Buch lesen: «Hinter verborgenen Pfaden»
Kerstin Hornung
Hinter verborgenen Pfaden
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Titel
Impressum
Widmung
Prolog
1. Waldoria
2. Pal’dor
3. Die Falkenburg
4. Elbischer Besuch
5. Der Auftrag des Königs
6. Flimmernde Luft
7. Der Rat
8. Der Weg in den Wald
9. Im Alten Wald
10. Aufbruch
11. Das Gnommesser
12. Abschied
13. Ala’na zweifelt
14. Auf der Flucht
15. Die Falle
16. Die Pforte
17. Die Entscheidung
18. Krähen
19. Das Wildmoortal
20. Von Krähen und Gnomen
Namensregister
Sprache
Danksagung
Impressum neobooks
Titel
Kerstin Hornung
Hinter
verborgenen
Pfaden
Der geheime Schlüssel
Band I
Impressum
© 2021 Kerstin Hornung
Redaktion: Hanna Drotleff
Umschlaggestaltung: Sophie Simón
Umschlagmotiv: ©tomertu
Schriftdesign: Imres Fraktur
Auflage 3
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Widmung
Für Simon und Hanna
Prolog
Die Hoffnung eines ganzen Geschlechts ruhte auf dem winzigen Geschöpf, das nackt und zerbrechlich wie ein Vogeljunges im Moos lag. Im Mondlicht schimmerten die zarten Glieder wie Tau, und es wimmerte leise und kraftlos.
Jar’jana sah es an.
Es war das erste Kind, das nach Jahrzehnten im Reich der Elben geboren war, und die vorgeburtlichen Prophezeiungen verhießen ihm Kraft und Liebe gepaart mit göttlichem Beistand. Sie hatte diese Hoffnung in sich getragen und sie behütet. Sie hatte darauf vertraut, dass alle guten Vorhersagen eintrafen. Doch angesichts dieses zerbrechlichen und schwachen Wesens, das sie alleine hier im Wald zur Welt gebracht hatte und das jetzt mehr tot als lebendig dalag, schwand all ihre Zuversicht.
Überdeutlich wurde ihr klar, dass sie noch nie ein Kind gesehen hatte und nicht wusste, was sie tun musste.
Die dreizehn vergangenen Monde waren eine schwere Last für sie gewesen. Von den übermächtigen Erwartungen ihrer Familie erdrückt und überhäuft mit den Ratschlägen der Weisesten ihres Volkes, hatte sie sich auf den Weg der Besinnung gemacht, um sich innerlich auf die Geburt vorzubereiten. Ihren Aufbruch hatte sie, so lange wie möglich, hinausgezögert und gebetet, ihr Gefährte Fari’jaro möge doch noch rechtzeitig zurückkehren. Doch seit Tagen konnte sie sich des Gefühls nicht erwehren, dass ihm etwas Furchtbares geschehen war. Wie oft hatte sie sich in den letzten Wochen gefragt, ob sie ihn nicht doch hätte bitten sollen, bei ihr zu bleiben. Aber sie hatte ihm die Möglichkeit, noch einmal frei von Verantwortung an einer Jagd teilzunehmen, nicht nehmen wollen. Es war schließlich nicht zu erwarten gewesen, dass diese Jagd so lange dauern würde.
Und jetzt war auch noch das Kind zu früh gekommen.
Laut den Berechnungen von Ala’na der Weisen wären noch vier Wochen Zeit gewesen. Vier Wochen, in denen Jar’jana erst die Ruhe des Waldes in sich aufnehmen sollte, um dann auf der Warte ihre Seele mit der des Kindes in Einklang zu bringen, bevor die Zeit der Geburt und des Lebens begann. Im geborgenen Kreis ihrer Liebsten, unter dem fürsorglichen Blick der drei Schicksalsnornen, hätte sie schließlich das Kind in die Arme nehmen sollen.
Doch die Kleine hatte sich nicht an die Rituale der Elben gehalten.
Vorsichtig streckte Jar’jana die Hand nach ihrer winzigen Tochter aus und berührte ihre Wange. Sie fühlte sich an wie der Flügel eines Schmetterlings. Sanft strich sie ihr über die kleine Brust und über die Ärmchen.
»Lume’tai«, flüsterte sie, nahm ihr Kind auf den Arm und hielt es unsicher.
Jar´jana wusste nicht, wie lange sie so dagesessen hatte. Schließlich löste sie Lume’tai von ihrem Körper und betrachtete das friedliche Gesicht. Die Kleine war makellos schön. Dünne Härchen glitzerten auf ihrem Kopf, die Hände waren zu winzigen Fäustchen geballt, die Fingernägel wie Perlen am Ende jeden Fingers.
Sie strich mit einer Hand über die Wange ihrer Tochter, und Lume’tai schlug die Augen auf. Wie gebannt starrte die Elbin ihr Kind an. Solche Augen hatte sie noch nie gesehen.
»Wirst du leben?«, hauchte sie.
Die Augenlider des Kindes flatterten. Beim Einatmen röchelte es in seinen Lungen.
»Oh, Lume’tai!« Tränen der Verzweiflung flossen über Jar’janas Wangen, perlten an der samtenen Haut des Kindes ab und versickerten im Waldboden.
Weinend streichelte sie den kleinen Kopf, die Arme, die Beine. Ihre Finger erkundeten die zarte, fast durchsichtige Haut, die kühl und stellenweise noch feucht war. Jar’jana erschrak. Weder Kälte noch Hitze konnte einem erwachsenen Elben etwas anhaben, aber galt das auch für ein Neugeborenes. Ein zu früh Geborenes?
Sie riss einen großen Streifen aus ihrem Unterrock und wickelte Lume’tai darin ein, dann legte sie sich, ihr Kind im Arm, auf den weichen Waldboden und versuchte, zu Kräften zu kommen.
Sie erwachte von fremdartigen Geräuschen. Lauschend richtete sie sich auf, wurde aber sogleich von starken Schmerzen im Unterleib übermannt. Durch das dichte Blätterdach sah sie den Morgen heraufziehen. Doch es war kein ruhiger Morgen. Irgendetwas störte den Frieden des Waldes. Sie horchte, aber sie konnte nicht erkennen, was es war.
Lume’tais Köpfchen war im Schlaf leicht zur Seite gefallen. Vorsichtig legte Jar’jana die Kleine ins Moos und versuchte aufzustehen. Stöhnend sank sie zurück. Die Schmerzen waren furchtbar, sie keuchte. Aber hier im Wald konnte sie nicht länger bleiben. Sie musste sofort nach Hause. Ihre Eltern mussten ihr sagen, was mit dem Kind zu tun war.
Mit schwindenden Kräften stemmte sie sich auf die Beine. Alles um sie herum schien sich zu drehen. Sie stützte sich an einen Baum und bemühte sich, ihre Sinne beisammenzuhalten.
Die Bewegung in der Ferne wurde deutlicher. Etwas, das vorher nicht da gewesen war, kam taumelnd auf sie zu.
Eine böse Vorahnung beschlich Jar´jana und eine nie dagewesene Angst bemächtigte sich ihrer. Sie löste sich von dem Baum. Ihr Kleid war blutgetränkt. Schwarze Kreise tanzten vor ihren Augen, und die Schmerzen wurden noch schlimmer. Da schallte ein Horn in der Ferne. Vor Pal’dor!? Waren das Kampfgeräusche? Wurde die Stadt angegriffen?
Das konnte nicht sein. Die Stadt war verborgen. Niemand konnte Pal’dor finden. Nur geheime Pfade führten dorthin, und die Eingänge waren versteckt. Es gab strenge Rituale, die man befolgen musste. Keiner entdeckte zufällig die Tore. Niemand konnte die Stadt angreifen.
Jar’jana taumelte, ihre Sinne drohten zu schwinden. In ihrem Kopf drehte sich alles.
Lume’tai erwachte. Sie wimmerte leise.
Jar’jana musste sie hier fortbringen. Sie benötigten beide Hilfe. Die Ältesten mussten erfahren, dass das Ritual gestört war, dass es keine Geburt unter den blanken Sternen auf der Warte geben würde.
Unerträgliche Schmerzen zwangen Jar’jana zu Boden. Auf Knien rutschte sie zu ihrem Kind. Sie spürte die Dunkelheit, die ihre Arme nach ihr ausstreckte und sie zu überwältigen drohte. Verzweifelt, aber kraftlos wehrte sie sich dagegen. Dann brach sie neben ihrem Kind zusammen.
1. Waldoria
Mit einem Buch hatte sich Philip auf den Dachboden verzogen. Er hatte sich ein Nest aus Decken gebaut, das gut verborgen hinter einem Haufen alter und kaputter Möbel lag, die sein Vater irgendwann reparieren wollte.
Sein Reich.
Unten im Haus gab es keinen Platz, an dem er ungestört lesen konnte. Seine fünf jüngeren Brüder taten alles dafür, um ihn den ganzen Tag zu stören. Und wenn die Plagegeister einmal nicht um ihn herumschwirrten, hielt ihn seine Mutter mit Botengängen und Hilfsdiensten auf Trab. Ab und zu musste er auch dem Vater in der Schmiede helfen. Vor allem dann, wenn dessen Gehilfe Ruben sich um seine gebrechliche Mutter kümmerte.
Mit einem leisen Seufzen lehnte sich Philip zurück und strich über den ledernen Einband des Buches, das ihm sein Lehrer unter größter Geheimhaltung anvertraut hatte. »Pal’dor«
Das Bild einer schlanken, hochgewachsenen Gestalt mit langen Haaren und fließenden Kleidern zierte den Deckel. Das Wesen sah menschlich und doch fremdartig aus. Die gerade Nase und das vorspringende Kinn wirkten entschlossen, die Augen sahen ihm alt und wissend entgegen. In einer Hand hielt die Gestalt ein dickes Buch, in der anderen einen Speer. In kunstvollen Windungen verband sich die Speerspitze mit dem reichverzierten Schaft.
Philips Finger folgten dem Muster, dann schlug er das Buch auf und begann zu lesen.
»Philip! Phiiilip!!!« Die Stimme der Mutter klang ungeduldig. »Wo bist du? So antworte doch! Philip!!!!«
Philip stöhnte leise. Sollte er sich melden, oder würde sie irgendwann aufgeben?
»Philip Gordinian, ich weiß, dass du im Haus bist!«
Er stand auf und streckte sich. Dann versteckte er das Buch in einer Schublade. Seine Mutter würde nicht aufgeben, ehe sie ihn gefunden hatte. Widerwillig kletterte er die Dachbodenleiter hinunter.
»Hat er dir wieder ein Buch mitgegeben?«
Erschrocken fuhr Philip herum und blickte geradewegs in das Gesicht seiner Mutter.
»Äh … ja. Woher weißt du …?«, stammelte er verdutzt.
»Ach Junge! Ich hoffe, dort oben ist es zum Lesen hell genug.« Sie strich ihm über den Arm. »Ich muss gehen. Bei Elvira ist es so weit. Pass du auf die Zwillinge auf.«
Hinter ihrem Rücken verdrehte er die Augen und folgte seiner Mutter zur Tür.
Draußen stand ein hagerer junger Mann, den Hut hielt er mit beiden Händen fest. Als er sie sah, wirkte er sichtlich erleichtert. Das erste Kind, tippte Philip im Stillen.
»Wenn es spät wird, bring die Kleinen ins Bett. Und achte darauf, dass sich auch Jacob, Josua und Johann die Füße waschen, bevor sie ins Bett gehen. Bleibt nicht zu lange wach!«
»Ja, Mutter«, versprach Philip seufzend.
Seine Mutter schenkte ihm ein liebevolles Lächeln. Obwohl ihm deutlich anzusehen war, wie sehr ihm die Aussicht, auf seine Geschwister aufzupassen, missfiel, wusste sie, dass sie sich auf ihn verlassen konnte. Mit seinen fast sechzehn Jahren, war er schon beinahe erwachsen. Dass er immer noch zur Schule gehen durfte, war ein Privileg. Nur wenige seines Alters hatten die Möglichkeit, das zu tun. Er verdankte es zu einem Großteil seiner Mutter und dem Geld, das sie als Hebamme verdiente.
»Wird Vater rechtzeitig zu Hause sein?«, fragte Philip.
Seine Mutter band sich eine Haube um und griff nach ihrer Tasche. »Wahrscheinlich nicht. Er hat wieder viel zu tun.« Sie zwinkerte ihm zu.
Damit war Philip klar, dass sein Vater am Morgen zum Jagen in den Wald gegangen war. Das tat er öfter, um die Vorräte in der Speisekammer zu ergänzen, aber dadurch würde er länger brauchen, um sein Tagwerk in der Schmiede zu vollbringen.
Philip war also auf sich allein gestellt. Er sah seiner Mutter nach, wie sie mit energischem Schritt den hageren Mann einholte und das Tempo für den weiteren Weg vorgab. Als sie um die Ecke bog, drehte er sich leise brummend um und ging zurück ins Haus.
Ein Blick in den Garten machte Philip klar, dass die vierjährigen Rabauken-Zwillinge, die Gunst der Stunde genutzt hatten, um zu türmen. Da sein mittlerer Bruder Josua vermutlich mit seinem Freund am Teich spielte, war anzunehmen, dass Jaris und Jaden ihm gefolgt waren.
Philip machte sich auf den Weg, sie dort einzusammeln. Erst schlüpfte er zwischen zwei Gartenzäunen hindurch und folgte dem ausgetretenen Pfad, der an einem kleinen Mäuerchen entlangführte. Dann lief er ein paar Schritte bergan über die Streuobstwiese. Von der leichten Erhebung aus konnte er die Trauerweide am Ufer des Teiches sehen. Es war ein mächtiger Baum, dessen Äste bis ins Wasser hingen und die dadurch ein wunderbares Versteck vor neugierigen Blicken boten.
Früher war er selbst gerne dort gewesen und hatte sich eingebildet, dass ihn niemals jemand dort finden könnte. Doch dann war Jacob zur Welt gekommen, nur ein Jahr später Johann. Beide hatten sich an seine Fersen geheftet, sobald sie laufen konnten, und mit der Ruhe war es vorbei. Wenn Philip aus der Schule kam, warteten die beiden schon auf der Türschwelle und ließen ihn nicht mehr aus den Augen, bis sie abends im Bett lagen. Er hatte sie geärgert, bis sie heulten, oder war ihnen, so schnell er konnte, davongerannt. Sie ließen sich einfach nicht abschütteln.
Mit der Geburt von Josua änderte sich einiges. Winzig klein kam er an Philips achtem Geburtstag zur Welt. Eine Frühgeburt. Die Mutter brauchte lange, um sich von den Strapazen zu erholen. Da sie sich kaum um Josua kümmern konnte, bedurfte der Kleine die Aufmerksamkeit der gesamten Familie.
Oftmals wimmerte er den ganzen Tag über und ließ sich durch nichts und niemanden davon abbringen. Während Philips andere Brüder jedes Mal, wenn man in ihr Körbchen sah, wieder ein Stückchen gewachsen waren, blieb Josua winzig. Oft weinte Mutter, wenn sie ihn stillte.
Doch eines Tages begann auch Josua seine Umgebung genauer zu beobachten, versuchte sein Köpfchen zu heben, und an seinem ersten Geburtstag stand er plötzlich im Bettchen.
Dreieinhalb Jahre später stellte die Geburt der Zwillinge noch einmal den Familienalltag auf den Kopf.
Inzwischen hatte er die Weide erreicht, aber er konnte weder Josua noch die Zwillinge sehen. Plötzlich sprang ihm etwas auf den Rücken, während gleichzeitig seine Beine umklammert wurden. Philip strauchelte und fiel kopfüber in den Teich.
»Seid ihr vollkommen verrückt geworden?«, schimpfte er los, kaum, dass er seinen Kopf aus dem Wasser gezogen hatte. Die braunen Haare hingen ihm nass ins Gesicht, und er funkelte Jaris und Jaden aus seinen grünen Augen wütend an. »Wenn Mutter erfährt, dass ihr weggelaufen seid, zieht sie euch den Hosenboden stramm!«
»Sie ist sowieso nicht zu Hause«, antwortete Jaris frech.
»Ach ja! Was du alles weißt.«
»Da kam dieser Hinkebein-Mann, der wollte, dass sie mitgeht und da …«
»Habt ihr euch gedacht, dass dies die beste Gelegenheit ist, was Verbotenes zu tun?«, beendete Philip den Satz. »Habt ihr zwei Josua gesehen?«
»Nööö!«
»Jaaa!«, antworteten die Zwillinge im Chor.
Ach so, dachte Philip bei sich, den haben sie also vertrieben.
»Dann müsst ihr mir helfen, ihn zu suchen.«
Jaris und Jaden wollten gerade damit beginnen, sich jammernd über diese Ungerechtigkeit zu beschweren, als Philip sie barsch unterbrach.
»Ansonsten erzähle ich Mutter, wo ich euch gefunden habe«, drohte er.
Missmutig fügten sich die Zwillinge.
Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zurück zum Haus, denn sie brauchten alle erstmal trockene Kleidung.
Philip vermutete, dass er Josua, nachdem die Zwillinge ihn am Teich verscheucht hatten, im alten Turm finden würde.
Der verfallene Turm war der einzige noch übrig gebliebene Wehrturm der alten Stadtmauer.
Stand man ganz oben, konnte man über die Mauer hinweg den Alten Wald sehen und hatte gleichzeitig einen atemberaubenden Blick auf die Stadt.
Das war jedoch nicht der Grund, warum Josua und sein Freund Lennart sich hierher zurückgezogen hatten.
Für die beiden Siebenjährigen bedeutete der Turm ein sicheres Versteck, wo sie ungestört waren. Die unterste Stufe war hoch genug, so dass Jaris und Jaden sie nicht erreichen konnten, und Lennarts Schwestern machten um den Turm einen großen Bogen, seit sie gehört hatten, dass es darin spukte.
Philip schwang sich auf die unterste Stufe des Turmes und kletterte die bröckelnden Treppen nach oben. Er fand Josua und Lennart im alten Wächterhäuschen, wo sie völlig versunken waren in ihr Spiel mit Holztieren und Rittern.
»Was los?«, fragte Lennart.
Josua antwortete an Philips Stelle. »Er schaut bloß, wo ich bin.«
»Sieh zu, dass du pünktlich zum Abendessen zu Hause bist«, forderte Philip seinen Bruder auf und ging. Nach den zwei Älteren Jacob und Johann musste er nicht suchen. Die konnten überall sein, aber wenn er schon mal hier war, wollte er den Rückweg über den Kirchenanger nehmen. Auf dem Platz stand ein alter Kirschbaum, der jede Menge Früchte trug. Dass der noch nicht leergeplündert war, lag einzig und allein an seiner stattlichen Größe. Philip beschloss, sich mit den Zwillingen ein paar Kirschen zu holen.
Schon von Weitem sah er, dass sich eine Horde Kinder um den Baum drängte, und als er dort ankam, erreichte sein Bruder Jacob gerade den untersten Ast des Kirschbaums. Johann saß bereits in einer höhergelegenen Astgabel und angelte nach Kirschen. »Was sagst du dazu?«, rief Johann stolz.
»Toll«, knurrte Philip. »Jetzt werde ich nie mehr rechtzeitig hier sein, um auch nur eine Kirsche abzubekommen.«
»Eine kann ich dir schon mitbringen«, gab Jacob grinsend zurück.
Philip sah hoch zu Johann.
»Wirf deinen kleinen Brüdern mal ein paar von den Kirschen ’runter.«
»Wir sind nicht klein!«, brüllten die Zwillinge im Chor.
»Dann klettert doch selbst hier hoch, ihr Zwerge.«
Das brauchte Johann nicht zweimal sagen, denn schon versuchte Jaris sich am Baumstamm hochzuziehen, während Jaden von unten kräftig schob.
»Ihr seid mutig, das muss belohnt werden«, beschloss Jacob, hangelte sich noch ein paar Äste weiter nach oben und zupfte für jeden seiner kleinen Brüder eine Handvoll Kirschen ab.
Doch statt auch Philip ein paar Kirschen zuzuwerfen, stopfte er alle weiteren Früchte, die er pflückte, sofort in sich hinein. Das Wasser lief Philip im Mund zusammen.
Wenn er Kirschen wollte, musste er sie sich selbst holen. Er sprang, griff den untersten Ast des Baumes und zog sich an ihm hoch. Eichhörnchenflink stieg er den sonnenreifen Köstlichkeiten entgegen, pflückte sich so viele wie möglich in den Mund und verstaute einige in seinem Hemd, ehe er vom Baum heruntersprang.
»So ihr beiden«, rief er seinen kleinen Brüdern zu, »jetzt geht’s ab nach Hause.«
Jaris maulte, Jaden jammerte, bis Philip versprach, zuhause eine Geschichte von den Waldfeen zu erzählen.
»Ich will die mit den Schiffen und dem Meer!«, bestimmte Jaden energisch.
»Ihr wollt also die Geschichte hören, wie die Elben ihre Schiffe bauten und mit ihnen über das Meer fuhren, um sich die ganze Welt zu unterwerfen?«
Die Zwillinge nickten eifrig.
Philip hatte diese Geschichte schon hundert Mal erzählt und sie hing ihm zum Hals heraus. Es gab so viele Geschichten über die Feen, die auch Elben genannt wurden. Viele dieser Geschichten standen in engem Zusammenhang mit dem Alten Wald. Diese liebte Philip am meisten. Der Alte Wald, das Geheimnis vor der Haustür, faszinierte ihn und er beneidete seinen Vater, der der Einzige in der Familie war, der den Wald betreten durfte. Die Geschichten, die man sich in der Stadt über den Wald erzählte, hatten es allerdings alle in sich und so verstand er auch, warum seine Mutter das Betreten des Waldes absolut verboten hatte. Zu viele Menschen, die in den Wald gegangen waren, waren nie wieder gesehen worden, und Gründe dafür gab es so viele, wie Leute, die davon erzählten. Selbst jene, die sich vor der langen Hand des Königs versteckten, hielten sich nur in den Randgebieten auf.
Philip überlegte, wie er seine Brüder davon überzeugen konnte, eine echte Waldelbengeschichte hören zu wollen. Das alte Volk der Elben hatte laut Sage einst überall hier in Ardelan gelebt, bevor die Menschen das Land für sich beanspruchten. Es gab viele Geschichten, die erzählten, dass die Elben seither ein Dasein im Verborgenen führte. Und welcher Ort wäre dafür geeigneter als der Alte Wald? Mehr als einmal hatte Philip von seinem Lehrer Theophil wissen wollen, ob zumindest manche dieser Geschichten auch tatsächlich mit in der Geschichte des Landes zusammenhingen, doch er hatte nie eine befriedigende Antwort erhalten. Nur immer wieder neue Bücher und weitere Fragen.
Seine Gedanken schweiften zu dem Buch, das jetzt gut versteckt auf dem Dachboden wartete. Noch so ein Geheimnis, von dem niemand wissen durfte und wieder ging es um Elben und eine Elbenstadt im Wald. Der Schreiber behauptete, das Buch beruhe auf Tatsachen, aber Philip fiel es schwer, das zu glauben. Andere Bücher, die Theophil ihm geliehen hatte, erzählten von wagemutigen Menschen, die den gesamten Wald durchwandert hatten. Da war jedoch nie davon die Rede, dass jemand auch nur auf die kleinste Spur einer Besiedlung gestoßen wäre. Nicht einmal auf Ruinen. Diese Bücher hatte der Lehrer Theophil jedoch bereitwillig auch anderen Schülern ausgeliehen. Ob das Buch, das Philip jetzt hütete, wohl von größerem Wert war, und der Lehrer Beschädigungen fürchtete? Oder fürchtete er möglicherweise, dass sich …
Philip wurde abrupt aus seinen Gedanken gerissen, als ihm sein Vater vor dem Haus entgegentrat.
»Wo ist Phine …, äh … eure Mutter?«, fragte er aufgeregt.
»Was machst du so früh hier?«, wollte Philip mit einer Gegenfrage wissen, aber Feodor Gordinian antwortete ihm nicht.
»Die Elvira bekommt ein Kind«, rief Jaris und lief seinem Vater in die Arme. Jaden stürzte sofort hinterher. Feodor fing seine kleinen Söhne auf und nahm jeden auf einen Arm, dabei sah er Philip erwartungsvoll an. In seinen Augen brannte Ungeduld aber auch Ratlosigkeit und er wirkte hilflos und erschöpft. Philip hatte ihn noch nie so gesehen. Der Vater war kein Mann vieler Worte. Er tat, was er tun musste, ohne jemals ungeduldig oder gar wütend zu werden und er hatte immer eine Lösung zur Hand. Selbst wenn einer seiner Söhne sich an einem Werkstück versuchte und alles schiefging, konnte er gelassen danebenstehen und trotzdem so weiterhelfen, dass es am Ende gut wurde.
Heute war er jedoch alles andere als ein ruhender Fels.
»Mutter ist erst vor einer Stunde gegangen. Soll ich nachfragen, ob sie dort kurz entbehrlich ist?«, fragte Philip.
Sein Vater schüttelte den Kopf. »Bring die Kleinen zu Gertraud und komm dann sofort in die Schmiede. Ich brauche deinen Rat.« Damit setzte er die Zwillinge auf den Boden, strubbelte ihnen noch einmal durch die Haare und eilte Richtung Schmiede davon. Philip sah ihm ratlos nach.
Jaris und Jaden brüllten um die Wette.
»Ich geh nicht zur Nachbarin!«
»Ich will Papa wiederhaben!«
»Du hast uns eine Geschichte versprochen!«
»Ihr habt gehört, was Vater gesagt hat!« Philip ging zwischen seinen Brüdern in die Hocke. »Ich muss jetzt gehen und Vater helfen. Ihr wartet solange bei Gertraud. Keine Widerrede!«
»Aber unsere Geschichte …?«
»Die werde ich nicht vergessen«, versprach Philip.
Der Weg zur Schmiede führte Philip wieder am alten Turm vorbei, dann rechts die Straße hinunter. Nach etwa dreißig Schritten auf der schmalen, abschüssigen Gasse überquerte er die neue Hauptstraße, die vom Waldtor in die Stadt führte. Im Schatten der südlichen Stadtmauer stand die Schmiede.
Philip bog in die leicht gewundene Sackgasse, die von der Hauptstraße zur Schmiede hinunterführte ein. Sein Vater war nirgendwo zu sehen, ebenso wenig Ruben, sein Gehilfe. Tür zur Schmiede war zu, so, als wäre niemand da.
»Vater?« Philip zögerte, und drückte vorsichtig die Klinke hinunter. Abgesperrt!
»Vater?«, rief Philip nun etwas lauter. Drinnen bewegte sich etwas, dann wurde am Schloss gerüttelt, und schließlich erschien Feodors Gesicht im Türspalt. Seine Hand packte Philips Arm, zog ihn zur Tür hinein und sperrte rasch hinter ihm zu. Nach dem warmen und hellen Sonnenschein draußen war es in der Schmiede düster. Der Schmiedeofen, der sonst immer ein angenehmes Licht verbreitete, war kalt. Aus dem Dunkel hörte Philip ein leises Geräusch, das entfernt an das Maunzen eines Kätzchens erinnerte.
»Komm mit.« Feodor führte seinen Sohn in den hintersten Winkel der Schmiede.
Langsam gewöhnten sich Philips Augen an das Dunkel, und er konnte erkennen, dass auf dem Handwagen, den Vater immer benutzte, um sein Werkzeug zu transportieren oder eben um ab und zu Wild aus dem Wald ohne größeres Aufsehen in die Stadt zu bringen, etwas lag, das seltsame Töne von sich gab.
Ein Tier? Vater war nicht zimperlich, ein verletztes Tier hätte er sofort von seinen Qualen erlöst. Was also lag auf dem Wagen? Philip machte einen Schritt darauf zu.
»Sei vorsichtig«, mahnte Feodor. »Sie kratzt und beißt, wenn sie wach ist.«
Jetzt erkannte Philip, dass eine Frau unter der schmierigen Decke lag. Ihr goldenes Haar umrahmte ihren Kopf wie ein Strahlenkranz. Sie regte sich nicht. Philip fand sie wunderschön. Sprachlos stand er da.
»Sie hat stark geblutet«, sagte Feodor. »Phine könnte ihr und dem Kind helfen.«
Erst jetzt bemerkte Philip das winzige Geschöpf auf dem Bauch der Frau. Als er es ansah, bewegte es sich und gab wieder diesen leise maunzenden Laut von sich.
»Wir bringen sie nach Hause, und ich hole schnell Mutter. Elvira bekommt bestimmt ihr erstes Kind, es kann also noch eine ganze Weile dauern, bis es wirklich da ist. Komm, wir …«
Feodor packte Philip am Arm und hinderte ihn daran, sofort loszustürmen.
»Warte! Warte.« Erst als er sicher war, dass Philip stehenbleiben würde, ließ er seinen Arm los. »Ich habe sie im Wald gefunden. Sie hat dort heute Nacht alleine ihr Kind geboren …«
»Ein Grund mehr, Mutter zu holen. Die kennt sich doch mit sowas aus!«, rief Philip nun selbst ganz aufgeregt, weil sein Vater sich so anstellte. Falls diese Frau ihr Kind heimlich zur Welt gebracht hatte, konnte diese Geburt für sie doch immer noch geheim bleiben. Er setzte schon an, seinem Vater genau das zu erklären, aber der schob ihn zurück zu dem Wagen. »Schau sie dir genau an Philip, sie ist kein Mensch«, flüsterte er.
Was sollte das heißen, kein Mensch? Mit offenem Mund starrte Philip seinen Vater an, doch der hielt seinem Blick stand und deutete mit einer Kopfbewegung an, er solle genau hinschauen. Philip betrachtete das bleiche Gesicht. Da lag eine wunderschöne Frau mit hohen Wangenknochen und einer geraden Nase. Selbst in diesem Zustand wirkte es stolz und anmutig. Trotzdem war da auch etwas in ihren Gesichtszügen, das sie fremd wirken ließ. Philip konnte es nicht beschreiben, aber ein wenig erinnerte sie ihn an die Gestalt auf dem Deckel von Theophils Buch.
Konnte das überhaupt sein? Das würde ja bedeuten, dass es im Wald tatsächlich Wesen gab, die keine Menschen waren? Neugierig streifte er mit der Hand ihre Haare zurück und erhaschte einen Blick auf ihre Ohren. Sie waren klein und vollkommen, doch am oberen Ende liefen sie spitz zu. Erschrocken zog Philip die Hand zurück.
Kein Mensch, dachte er wieder. Sein Kopf schwirrte. Es kam ihm vor, als hätte man ihn aus seinem Leben gerissen und in eine seiner Geschichten getaucht. Das alles konnte überhaupt nicht wahr sein. Doch je länger er das Wesen betrachtete, desto offensichtlicher wurden die Unterschiede. Ihr Haar war glänzend schön, in einer Farbe wie flüssiger Honig, durch den die Sonne schien. Ihre Haut war makellos und elfenbeinweiß. Er wünschte sich, ihre Augen zu sehen, doch sie waren unter den Lidern geheimnisvoll verborgen und von einem Halbmond nussbrauner Wimpern umkränzt. Sein Herz pochte wild gegen die Brust. Es gibt wirklich Elben. Es ist wahr, dachte er. Es ist wahr, es ist wahr! Doch was von all den Geschichten stimmte wirklich? Und was sollten sie jetzt mit ihr anfangen?
»Sag mal«, überlegte Feodor laut und brachte Philip in die Wirklichkeit zurück. »Elvira ist doch Matthias` Frau?« Er massierte sich mit beiden Händen die Schläfen.
»Ja«, brummte Philip geistesabwesend, während er immer noch auf den Wagen starrte und zu begreifen versuchte, was er hier gerade erlebte.
»Er wohnt gleich hinter dem Waldtor auf der anderen Straßenseite. Du solltest deine Mutter doch holen.« Feodor sah Philip an, der mit roten Wangen unschlüssig dastand.
»Jetzt gleich?«
»Lauf! «
Philip wollte der Aufforderung nachkommen, aber seine Beine bewegten sich nur schwer von der Stelle. Auf dem Weg zur Tür fiel ihm plötzlich Ruben ein.
»Wo ist Ruben?«
»Dem hab ich gesagt, dass ich krank bin, und hab ihn heimgeschickt. Lauf jetzt«, forderte Feodor ungeduldig.
Philip stürmte die Einfahrt hoch, rannte die Hauptstraße entlang am Waldtor vorbei und stand schließlich vor dem Haus, in dem seine Mutter alles für die bevorstehende Geburt vorbereitete.
Er klopfte. Als niemand öffnete, klopfte er noch einmal und drückte dann die Türklinke hinunter. Die Tür sprang auf.
»Hallo!«, rief er, als ein hagerer Mann aus dem Zimmer trat.
»Ja?«
»Ich suche meine Mutter«, sagte Philip.
»Ach, du bist das!« Jetzt erkannte der Mann ihn auch. »Sie ist bei meiner Frau.«
In dem Moment erklang ein markerschütternder Schrei aus dem Nebenzimmer, der Mann erbleichte und stürmte durch die Tür, aus der der Schrei gekommen war.
Gleich darauf wurde er rückwärts aus dem Zimmer geschoben.
»Entspann dich, Matthias«, befahl die Hebamme. »Sonst jag ich dich aus dem Haus.«
»Aber … Aber sie hat Schm…«
»Unter Schmerzen bringen alle Frauen ihre Kinder zur Welt. Elvira ist eine starke und gesunde Frau, das …« Ihr Blick fiel auf Philip, und sie verstummte. Einen kurzen Augenblick sahen sich Mutter und Sohn schweigend an.
»Vater braucht dich in der Schmiede«, sagte Philip endlich.
Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht.
»Braucht er einen Arzt?«
»Nein, er braucht dich«, antwortete er.