Donnergrollen im Land der grünen Wasser

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Donnergrollen im Land der grünen Wasser
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Kerstin Groeper

Donnergrollen im Landder grünen Wasser

Für Rain, Blaize, Quintin, Cedar und Wade Jr.

und das Volk der Menominee, auf dass sie nicht vergessen

werden!

Donnergrollen im Land

der grünen Wasser

Historischer Roman

von

Kerstin Groeper


Impressum

Donnergrollen im Land der grünen Wasser, Kerstin Groeper TraumFänger Verlag, Hohenthann 2018

eBook ISBN 978-3-941485-65-5

Lektorat: Michael Krämer

Satz und Layout: Janis Sonnberger, merkMal Verlag

Datenkonvertierung: Readbox, Dortmund

Titelbild: Andrew Knez jr

Copyright by TraumFänger Verlag GmbH & Co. Buchhandels Kg,

Hohenthann

Produced in Germany

Inhalt

Maisblüte

Die Menominee

Maisernte

Machwao

Maiswinter

Hechtfluss

Der Kampf um Mabila

Juan de Anasco

Gefangenschaft

Steinemacher

Gewalt

Nach Norden

Hirschjagd

Über den Fluss

Tennessee Fluss

Awässeh-neskas

Winterlager

Verraten und verkauft

Ho-Chunk

Angriff

Rache

Witcawa

Ruhepause

Nomähpen kesoq – Die Rückkehr der Störe

Die Barrikade

Alibamo

Sopomahtek – Ahornsaft

Ohio-Fluss

Die große Reise

Casqui

Begegnungen

Pacaha

Folter

Terre de Haute

Neue Freunde

Chicago

Sekakok

Michigan-See

Quiguate

Shawano-Nuki

Beute

Die Portage

Illiniwek

Die Kaskaskia

Das Medizin-Spiel

Der große Fluss

Kaskaskia

Coligua

Wahkayoh

Vernichtung

Wasserlilie und Witcawa

Wanähsen Nuki

Heimreise

Chatah-Winter

Portage am Großen See

Regen

Heimkehr am Manomäh-Sipiah

Winteranfang am Menominee-Fluss

Wohin der Ahnherr sie führt

Das Versprechen

Der große weiße Bär

Winter bei den Menominee

Die Mounds der Ahnen

Awässeh Pameh

Nachwort und historischer Hintergrund

Die Schildkröteninsel/Florida/alias USA


Maisblüte

(Mabila im Süden der Schildkröteninsel)

Es war bereits das Ende des Sommers, der Frauenmond nahte und die Menschen freuten sich auf die Ernte des Maises und die Zeit des Überflusses. Maisblüte hielt die Spindel in kreisender Bewegung, während ihre Finger die Baumwollflocken zu langen Fäden zupften. Hin und wieder rollte sie den Faden auf die Spule. Sie summte vor sich hin und freute sich auf die kommenden Tage. Sie war als Jungfrau auserwählt worden, die Zeremonien vor der Maisernte zu begleiten. Der Mais stand hoch in den Feldern und die Kolben hatten bereits gelbe Blätter. Einige Wochen zuvor hatte sie das Fest des grünen Korns begleitet, um für eine gute Ernte zu beten. Doch jetzt würde die Ernte eingebracht werden und alle freuten sich auf die Erneuerung der Feuer und den Beginn des neuen Lebens.

Neben Maisblüte saß die Mutter an einem einfachen Holzrahmen und webte bereits an einem hellen Tuch. Ihre Hände waren alt und runzelig, trotzdem wand sie den Faden geschickt auf und ab und klopfte ihn mit einem Kamm aus Holz fest, sodass die Fäden eng beieinander lagen. So entstand ein langes Tuch, aus dem man Kleidung herstellen konnte. Sie lächelte, als sie ihre Tochter summen hörte. „Bist du schon aufgeregt?“

Maisblüte nickte. „Ja, es ist eine hohe Ehre, dem Heiligen Mann und Hashtali, dem Sonnenvater, zu dienen! Hoffentlich mache ich nichts falsch.“

Die Mutter nickte ernst. „Die Zeremonien sind wichtig! Wir werden eine gute Ernte haben und müssen beten, dass das Saatgut über den Winter nicht fault. Die Zeiten sind gut und dafür müssen wir danken. Auch die Männer haben viel Fleisch erlegt, sodass wir in der Zeit, in der das Gras stirbt, nicht hungern müssen.“ Ihre Stimme klang zufrieden.

Die beiden schwiegen, als sie sich wieder ihren Arbeiten widmeten. Es war bereits spät im Jahr und doch wehte eine laue Brise in die Chukka. Sie stand erhöht auf einem künstlich errichteten kleinen Hügel, sodass bei Regen oder Hochwasser das Innere der Behausung trocken blieb. Die Wände und das Dach waren aus einem Gestell aus Ästen erbaut worden, die mit Schilfmatten bedeckt wurden. Das Dach war so stabil, dass Männer darauf stehen konnten. Nur wenige Häuser waren erhöht, die anderen waren ebenerdig. Es zeugte von dem hohen Stand ihrer Familie, denn nur einige Chukkas hatten dieses Privileg. Ihr Dorf bestand aus gut zweihundert Hütten, die von einem stabilen Palisadenzaun umgeben waren.

Ihr Volk waren die Chatah oder auch Hacha hatak, das Volk vom Fluss, und ihr Minko war ein gefürchteter Krieger namens „Tuscalusa“, der schwarze Krieger. Zugleich war er auch der oberste Priester, der all das Wissen der Ahnen in seiner Person vereint hatte und so mit ihnen in Verbindung stand. Er war es, der die Gebete zum Sonnenvater schickte und für das Wohl des Volkes betete. Ihm zur Seite standen mehrere Hopaii, Heilige Männer, die die Zeremonien leiteten und den Minko unterstützten. Tuscalusa war ein mächtiger Mann, und damit war auch sein Volk stark und mächtig, sodass die letzten Winter eine Zeit des Friedens gewesen waren. Kaum ein Feind wagte es, die befestigten Dörfer anzugreifen. Tuscalusa griff mit harter Hand durch und ließ sich diesen Schutz von den anderen Dörfern mit Tributen bezahlen. Fremde, die in friedlicher Absicht kamen, wurden mit großer Gastfreundschaft bewirtet, doch Feinde wurden zur Abschreckung grausam gefoltert und die Überlebenden versklavt. Tuscalusa zählte auf Stärke und Abschreckung und nicht so sehr auf Verhandlungen.

Maisblüte genoss diesen Schutz. Als Mädchen konnte sie ungefährdet zum Badeplatz am Fluss gehen, im Wald Holz und Beeren sammeln oder auf den Feldern mit den anderen Frauen arbeiten. Sie erntete den weichen Flachs, der sich unter der Rinde des Maulbeerbaumes verbarg, und sammelte die Wolle der Baumwollpflanze, um daraus die Kleidung herzustellen. Sie konnte aber auch das Fell gerben und das Fleisch von der Jagdbeute verarbeiten, die der Vater brachte. Ihr Vater hieß „Große-Schlange“, und er gehörte zu den bevorzugten Kriegern des Häuptlings. Noch war er kräftig genug, um die Lanze oder den Bogen zu führen. Maisblüte hatte einen älteren Bruder, der bereits im Haus der unverheirateten Männer lebte.

Außerdem kümmerte sie sich um den kleineren Bruder, der erst sechs Winter zählte. Er hieß „Nanih Waiya“, Lehnender Hügel, in Erinnerung an die Herkunft ihres Volkes. Die Legende erzählte, dass ihr Volk einst weit im Westen gelebt hätte. Ein Hopaii, ein Heiliger Mann, führte sie über schneebedeckte Berge immer weiter nach Osten. Jeden Abend stellte er einen rotbemalten Stock in die Erde, der sich am Morgen stets nach Osten neigte. Erst, wenn der Stock aufrecht stehenbleiben würde, hätten sie ihre neue Heimat erreicht. So hatten sie diese Ebene mit ihren fruchtbaren Böden und fischreichen Flüssen gefunden. Damals hatte der Stamm zwei Brüder als Anführer gehabt. Der eine hieß Chatah, und die Legende besagte, dass auch dies auf ihren Stammesnamen zurückführte. Der andere hieß Chicksaw, der seine Leute nach Norden führte, um dort zu siedeln. Chatah hatte an der Stelle, an der der rotbemalte Stock aufrecht stand, einen Hügel aus Sand aufschütten lassen. Dort hatten die Menschen ihre Ahnen bestattet, deren Knochen sie auf der langen Reise mitgeschleppt hatten. Sie waren in Zedernholzrinde gewickelt und ehrenvoll zur letzten Ruhe gebettet worden. Frauen hatten in mühsamer Arbeit den Sand in Körben vom Flussufer herbeigeschleppt, und die Männer hatten Zedern gefällt und daraus einen hohen Hügel errichtet. Anschließend war der Hügel mit schwarzer Erde bedeckt und mit Baumschösslingen bepflanzt worden, damit Regen und Schnee das künstliche Bauwerk nicht abtrugen.

Nanih Waiya war ein symbolträchtiger Name, aber für Maisblüte war der kleine Bruder einfach nur ein ungezogenes Kind, das ihr an den Haaren zog oder die mühsam gesäuberte und weichgeklopfte Maulbeerbaumrinde durcheinanderbrachte, wenn er mit seinen Freunden in die Hütte stob, um sich etwas zu essen zu holen. Sie schimpfte nicht, denn das stand ihr als Schwester nicht zu. Auch die Mutter schimpfte nie, weil sie den Geist des Kindes nicht brechen wollte. „Er wird einmal ein großer Krieger!“, lächelte sie stets.

„Ja, groß darin, alles umzuwerfen!“, lästerte Maisblüte dann.

„Du musst Geduld haben, wenn du einst Mutter wirst!“

Maisblüte erwiderte daraufhin nichts. Ihre Mutter hatte ja recht. Also nahm sie ihren Bruder stets liebevoll in die Arme und bat ihn flüsternd um mehr Aufmerksamkeit. „Sieh nur, wie viel Arbeit das macht. Bitte, mach es nicht kaputt! Sonst habe ich ja gar keine Zeit, um dir etwas Leckeres zu kochen!“

Das half immer, denn ihr kleiner Bruder hatte einen schier unstillbaren Hunger. Sein kleiner brauner Körper drückte sich dann vertrauensvoll an sie heran, im Sommer nur mit einem kurzen Lendenschurz bekleidet, und seine Haare im kurzen Schnitt der kleinen Jungen.

Der Vater hatte die langen Haare eines Kriegers, die er zu einem hohen Zopf zusammendrehte und mit einem Haarband zusammenhielt. Auch er trug im Sommer nur einen kurzen Lendenschurz, aber seine Haut war teilweise mit Tätowierungen verziert, die davon zeugten, welch gefürchteter Krieger er war, denn die Tätowierungen waren Auszeichnungen für Tapferkeit. Wenn er die Hütte betrat, strahlte er Präsenz und Kraft aus. Alle Arbeiten ruhten dann und die Aufmerksamkeit richtete sich auf die Bedürfnisse des Vaters.

 

Maisblüte hatte schon früh gelernt, dem Vater das Essen zu reichen, die Muskeln zu massieren oder die Kleidung zu richten. Die Aufgaben waren verteilt, nur im Mond des Windes halfen die Männer auf den Feldern, weil das Umgraben der Felder oder das Anlegen neuer Felder für die Frauen zu anstrengend war. Die Aussaat und Pflege der Felder dagegen war Frauenarbeit, aber die Ernte wurde wieder von allen eingebracht, sogar von den Kindern, und ehe die frechen Vögel sich zu sehr bedienten. Die Kinder sammelten auch die Pekannüsse, aus denen schmackhafte Fladen gebacken wurden, oder sammelten andere Nüsse, Früchte und Beeren. Die Körbe waren bereits gut gefüllt, und die erhöhten Vorratsspeicher warteten auf den Mais. In der Sonne vor den Hütten trocknete Fisch auf hölzernen Gestellen und am Ufer wurden die Fischnetze für das nächste Frühjahr geflickt. Der Hash Tek Inhashi, der Frauenmond, war eine Zeit des Überflusses, aber auch der Feste und des Dankes an den Sonnenvater.

Maisblüte legte die Spindel zur Seite und hob prüfend das Gewand, das sie am nächsten Tag für die Zeremonie anziehen würde. Es war aus heller Baumwolle gewoben und mit einigen Fäden der dunklen Maulbeerbaumrinde durchsetzt. Das ergab ein schönes Muster. Sie wickelte das Tuch um ihren Körper und band es über der linken Schulter zu. Gehalten wurde das Tuch mit einem einfachen Gürtel aus einem breiten Stück Leder. So hatte sie beide Hände frei, um die Schalen und heiligen Dinge des Hopaii, des Heiligen Mannes, zu tragen. Ihre langen schwarzen Haare blieben offen und flossen in natürlichen Wellen über den hellen Stoff. Sie hatte dreizehn Mal das Gras sterben sehen, und bald würde sie ihre ersten Riten haben, die sie zur Frau machten. Sie war groß und schlank, noch mit der jugendlichen Spannkraft eines Kindes, aber bereits mit weiblichen Rundungen. Ihre Brüste standen hoch, noch nicht ausgezehrt vom Stillen der Kinder. Ihre Gesichtszüge waren fein, mit hochstehenden Wangenknochen, einer hohen Stirn und ausdrucksvollen schwarzen Augen. Sie war eine Zierde für jeden Mann, und ihr Vater erwartete als mögliche zukünftige Schwiegersöhne nur die besten Krieger. Noch galt sie als Kind, aber sie genoss bereits die bewundernden Blicke unverheirateter und manchmal auch verheirateter Männer. Im Sommer trug auch sie nur einen Schurz, der nichts von ihrer schlanken Gestalt verbarg.

„Du bist hübsch!“, lobte die Mutter bewundernd. Sie hieß „Langes-Schilf“ und ihre immer noch schlanke Figur betonte die Herkunft ihres Namens. Sie gehörte zum Isha des Wolfes, zum Clan des Wolfes, ebenso wie alle ihre Kinder, die den Status vor ihr geerbt hatten. Ihr Vater gehörte zum Clan des Windes.

Maisblüte kicherte und drehte sich einmal im Kreis. „Nicht wahr?“, forschte sie lobheischend.

Sie würde mit den anderen Mädchen durch die Reihen des Maises gehen und dem Hopaii die Schale reichen, mit dem der Mais gesegnet wurde. Erst dann würde das Volk die Kolben brechen und die Ernte in geflochtenen Körben einbringen. Jeder bekam seinen Anteil, doch ein Teil der Ernte würde in den Vorratsspeichern gestapelt werden. Die Chatah fürchteten Schlangen und bevorzugten daher hohe Plätze für ihre Vorräte. Maisblüte hatte auch noch andere Aufgaben, sodass sie in diesem Herbst nicht viel bei der Ernte helfen würde. Diese Ehre erhielt ein Mädchen nur einmal in seinem Leben.

Bereits im Hash Bissi, im Mond der Schwarzbeeren, hatte sie die Felder gesegnet und dabei einen Tropfen ihres Blutes vergossen, damit der Sonnenvater ihre Ernsthaftigkeit erkannte und ihnen eine gute Ernte bescherte. Wenn die Zeiten schwer waren, war auch schon mal ein Gefangener geopfert worden, von dem das Blut auf den Feldern verteilt worden war. Der Heilige Mann hielt das nicht für nötig, und so war seit längerem darauf verzichtet worden. Maisblüte konnte sich nicht daran erinnern, dass zu ihren Lebzeiten je ein Gefangener geopfert worden wäre. Aber jedes Mädchen schnitt sich in den Finger und gab sein Blut, um den Sonnenvater um den Segen zu bitten. Vielleicht war es ja besser, das eigene Blut zu geben, um zu flehen, und nicht das Blut eines Gefangenen, der um sein Leben gekämpft hatte.

Sie hatte schon erlebt, dass Gefangene ins Dorf gebracht und brutal getötet worden waren. Mit Keulen war auf sie eingeschlagen worden, bis sich keiner mehr rührte. Gleichgültig ob Männer, Frauen oder Kinder, Tuscalusa kannte kein Erbarmen mit ihnen. Maisblüte taten die Kinder leid, die sich an ihre Mütter klammerten und vor Entsetzen schrien. Meist reichte ein Schlag, und es wurde still, während der Todeskampf der Männer länger dauerte. Auch, weil man mit ihnen kein Mitleid hatte und somit die ersten Schläge nicht tödlich waren. Maisblüte hatte in diesem Sommer einmal einer solchen Zeremonie beigewohnt und anschließend beobachtet, wie die Seele eines Getöteten besänftigt worden war. Manchmal trat auch jemand vor und forderte einen Gefangenen für sich.

Maisblüte sah dies als gute Sache an, denn sie wusste von einigen, die inzwischen wertvolle Mitglieder des Stammes waren. Die Chatah waren ein reiches Volk, das es sich leisten konnte, ein paar Mäuler mehr durchzufüttern.

* * *

Im Westen neigte sich die Sonne über die Ebene und der kühle Abendwind ließ die Menschen frösteln. Tagsüber war es noch warm, aber nachts kühlte es merklich ab. Die Winter hier waren mild, meist ohne Schnee, aber mit langen Regenzeiten und kühlem Wind, der vom Meer her die salzige Luft brachte.

Die Mutter beugte sich über die Glut und blies vorsichtig hinein, um das Feuer wieder anzufachen. Sie brach einige trockene Zweige ab und wartete, bis sie Feuer fingen, und legte dann einige Scheite nach. Der Vater würde bald kommen und so machte sie sich daran, eine einfache Mahlzeit zuzubereiten. Sie hatte aus den ersten Pekannüssen in diesem Jahr gemischt mit Maismehl einige Fladen gebacken, die sie mit Fleisch füllte. Der Vater liebte dieses Essen! Der süßliche Geschmack des Fladenbrotes mischte sich mit dem herzhaften Geschmack des Fleisches und gab ihm so eine ganz eigene Würze.

Zwei weitere Frauen, die in ihrem Haushalt lebten, betraten die Hütte und setzten sich in den Hintergrund. Sie waren Sklavinnen, die tagsüber auf den Feldern arbeiteten oder andere niedere Dienste verrichteten. Die Mutter ignorierte sie, denn als hohe Frau sprach sie fast nie mit den Untergebenen. Sie ignorierte es auch, wenn der Mann sich manchmal zu ihnen legte, um seine körperlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Ein schwächliches Mädchen war bereits geboren worden, das aber den ersten Winter nicht überlebt hatte. Der Status der Frau hätte sich dadurch verbessern können, aber mit dem Tod des Kindes stand ihr dieses Privileg nicht mehr zu. Ihr Leib hatte sich wieder gerundet, und so hoffte der Mann auf einen weiteren Sohn. Langes-Schilf stand dem neuen Leben wohlwollend gegenüber und sorgte dafür, dass die Sklavin genug zu essen erhielt. Ein Kind hätte nicht den Status ihrer eigenen Kinder, aber es wäre ein vollwertiges Stammesmitglied, das auch den Status der Mutter ändern würde. Sie wäre dann eine untergeordnete Zweitfrau.

Der kleine Bruder schoss in die Hütte und ließ sich müde auf eine Matte gleiten. „Ich habe Hunger!“, maulte er.

Kommentarlos drückte ihm die Mutter einen Fladen in die Hand. Kinder durften immer essen, während die Frauen meist warteten, bis der Mann seinen Hunger gestillt hatte. Nanih Waiya stopfte das Essen hungrig in seinen Mund und erzählte dann kauend von seinen Heldentaten. „Wir haben heute Krebse gefangen!“

„Wirklich?“ Die Mutter lächelte gutmütig. „Und was habt ihr damit gemacht?”

„Na, eine Suppe gekocht! Wir haben alle aufgegessen!“

„Und dennoch hast du so einen Hunger?”, wunderte sich die Mutter.

Der Junge nickte wichtig. „Na, wir waren doch so viele!“ Er hob seine beiden Hände hoch, um die Zahl anzuzeigen. „Da bleibt nicht so viel für einen.“

Maisblüte kicherte hinter vorgehaltener Hand. „Wie viele Krebse habt ihr denn gefangen?“

„Vier Hände voll!“, erklärte der Junge stolz. „Jeder bekam zwei.“

„Nun, davon wird man wahrlich nicht satt!“, stimmte Maisblüte zu. „Das nächste Mal solltest du alleine fischen gehen. Dann kannst du alle Krebse essen und bist satt.“

„Das macht aber nicht so viel Spaß!“, weigerte sich das Kind. „Ich jage lieber mit meinem Stamm.“

„Aha, und wer ist dein Stamm?“

„Na, alle meine Freunde! Wir teilen alles!“

„Das ist lobenswert!”, meinte die Mutter. „Aber dann hungert ihr auch alle.“

„Nächstes Mal fangen wir mehr Krebse. Jetzt wissen wir ja, wie es geht!“ Nanih Waiya grinste frech. „Nächstes Mal bleibt so viel, dass ich euch auch was bringen kann!“ Er streckte seinen runden Bauch vor und strotzte vor Selbstbewusstsein.

„So, so!“ Die Mutter schüttelte ungläubig den Kopf. „Woher willst du das wissen?“

„Vater hat gesagt, dass er uns helfen wird!“

Die Mutter und Maisblüte lachten schallend und ernteten einen tadelten Blick des Jungen. „Wirklich!“, beteuerte er.

Die Mutter kicherte immer noch und strich ihrem Sohn über die Haare. „Aber sicher. Ich glaube dir und freue mich für dich. Ich möchte wirklich gerne etwas von dieser Krebssuppe probieren!“

Ihr Lachen erstarb, als der Vater die Hütte betrat. Seine eindrucksvolle Erscheinung flößte sofort Respekt ein. Er ließ sich auf einer Matte nieder und lächelte freundlich. „Warum habt ihr gelacht?“ Die Mutter zeigte auf den Sohn. „Er hat uns von seinem Jagderfolg erzählt. Und dass er wohl bald die ganze Familie ernähren kann!“

Der Vater schmunzelte erheitert. „Ja, ich zeige den Jungen morgen, wie sie Reusen bauen können, damit ihnen nicht so viele Krebse entwischen.“

„Siehst du!“, strahlte der Junge. „Vater hilft uns!“

Der Mann nahm den Jungen auf seinen Schoß und strich ihm über die Haare. „Du wirst einmal ein großer Jäger!“, bestätigte er den Eifer des Kindes.

* * *

Dann wurde es wieder still, als ein weiterer Mann die Hütte betrat. Aller Augen richteten sich voller Erstaunen auf den Ankömmling. Es war Tuscalusa, der Minko des Dorfes. Sofort verschwanden die Frauen und Kinder im Hintergrund, um den Gast im Gespräch mit dem Vater nicht zu stören. Es war verwunderlich, dass der Häuptling eigens zu ihnen kam, also musste es wichtig sein. Doch manchmal besprach er seine Pläne erst mit seinem Ersten Krieger, dem Tishominko, ehe er seine Entscheidung im Rat mitteilte. Als Tishominko leitete Große-Schlange auch Zeremonien für den Minko und galt als sein Sprecher.

Große-Schlange legte bescheiden den Kopf zur Seite und wartete, was Tuscalusa mit ihm besprechen wollte. Sie waren seit ihrer Kindheit miteinander befreundet, und Große-Schlange hatte noch nie das Vertrauen des Minkos verraten. Er behielt Stillschweigen über alles, was Tuscalusa ihm anvertraute, und verlangte das Gleiche von seiner Familie. Mit einer Handbewegung schickte er den Jungen nach draußen zum Spielen. Er war noch zu klein, um Geheimnisse zu hüten.

Gehorsam huschte Nanih Waiya aus der Chukka und hoffte, noch einige Freunde zu finden, mit denen er ein weiteres Abenteuer erleben konnte. Was die Erwachsenen zu erzählen hatten, war bestimmt langweilig. Auf ein Nicken hin verschwanden auch die beiden Sklavinnen. Große-Schlange tätschelte kurz über den Bauch der Frau und schenkte ihr ein wohlwollendes Lächeln, ehe sie durch den Türvorhang verschwand.

Tuscalusa nickte dankbar und griff dann nach einer kleinen Pfeife, die Große-Schlange ihm reichte. Die beiden Männer schwiegen eine Weile, dann runzelte Tuscalusa besorgt die Stirn. „Ich habe Kunde von den Völkern im Osten”, begann er langsam. „Sie erzählen merkwürdige Dinge.“

Große-Schlange senkte den Blick und hörte aufmerksam zu. Sie hatten ein weitreichendes Handels- und Nachrichtennetzwerk, und so war es nicht ungewöhnlich, dass sie über Ereignisse informiert wurden, die in anderen Teilen des Landes stattfanden.

„Reisende aus einem fernen Land sind unterwegs zu uns”, erzählte der Minko weiter. „Sie kommen nicht von unserer Insel, sondern aus einem Land jenseits des Meeres. Sie tragen seltsame Kleidung, die an den Panzer eines Käfers erinnert, und sie haben fremde Waffen und seltsame Tiere bei sich. Sie sind sehr kriegerisch und unterwerfen die Dörfer, durch die sie kommen. Sie plündern die Vorräte, nehmen sich die Frauen und Männer und versklaven sie.“ Der Häuptling zögerte verunsichert. Man konnte sehen, dass er nicht wusste, wie er diese Nachrichten einordnen sollte.

 

„Und sie sind auf dem Weg hierher?“, fragte Große-Schlange.

„Ja! Mir wurde berichtet, dass Häuptling Coosa gefangen gehalten wird und dass viele seines Volkes für die Fremden die Lasten tragen müssen. Die Fremden wandern den Piachi-Fluss entlang und stehen kurz vor Talisi.“

Große-Schlange machte eine abfällige Handbewegung. „Wir sind nicht wie Coosa! Sollen sie nur kommen!“

Tuscalusa lächelte ohne Humor. „Es kann nicht schaden, erst einmal zu spähen, wer diese Fremden sind! Ich kämpfe nicht gern gegen einen Gegner, den ich nicht kenne. Erst muss ich wissen, wie viele Fremde es sind, welche Waffen sie tragen und wie ihre Kampfkraft ist. Ich sehe es als Warnung, dass es ihnen gelungen ist, Coosa gefangen zu nehmen. Diese Fremden sind gefährlich, denn wenn sie erst den Minko eines Dorfes haben, dann versklaven sie auch das Volk.“

Große-Schlange runzelte die Stirn und warf einen Zweig ins Feuer. Sein Häuptling war nicht nur stark, sondern auch vorsichtig und überlegt. „Und wenn du einen Boten schickst? Du könntest eine Einladung schicken und inzwischen den Feind ausspähen, während du Vorbereitungen für einen Angriff triffst.“

Tuscalusa verzog schmunzelnd die Mundwinkel. „Ich dachte genau das! Ich werde meinen Sohn schicken, als Zeichen meiner Wertschätzung, aber du wirst die Krieger der anderen Dörfer hier in Mabila zusammenziehen. Vielleicht gehe ich diesen Fremden sogar entgegen und wiege sie in Sicherheit. Doch sollten sie mich dabei gefangennehmen, dann vertraue ich darauf, dass du mich wieder befreist. Für das Wohl des Volkes und für das Andenken an die Ahnen.“

„Ein Minko sollte sich dieser Gefahr nicht aussetzen. Du solltest ihnen nicht zu weit entgegengehen!“, warnte Große-Schlange seinen Freund.

Tuscalusa zischte abfällig durch die Zähne. „Nur bis Atahachi. Das Dorf ist befestigt und die Chukka des Minkos dort bietet einen würdigen Rahmen, um diese Fremden zu begrüßen. Von dort locke ich sie nach Mabila. Dann werden wir wissen, wie ihre Kampfkraft ist. Ich werde den Hopaii und die Jungfrauen mitnehmen, um unsere Dörfer vor Hexerei und bösem Zauber zu schützen. Außerdem wird es die Fremden in Sicherheit wiegen.“

Große-Schlange schloss für einen kurzen Augenblick die Augen, denn das würde bedeuten, dass auch seine Tochter den Minko begleitete. Wäre sie in Sicherheit? Andererseits war es ihre Pflicht, dem Minko und dem Hopaii zu dienen und das Volk vor Unheil zu bewahren. Er warf einen Blick in den Hintergrund der Chukka, wo seine Tochter still an irgendetwas arbeitete. Auch sie hatte innegehalten und blickte ihn erschrocken an. Dann senkte sie die Augen und arbeitete weiter. Sie würde gehorchen und das tun, was von ihr erwartet wurde. Dann entspannte sich Große-Schlange wieder. Der Minko würde sicherlich nicht sein Leben gefährden. Und das des Hopaii auch nicht. Große-Schlange machte eine abschließende Handbewegung. „Ich werde dich nicht enttäuschen und alles für einen Kampf vorbereiten.“

„Nur wenn es nötig ist!“, meinte Tuscalusa sinnend. „Aber die Nachrichten meiner Kundschafter sind beunruhigend. Es ist besser, wir sind vorbereitet.“

„Was ist mit der Ernte?“, fragte Große-Schlange nachdenklich.

Der Minko seufzte schwer. „Nichts. Wir segnen morgen die Felder und bringen die Ernte ein. Es werden Tage vergehen, ehe mein Sohn die Fremden erreicht. Ich selbst werde in einigen Tagen aufbrechen, um sie in Atahachi zu empfangen. Das gibt auch dir Zeit, die Krieger zu versammeln. Die Maisernte ist wichtig. Erst dann schicke Boten aus, die die Männer zusammenrufen.“ Mit einer schnellen Bewegung stand er auf, und auch Große-Schlange erhob sich, um seinem Freund Respekt zu zollen. Der Häuptling umarmte seinen Freund kurz und flüsterte ihm eine Warnung ins Ohr: „Pass auf! Meine Träume sind nicht gut!“

Große-Schlange erschrak zutiefst und sah seinem Freund nach, als dieser die Hütte verließ. Schlechte Träume waren immer eine Bedrohung.