haben wir alles.“

Ich stehe vor dem Spiegel und drehe meine Haare zu einem Knoten hoch. Auch meinen Haaren würde ein wenig Pflege guttun. Wenn ich schon in den Ort fahre, werde ich gleich bei Sabine vorbei schauen und einen Termin ausmachen. Ich habe in ihrem Salon gelernt. Sie war eine tolle Chefin, alles was ich kann hat sie mir beigebracht und in München war man mit meinen Künsten sehr zufrieden. Ich fahre den Weg ins Dorf entlang. Ich bin schon unzählige Male diese Strecke gefahren und doch ist es seltsam wieder hier zu sein. Im Salon von Sabine ist heute nicht besonders viel los. Sie hat schon gehört, dass ich wieder zurück bin und freut sich sichtlich darüber. Übermorgen hat sie noch einen Termin für mich frei. Fullservice sozusagen. Ich lasse das Auto gleich am Parkplatz vor dem Frisörsalon stehen und gehe die paar Meter zur Apotheke zu Fuß. Ich liebe unseren Ort. Alles ist so beschaulich, romantisch, fast kitschig. Vor vielen Geschäften stehen Blumen, es ist so einladend und liebevoll. In der Apotheke besorge ich die Tabletten für meinen Vater und gleich ein pflanzliches Mittel, dass mir etwas mehr Ruhe verschaffen sollte. Das ich nicht schlafen kann macht mich ziemlich fertig. Dann denke ich über Dinge nach, die mich noch weniger zur Ruhe kommen lassen.

„Wenn sich das nicht legt, müssen Sie aber bitte zum Arzt gehen“, klärt mich die Apothekerin auf.

„Ja, sicher. War alles ein bisschen viel in der letzten Zeit, ich bin zuversichtlich, dass es mir bald wieder besser geht“, entgegne ich.

Sie nickt, packt alles in eine Papiertüte und kassiert. Bevor ich die Apotheke verlasse, spricht mich noch Frau Binder an, ich hab ihr früher immer die Haare gemacht. Sie redet wahnsinnig viel, aber sie ist nett. Irgendwie schaffe ich es dennoch mich loszureißen. Wir halten den ganzen Betrieb auf, hinter uns warten noch andere Leute.

„Teresa?“

Ich sehe auf. Kurz bleibt mir die Luft weg. Ein ganz eigenartiges Gefühl steigt in mir hoch. Es gibt nur einen Menschen der mich Teresa nennt.

„Hallo“, stammle ich und sehe direkt in seine Augen.

Ich habe das Gefühl mein Herz schlägt auf einmal rückwärts, alles um mich herum scheint zu verstummen.

„Hallo…Wow…wir haben uns lange nicht mehr gesehen“, sagt er leise, fast nachdenklich.

Ich nicke. Was ich sagen soll weiß ich nicht, dafür spricht er weiter.

„Du hast dich gar nicht verändert.“

Na ja… außer dass ich um sechs Jahre älter geworden bin, hab ich mich wahrscheinlich wirklich nicht viel verändert. Meine Haare sind immer noch dunkelblond mit hellen Strähnen, so wie früher. Sie sind zwar mal kürzer, mal länger, im Moment länger, aber die großen optischen Veränderungen wie das sonst bei Frisörinnen üblich ist, habe ich nie durchgemacht. Ich verändere lieber meine Modelle und bleibe selbst im Hintergrund. Immer noch perplex sehe ich ihn an. Ich schaue weiterhin direkt in seine dunklen Augen. Er hat sich allerdings ein wenig verändert. Ich würde sagen, er ist erwachsen geworden, männlicher könnte man sagen.

„Geht es dir gut?“, frage ich ihn, weil mir sonst einfach nichts einfällt und die Stille zwischen uns unerträglich ist, dabei versuche ich zu lächeln.

„Ja, Danke.“

„Bist du gar nicht auf irgendeiner Meisterschaft oder so?“

Er schüttelt den Kopf. „Ich bin verletzt.“

„Echt?“, frage ich ungläubig. Ich kann nichts erkennen. „Als Schwimmer kann man sich verletzten?“

„Schwimmerknie.“

„Aha“, sage ich, auch wenn ich nicht weiß, was das für eine Verletzung ist.

„Du bist dran“, füge ich noch hinzu, er ist der nächste in der Warteschlange, worüber ich ziemlich froh bin. Ich weiß nämlich nicht mehr was ich sagen soll.

Er schaut zur Apothekerin, dann zu mir.

„Ich muss jetzt auch los. War schön dich zu treffen“, sage ich schnell um die Situation nicht unnötig in die Länge zu ziehen.

„Ja finde ich auch“, entgegnet er und lächelt ein bisschen.

Ich habe zwar das Gefühl er will noch etwas sagen, aber ohne ein weiteres Wort verlasse ich fast fluchtartig die Apotheke. Völlig neben der Spur haste ich zum Auto. So schnell bin ich noch nie aus dem Ort hinaus gefahren. Keine Ahnung warum. Es ist lange her. Es ist vorbei. Mein Herz klopft, nein es rast und meine Hände schwitzen. An der langen Geraden die zu unserem Hof führt bleibe ich an einer Lichtung stehen. Ich löse den Sicherheitsgurt schnell, denn ich habe das Gefühl darunter gleich zu ersticken, ich öffne das Fenster, schließe meine Augen und atme tief durch. Markus Strasser. Ich war mir sicher ihn hier nicht so schnell wieder zu sehen, aber ich hätte damit rechnen müssen. Langsam normalisiert sich mein Puls wieder. Darauf war ich nicht vorbereitet. Markus…Ein kurzes Lächeln huscht über meine Lippen. Selbst wenn ich es wollte, ich schaffe es nicht die Gedanken an unsere erste Begegnung beiseite zu schieben.

Es war an einem Freitag im Juli vor sechs Jahren. Ich half meinen Eltern am Stand beim großen Weinfest im Ort. Es war unglaublich viel los, das Wetter schien perfekt und der Wein schmecke in diesem Jahr ausgezeichnet. Dementsprechend viele Gäste tummelten sich um die Stände herum. Es nervte mich total, dass ich mich nach der Arbeit im Salon noch in den Trachtenrock zwängen musste, um am Stand mitzuhelfen. Meine Laune war im Keller. Am liebsten hätte ich mich gedrückt, aber ohne meine Hilfe war es nicht zu schaffen. Zu allem Übel versammelte sich kurz vor Mitternacht, gerade als wir mit dem Abbauen begannen, eine Runde Jungs um den Stand. Es stellte sich heraus, dass es eine Geburtstagsfeier war, die Burschen schienen schon ziemlich angeheitert zu sein. Einige waren sogar so betrunken, dass sie kaum stehen konnten. Trotzdem mussten sie natürlich auch noch den Lorenz Wein ausgiebig kosten. Ich war unglaublich genervt, vor allem weil ich am nächsten Tag arbeiten musste. Einer wollte mich zu allem Übel auch noch begrabschen, da war es mit meiner Geduld am Ende. Ich bin fast ausgerastet. Auf solche blöden Anmachen hatte ich absolut keinen Bock. Ich war erst ein paar Monate getrennt von einem Typen der ein komplettes Arschloch war, für ihn hatte ich meinen langjährigen Freund Anton verlassen. Anton und ich waren fünf Jahre zusammen. Er war mein erster Freund. Wir waren das perfekte Paar, ich glaube meine Eltern hofften, dass wir heiraten. Seine Familie hat einen großen Rinderzuchtbetrieb im Nachbarort, den er inzwischen weiterführt. Eine gute Partie sozusagen. Ja, nach außen waren wir das perfekte Paar, aber irgendwie war unsere Beziehung nicht wirklich so toll. Ich fühlte mich immer ein bisschen bevormundet von ihm. Er ist um vier Jahre älter als ich und ein richtig bodenständiger Bauer. Sein wichtiges und gescheites Getue nervte mich oft. Auch seine Ansichten teilte ich nicht immer, was er mich mit seinen Ansangen spüren ließ, oft auch vor anderen Leuten, was ziemlich demütigend war. Zwischen uns fehlte einfach etwas. Dann kam das Arschloch. Marco Berger. Wenn ich heute daran denke wird mir schlecht. Ich habe mich bei einem Discobesuch in Graz heillos in ihn verliebt, Anton betrogen und mich dann schlussendlich getrennt. Für einen Typen der mir das Leben für ein paar Monate zur Hölle machte. Seine charmante Art legte Marco schnell ab. Mama warnte mich, aber ich wollte es nicht hören und als ich einsah, wie Recht sie doch hatte, konnte ich es schlecht zugeben. Zum Glück habe ich dann doch die Reißleine gezogen. Da war mein Leben aber schon ein ziemlicher Trümmerhaufen und ich steckte in einer Sackgasse fest. Keine Ahnung wie ich das damals überhaupt ausgehalten habe. So war ich also kurz vor meinem vierundzwanzigsten Geburtstag allein und hatte einen Haufen Schulden. Das Arschloch schaffte es nämlich irgendwie mich dazu zu überreden für sein Lokal eine Bürgschaft zu unterschreiben. Als Dank dafür trieb er es regelmäßig mit seinen ständig wechselnden Kellnerinnen auf dem Tresen den ich mühsam abbezahlte. Alles was mir von ihm blieb waren fast dreißigtausend Euro Schulden bei einem monatlichen Frisörgehalt von knapp elfhundert Euro. Es war einer der Tiefpunkte in meinem Leben. Ich habe niemanden von den Schulden erzählt, nicht einmal meinen Eltern, so geschämt habe ich mich. Ich hab sie einfach bezahlt, mir blieb kaum etwas von meinem Gehalt übrig. Auch wenn Anton mir wieder Avancen machte, ich wollte nicht zu ihm zurück, ich fand unsere Zeit war vorbei. Er hätte den Kredit bestimmt bezahlt, aber ich musste das allein schaffen. Ich liebte ihn nicht so wie man einen Mann lieben sollte, und wenn er mir Geld gegeben hätte, wäre alles noch schlimmer geworden. Keine Ahnung wie er über das was ich ihm antat überhaupt hinweg sehen konnte. Aber zurück zum Abend beim Weinfest. Ich erinnere mich, wie ich mich über den Grabscher aufregte und wie die Jungs schmunzelten. Es war fast eine Erleichterung als es unerwartet zu Donnern begann und ein Sturm aufkam. Wir mussten recht schnell alles abbauen. Gerade rechtzeitig bevor es zu schütten begann, waren wir mit dem Einladen fertig. Meine Eltern und Leopold fuhren schon voraus. Ich packte noch die restlichen Gläser in den Pickup, als ich mich unglaublich erschrak, weil mich jemand von der Seite ansprach.

 

„Ich möchte mich für meinen Freund entschuldigen“, hörte ich eine leise Stimme neben mir.

Ich weiß noch, dass ich richtig zusammengezuckt bin vor Schreck. Ein junger, dunkelhaariger und vor allem ziemlich sportlicher Typ, einer von den Jungs von vorhin, sah mich beschämt an. Er war mir gar nicht richtig aufgefallen, weil er sich als einziger nicht so unmöglich benahm.

„Schon gut. Du musst dich nicht für deinen Idioten Freund entschuldigen“, sagte ich ohne ihn richtig anzusehen und klappte den Kofferraum zu. Ich hatte einfach genug und wollte nur noch nach Hause.

„Doch. So behandelt man keine Frau. Tut mir leid.“

„Noch einmal. Du kannst nichts dafür.“

Jetzt sah ich ihn an. Er schaute nicht besonders glücklich drein. Plötzlich fielen riesige fette Tropfen und der Wind nahm zu. Ich ließ den Burschen stehen, sprang ins Auto und fuhr los. Nach ein paar Metern schaute ich in den Rückspiegel und sah wie er im Regen mit gesenktem Kopf los trottete. Seufzend legte ich den Retourgang ein. Keine Ahnung warum, ich glaube ich machte mir Sorgen, es könnte ihn der Blitz erschlagen. Neben ihm stehen bleibend, drehte ich die Scheibe hinunter.

„Steig ein, du wirst ganz nass, ich nehme dich mit.“

Ich erinnere mich noch genau an seinen Blick. Überrascht, verwundert, vielleicht aber auch erschrocken, auf jeden Fall rechnete er nicht damit, so viel war klar.

„Komm schon, steig ein“, wiederholte ich, was er dann auch tat.

„Du bist ja schon ganz nass. Wo musst du denn hin?“, fragte ich ihn, er schaute mich nicht an und wirkte ziemlich schüchtern.

Er wischte sich über die nassen Arme, dann strich er mit einer Hand durch die feuchten Haare.

„Ich mache alles ganz nass“, sagte er fast entschuldigend.

„Macht nichts“, beruhigte ich ihn. „Ist nur Wasser.“

Er lächelte dankbar und immer noch schüchtern.

„Kennst du das Ferienhaus beim Badesee?“, meinte er.

Ich nickte. Das Ferienhaus am Badesee. Ich wusste, dass dort eine Grazer Familie die Wochenenden im Sommer verbrachte. Gesehen hatte ich sie aber noch nie. Ich fuhr los und fragte mich, warum ich ihn überhaupt mitnahm um kam zum Schluss, dass es meine grenzenlose Nächstenliebe sein musste.

„Wo sind deine Freunde?“, fiel mir plötzlich ein.

„Keine Ahnung, noch in irgendein Lokal im Dorf.“

Wieder sah er mich nicht an, sondern schaute aus dem Fenster. Besonders gesprächig war er nicht, es war mir aber egal, ich wollte einfach nur nach Hause. Raus aus den Klamotten unter die Dusche und ins Bett. Kurz bevor die Straße zum Ferienhaus anstieg, schaute ich noch einmal zu ihm. Sein Blick hing an meinen Beinen. Gut, mein Rock war auch wirklich gefährlich kurz, das Ding war mir um eine Nummer zu klein und im Sitzen rutschte er weit über meine Oberschenkel hinauf, aber für einen neuen Rock hatte ich einfach kein Geld. Als er bemerkte, dass ich ihn ertappte, drehte er sich schnell wieder weg. Er wurde ziemlich rot und ich versuchte den Rock mit einer Hand ein bisschen hinunter zu ziehen. Es war eine befremdliche Situation, nicht nur für mich wie es schien, aber auch irgendwie komisch. Ich drehte das Autoradio ein bisschen lauter und hoffte damit auf Ablenkung. Ich glaube ich werde den Song nie vergessen. „The boys of summer“, zwar ein uraltes Lied, aber cool und ironischerweise sogar passend.

„Das Lied ist echt mega…“, meinte ich beiläufig.

Er nickte mich kaum ansehend.

„Wie heißt du eigentlich?“, fragte ich dann um die angespannte Situation aufzulockern, seine Wangen waren immer noch rötlich gefärbt.

„Markus. Markus Strasser.“

„Ah.“ Ich lächelte ihn an, was er schüchtern erwiderte. „Resi Lorenz.“

„Resi? Echt?“ Er machte große Augen.

„Ja? Wieso…stimmt etwas nicht?“, entgegnete ich verwundert über seine Reaktion.

„Du schaust nicht aus wie eine Resi.“ Er schmunzelte. „Eine Resi trägt eine Kittelschürze und ein Kopftuch.“

Ich musste laut lachen, das sagte noch nie jemand zu mir. Alle nannten mich immer Resi. Meine Eltern, meine Freunde und meine Lehrer. Einfach alle.

„Wie du siehst, keine Kittelschürze, kein Kopftuch. Ich heiße eigentlich Teresa.“

Er neigte seinen Kopf zur Seite, fast als denke er kurz darüber nach.

„Ja…Teresa passt viel besser“, stellte er fest.

„Wenn du meinst“, entgegnete ich mit den Schultern zuckend.

Wir kamen zum Haus, ich blieb in der Einfahrt stehen. Der Regen prasselte unbarmherzig auf die Windschutzscheibe, sodass die Wischerblätter kaum der Wassermenge standhielten.

„Danke fürs Herbringen Teresa.“

Noch einmal lächelte er mich an und ich musterte ihn ungewollt.

„Gerne.“

Er stieg aus und drehte sich noch einmal um bevor ich wegfuhr. Ich erinnere mich an sein Lächeln. Es war irgendwie schüchtern, oder verwegen. Keine Ahnung.

Ein Hupen reißt mich aus meinen Gedanken. Leopold bleibt mit dem Traktor neben mir stehen.

„Was machst du denn mitten auf der Straße? Geht es dir nicht gut?“, fragt er mit besorgtem Blick.

„Nein, nein…alles ok.“ Ich sehe zu Maxi. Er strahlt von einer Wange zur anderen. „Hattet ihr Spaß?“

Leopold nickt und meint ich soll voraus fahren, was ich auch tue. Auf dem Nachhauseweg ordne ich meine Gedanken wieder. Markus. Ich war mir sicher ihn nicht wieder zu sehen. Nicht heute.