Seewölfe - Piraten der Weltmeere 75

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 75
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Impressum

© 1976/2014 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

ISBN: 978-3-95439-392-3

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

1.

„Deck ho! Rauchzeichen Steuerbord voraus!“

Die Stimme Donegal Daniel O’Flynns klang dünn in der endlosen Weite. Die „Isabella VIII.“ segelte über Backbordbug mit halbem Wind nach Westen, Jamaica lag querab. Philip Hasard Killigrew stand an der Schmuckbalustrade des Achterkastells und folgte mit leicht zusammengekniffenen Augen der Küstenlinie.

Das undurchdringliche Grün tropischer Vegetation bedeckte die Insel. Es war nur ab und zu von roten Felsen aufgerissen und von den weißen, geschwungenen Linien der Sandbuchten unterbrochen.

Kopfschüttelnd stellte Hasard fest, daß man schon Dan O’Flynns Falkenaugen haben mußte, um über den grünen Buckeln irgend etwas anderes zu erkennen als das opalisierende Geflimmer der heißen Luft. Er griff zum Spektiv und schwenkte langsam die Küste ab. Rote, felsige Landzungen begrenzten eine der Buchten. Sie schnitt tief ins Land – und tatsächlich stieg eine dünne graue Rauchfahne in den Himmel.

„Ein Eingeborenen-Feuer“, sagte Ben Brighton, der neben den Seewolf getreten war.

Unten auf der Kuhl hatten sich ein paar Männer versammelt und spähten angestrengt in die Richtung, die Dan O’Flynn angegeben hatte. Aber ohne Spektiv sahen sie nur die verwirrenden Schleier des Sonnenglasts. Mit Dans scharfen Augen konnte niemand aus der Mannschaft konkurrieren.

Edwin Carberry, der Profos, schob sein zernarbtes Rammkinn vor.

„Ich will verdammt sein, wenn da was raucht“, sagte er. Und mit zurückgelegtem Kopf rief er: „He, Dan, du gepökelter Hering, wo soll da denn Rauch sein, was, wie?“

„Es ist Rauch“, sagte Hasard ruhig. Er ließ das Spektiv sinken. „Anluven!“ befahl er. „Wir gehen höher an den Wind!“

„Aye, aye, Sir!“ ertönte Pete Ballies Stimme vom Ruder.

Seine mächtigen Fäuste drehten das Rad. Die Rahen wurden dichter geholt. Der neue Kurs führte die „Isabella“ näher an die Insel heran, und im handigen Wind dauerte es nicht lange, bis die dunkle Wand des tropischen Urwalds und die Federwipfel der Palmen deutlicher aus dem Hitzegeflimmer traten.

„Und wo, zum Teufel, ist jetzt der Rauch?“ brüllte Carberry mit seiner Donnerstimme.

„Verschwunden!“ Sam Roskill grinste. „Wahrscheinlich, weil du mal wieder so viel Wind machst.“

„He, du Rübenschwein! Willst du vielleicht behaupten …“

„Da ist es wieder!“

Luke Morgan wies aufgeregt zu der Bucht hinüber, der sie sich näherten.

Die Rauchfahne ließ sich jetzt auch mit bloßem Auge erkennen. Eben noch war sie verschwunden gewesen, jetzt stieg sie erneut in den Himmel. Der Wind trieb die dünnen grauen Schlieren sofort auseinander. Wieder war für eine Weile nichts zu sehen, dann quoll von neuem Rauch hoch, diesmal in einer dicken dunkelgrauen Wolke.

„Jemand geworfen grünes Blätter in Feuer“, radebrechte Batuti, der riesige Gambia-Neger, in seinem schauderhaften Englisch. „Rauchzeichen, ganz klar! Grünes Blätter nicht gut für Feuer zum Kochen.“

Damit hatte er zweifellos recht. Ben Brighton warf Hasard einen fragenden Blick zu. Der Seewolf zuckte mit den Schultern.

„Das kann alles mögliche bedeuten“, sagte er. „Eingeborene, Piraten – der Teufel mag es wissen.“

„Nicht Feuer zum Kochen“, wiederholte Batuti seine Weisheit. „Grünes Blätter ungeeignet.“

„Und ein Feuer zum Wärmen bestimmt auch nicht“, erklärte Carberry. „Bei dieser Hitze kocht einem ja sowieso das Wasser im Hintern.“ Wieder wandte er sein zernarbtes Gesicht der Großmars zu. „He, Dan! Kannst du nicht deine verdammten Augen aufreißen und herauskriegen, was da los ist?“

„Reiß sie doch selber auf!“ rief Dan aus der Sicherheit der Großmars. „Nichts zu erkennen“, meldete er dann. „Das Feuer brennt hinter einem Felsen. Der Stein versperrt die Sicht, da können wir noch so nah heransegeln.“

Hasard nickte nur. Dan O’Flynn starrte noch eine Weile zu der Bucht hinüber, dann verließ er seinen luftigen Ausguck und enterte ab. Arwenack, der Schimpanse, folgte ihm keckernd und sicherte sich einen Logenplatz auf Ed Carberrys breiter Schulter.

Der Profos war zu sehr mit seinen Mutmaßungen beschäftigt, um den Affen zu vertreiben. Drüben auf der Insel hatte sich die Rauchwolke inzwischen aufgelöst. Doch schon waberte die nächste hoch, dann wieder eine, nach einiger Zeit die dritte.

Schweigend beobachteten die Seewölfe das merkwürdige Schauspiel. Kein Zweifel: die Rauchzeichen hielten einen bestimmten Rhythmus ein. Mal stärker, mal schwächer, dann vergingen sie und blieben jedesmal für eine Weile verschwunden, bis das Ganze wieder von vorn begann. Viermal hatte sich der Vorgang bereits wiederholt, und es sah nicht so aus, als werde der Unbekannte in der Bucht so schnell aufgeben.

„Leute von Schiff gebrochen“, sagte Batuti.

„Schiffbrüchige meinst du?“ Dan grinste. „Wäre immerhin möglich. Oder vielleicht sind es Eingeborene, die sich gegenseitig etwas signalisieren.“

Hasard schüttelte den Kopf. „Die Indianer zünden in solchen Fällen ihre Feuer auf Berggipfeln an. Nein, Batutis Vermutung hat schon etwas für sich. Irgend jemand scheint da Hilfe zu brauchen.“

„Und wenn es eine Falle ist?“ sagte Ben Brighton mißtrauisch.

„Wenn es eine Falle ist, werden die Kerle ihr blaues Wunder erleben“, sagte Carberry grimmig. „Denen ziehe ich die Haut in Streifen von ihren Affenärschen. Die werden …“

„Warte erst mal ab, bis wir dort sind“, sagte Hasard trocken. „Wir segeln in die Bucht. Klar zum Wenden! An die Brassen! Ruder hart über!“

Von einer Sekunde zur anderen kam Bewegung in die Mannschaft.

Blitzartig war jeder an seinem Platz, Pete Ballies Fäuste wirbelten das Rad herum. Die „Isabella“ ging elegant durch den Wind, der jetzt über den anderen Bug einfiel, und wenig später rauschte sie auf die Bucht zu, über der immer noch Rauchzeichen in den blauen Himmel stiegen.

„Fallen Anker!“

Die Trosse rauschte aus. Mit aufgegeiten Segeln schwoite die „Isabella“ im blauen Wasser der Bucht. Der Anker faßte Grund. Hasard sprang geschmeidig auf die Kuhl hinunter.

Mit zusammengekniffenen Augen spähte er zum Strand hinüber. Von den Rauchzeichen war schon seit einigen Minuten nichts mehr zu sehen, nur die Luft flimmerte noch über dem roten Felsen, der das Feuer verdeckte. Wind wühlte in den Federwipfeln der Palmen, das trockene Reiben der aneinanderklatschenden Wedel füllte die Luft.

Hasards Blick streifte über die dunkle, abweisende Wand des Dikkichts. Wenn der Urheber der Rauchzeichen tatsächlich Hilfe brauchte, hätte er sich jetzt eigentlich zeigen müssen. Aber der weiße, sanft geschwungene Bogen des Sandstrands lag leer in der Sonne. Kein menschliches Wesen ließ sich sehen – und jetzt wurde auch Hasard allmählich neugierig.

Er hatte es nicht eilig und konnte sich den Abstecher leisten. Auf der Schlangen-Insel würde er ohnehin auf Siri-Tong und Jean Ribault warten müssen. Die Rote Korsarin hatte sich entschlossen, den schwarzen Segler El Diablos zu übernehmen, jenes geheimnisvolle Schiff, dessen Rätsel längst noch nicht alle gelöst waren. Thorfin Njal, der Wikinger, dessen Schaluppe bei dem Unglück am Auge der Götter zerstört worden war, würde als Steuermann unter Siri-Tong fahren. Aber um den schwarzen Segler instandzusetzen, war noch eine Menge an Ausrüstung nötig, und die „Isabella VIII.“ würde die Schlangen-Insel auf jeden Fall früh genug erreichen.

Hasard befahl, ein Boot auszusetzen.

Minuten später pullten sie zum Strand hinüber: der Seewolf, Ben Brighton, Ed Carberry und Dan O’Flynn.

Vom Deck der „Isabella“ sahen ihnen die anderen nach und beobachteten gespannt die Bucht. Immerhin konnten sie Ben Brightons Meinung, daß es sich vielleicht um eine Falle handelte, nicht ganz von der Hand weisen. Notfalls würde es nur Sekunden dauern, ein zweites Boot abzufieren, und Hasard hatte vorsichtshalber die Drehbassen besetzen lassen.

Kräftige Riemenschläge trieben das Boot durch das Wasser, dessen dunkles Blau beträchtliche Tiefe ahnen ließ. Erst unmittelbar am Strand veränderte sich die Farbe und spielte ins Gelblich-Grüne.

Sand knirschte unter dem Kiel. Die Männer sprangen ins seichte Wasser. Der bärenstarke Ed Carberry zog das Boot mit einem einzigen kräftigen Ruck auf den Strand.

Hasard sah sich aufmerksam um. Er spürte die Hitze wie ein Gewicht, das auf sie niederfiel. Der Wind, der die Palmenwipfel bewegte, war hier unten im Schutz der roten Felsen nicht zu spüren, die Luft schien zu kochen.

Carberry wischte sich den Schweiß von der zernarbten Stirn und fluchte.

 

„Verdammter Backofen! Wer bei dieser Hitze noch Feuer macht, muß wirklich sehr dringend Hilfe brauchen.“

„Und warum versteckt sich der Kerl dann?“ fragte Dan O’Flynn.

„Wir werden ihn fragen, wenn wir ihn treffen.“ Hasard grinste matt und vollführte eine ausholende Bewegung. „Ben und ich marschieren direkt zu dem Felsen. Dan und Ed, ihr haltet euch etwas weiter rechts und deckt uns notfalls den Rücken.“

„Aye, Sir …“

Der stämmige Profos und der schlanke blonde Dan O‘Flynn wandten sich ab und schlugen einen Bogen. Hasard und Ben Brighton gingen durch den heißen Sand direkt auf den Felsen zu, einen riesigen, scharf gezackten Brokken, der von irgendwelchen Naturgewalten auf den Strand geschleudert worden war.

Unmittelbar dahinter stieg das Gelände terrassenförmig an, die Palmen folgten dem Verlauf der Bucht wie ein Gürtel. Aus dem Wald dahinter drangen das Lärmen von Affen und das Kreischen tropischer Vögel.

Hasard lauschte angespannt und konzentrierte sich ganz auf die Umgebung, aber er wußte, daß es so gut wie ausgeschlossen war, irgendwelche leisen Geräusche rechtzeitig zu hören.

Mit ein paar Schritten umrundete er den Felsblock.

Ben Brighton blieb dicht hinter ihm. Eine flache, fast kreisrunde Mulde lag vor ihnen. Rundgewaschene Steine schützten die Feuerstelle in der Mitte. Das Treibholz, das das Feuer gespeist hatte, glomm noch schwach, und die herumliegenden Zweige bewiesen, daß Batuti recht gehabt hatte mit seiner Vermutung über „grünes Blätter“.

Jemand hatte auf diese einfache Weise versucht, Rauchzeichen in einem bestimmten Rhythmus zu geben.

Aber warum war er geflohen? Und wo steckte er jetzt? Hasard runzelte die Stirn und spähte aufmerksam in die Runde. Dann winkte er Dan und Carberry zu, die sich in einiger Entfernung postiert hatten.

Jetzt traten die beiden ebenfalls heran. Kopfschüttelnd betrachtete der Profos die verlassene Feuerstelle.

„Verrückt“, brummte er. „Glaubt dieses Rübenschwein vielleicht, wir würden die ganze Insel nach ihm absuchen? Der will uns wohl auf den Arm nehmen?“

„Jedenfalls hat es keinen Sinn, hier herumzustehen“, sagte Hasard. Mit einer ärgerlichen Bewegung strich er sich das schwarze Haar aus der Stirn. „Rudern wir zurück! Offenbar sind wir auf einen Witzbold hereingefallen.“

Er wollte sich schon abwenden, da hielt ihn Dan am Ärmel fest.

Dan O‘Flynn hatte sich umgesehen. Und er hatte nun einmal von allen Männern der Isabella-Crew die schärfsten Augen. Für ihn war auch die grüne Wildnis jenseits des Palmengürtels nicht völlig undurchdringlich. Seine Augen funkelten erregt, als er sich zu Hasard beugte.

„Da drüben“, flüsterte er. „Hinter dem Stamm der umgestürzten Palme!“

Der Seewolf spähte aus den Augenwinkeln hinüber. Er glaubte, einen Schatten wahrzunehmen, aber er war seiner Sache nicht sicher.

Dan O‘Flynn dagegen wußte genau, was er gesehen hatte.

„Ein Gesicht“, flüsterte er. „Da war ein Gesicht zwischen den Zweigen. Irgend jemand versteckt sich da drüben in den Büschen.“

2.

Für ein paar Sekunden blieben die Männer ruhig stehen, ohne sich anmerken zu lassen, daß sie den unbekannten Beobachter bemerkt hatten.

„Ein Indianer?“ fragte Hasard leise.

„Nein, ein Weißer. Glaube ich jedenfalls“, schränkte Dan ein. „Ziemlich jung. Besonders kampflustig sah er nicht aus.“

„Sehr beruhigend“, sagte Hasard sarkastisch. „Also sehen wir uns den Burschen mal an. Oder wollt ihr lieber erst Verstärkung holen?“

Er grinste, als er Dans verdattertes Gesicht sah. Ed Carberry brummelte etwas, das sich nach seinem Lieblingsspruch anhörte, bezogen auf den Achtersteven des Unbekannten. Der Seewolf war bereits herumgeschwungen. Ohne Hast ging er auf die Stelle zu, wo er eine Bewegung und Dan ein verängstigtes Gesicht gesehen hatte.

Der Felsengrund wurde hier nur von einer dünnen Schicht Erde bedeckt, die Palmen stürzten um, wenn sie eine bestimmte Höhe erreicht hatten. Hasard flankte über einen der toten Stämme – und in derselben Sekunde wurde es vor ihm im Gebüsch lebendig.

Die Zweige teilten sich.

Wie ein Kastenteufel schnellte eine magere Gestalt hoch, warf sich herum und zeigte die Fußsohlen. Für ein paar Sekunden hatte Hasard das bleiche, schreckverzerrte Gesicht eines Jungen erkannt, der nicht älter als vierzehn oder fünfzehn Jahre sein konnte – jetzt schien das Kerlchen nur noch aus wirbelnden Beinen zu bestehen.

Und noch jemand verwandelte sich von einer Sekunde zur anderen in einen leibhaftigen Wirbelwind: Dan O‘Flynn, der wie ein geölter Blitz hinter dem Jungen hersauste.

Auch Ben Brighton, Ed Carberry und der Seewolf setzten sich in Bewegung. Hasard war grimmig entschlossen, dem seltsamen Zwischenspiel jetzt auf den Grund zu gehen. Er hatte nicht den Kurs geändert und mit der „Isabella“ diese Bucht angelaufen, um sich von einem halbwüchsigen Bürschchen auf der Nase herumtanzen zu lassen.

In einem raumgreifenden, beinahe lässigen Wolfstrab lief er über den felsigen Boden, sprang über ein paar Palmenstämme und überholte mühelos Dan O‘Flynn, der sich mit seinem Laufstil viel zu sehr verausgabte.

Der Flüchtende riß entsetzt den Kopf herum, als er die Schritte des Verfolgers hörte. Seine Augen wurden weit, das schmale Gesicht verzerrte sich vor Schrecken. Immer noch lief er, so schnell er konnte. Aber er hatte für einen winzigen Moment nicht aufgepaßt – und schon verhakte sich sein Fuß hinter einer vorstehenden Felsenkante.

Aufschreiend stolperte er, verlor das Gleichgewicht und stürzte.

Wie eine Katze rollte er herum, wollte wieder hochschnellen und begriff, daß es zu spät war. Hasards Schatten fiel über ihn, auch die anderen Männer stürmten heran. Mit einem schluchzenden Laut ließ sich der Junge zurückfallen und hob schützend die Arme vor das Gesicht, als fürchte er, geschlagen zu werden.

„Gracia! Gracia! No matar! Por favor …“

Die helle Stimme überschlug sich. Zitternd blieb der Junge liegen, jeder Muskel und jede Sehne seines mageren Körpers war so krampfhaft angespannt vor Furcht, daß sie deutlich unter der Haut hervortrat.

„No matar!“ wiederholte er wimmernd. „Nicht töten …“ Helles Entsetzen flackerte in den aufgerissenen Augen, als der Seewolf sich über ihn beugte und nach seiner Schulter griff.

„Tranquilo …“ Ohne darüber nachzudenken, verfiel Hasard ins Spanische, da auch der Junge diese Sprache gesprochen hatte. „Ruhig, Muchacho …“

Er versuchte, dem Kerlchen auf die Beine zu helfen, doch die hagere Gestalt krallte sich förmlich in den Boden. Kopfschüttelnd wandte sich der Seewolf Ben Brighton zu. „Ganz schön fertig, der Kleine! Er muß irgendeinen Schock abgekriegt haben.“

„Sieht ganz so aus. Ich denke …“

Der Junge ließ die Hände sinken, die er vor das Gericht geschlagen hatte.

Er zitterte immer noch, als er sich halb herumwälzte. Seine Lider zogen sich so weit auseinander, daß das Weiß der Augäpfel schimmerte.

„Ihr – ihr seid gar keine Spanier?“ stammelte er, jetzt auf Englisch.

„Ha!“ schrie Ed Carberry. „Sehe ich vielleicht wie ein gottverdammter Don aus, was, wie? Wenn du mich beleidigen willst, ziehe ich dir die Haut in Streifen …“

„Jetzt halt mal die Luft an, Ed!“ sagte Hasard. „Wir sind Engländer“, wandte er sich an den Jungen. „Du hast nichts von uns zu befürchten. Wir haben die Rauchzeichen gesehen und glaubten, daß vielleicht jemand Hilfe braucht.“

Der Junge schluckte.

Jetzt endlich ließ er sich von Hasard aufhelfen, aber besonders sicher stand er nicht auf den Beinen. Scheu wanderte sein Blick von einem zum anderen und blieb schließlich an dem großen, schwarzhaarigen Mann mit den eisblauen Augen hängen.

„Warst du es, der die Rauchzeichen gegeben hat?“ fragte Hasard.

Das Kerlchen nickte. „Ja, das war ich. Aber dann – dann konnte ich das Schiff deutlicher sehen und dachte, es sei ein Spanier. Ich kenne die Dons. Lieber will ich sterben, als denen noch einmal in die Hände zu fallen …“ Seine Stimme versagte, und wie ein Krampf lief es über seine Schultern. „Ich heiße Bill“, fügte er leise hinzu.

Hasard lächelte, als er seinen Namen nannte. Die Augen des Jungen wurden groß.

„Sie – Sie sind der Seewolf?“ flüsterte er.

„Du kennst mich?“

„Jeder in der Karibik kennt Sie, Sir!“ Das war zwar übertrieben, aber immerhin traf es für jeden zu, der in der Karibik Schiffsplanken unter den Füßen hatte. Für einen Moment leuchtete der Blick des Jungen auf, doch dann verdüsterte sich sein Gesicht wieder. „Wir sind auch Engländer“, sagte er heiser. „Wir hatten schon die Hoffnung aufgegeben, jemals wieder auf Landsleute zu treffen.“

Hasard horchte auf.

„Wir?“ echote er gedehnt. „Ihr seid mehrere?“

„Nur mein Vater und ich. Er ist krank. Seit wir von der spanischen Galeone geflüchtet sind, hat er sich nicht mehr erholt. Ich weiß nicht, was mit ihm los ist, ich …“

Bills Stimme erstickte. Tränen schossen ihm in die Augen – Tränen, die er nicht zurückhalten konnte, obwohl er verzweifelt versuchte, sich zusammenzunehmen. Hasard ahnte, daß sich hier eine Tragödie abgespielt haben mußte. Auch die anderen schwiegen betroffen. Nicht einmal dem rauhbeinigen Carberry wäre es eingefallen, einen seiner berüchtigten Sprüche vom Stapel zu lassen.

„Nun heul mal nicht gleich“, knurrte er gutmütig. „Wird schon wieder werden. Wir sehen uns mal an, was da los ist, oder?“

Hasard nickte nur und legte dem schluchzenden Jungen beruhigend die Hand auf die Schulter. Bill schluckte und fuhr sich über das nasse Gesicht.

„Es ist nicht weit“, sagte er. „Dort drüben zwischen den Büschen und dem Palmenhain.“

Er ging voran. Hastig, ab und zu stolperte er. Das Zucken der schmalen Schultern verriet, daß er immer noch gegen die Tränen kämpfte.

Schweigend folgten ihm der Seewolf und seine Männer. Der Wald schob sich an dieser Stelle wie ein dunkler Keil auf den Strand zu, und sie mußten einen Streifen Dickicht durchqueren. Bill wandte sich um, als er ein paar Schlingpflanzen auseinanderbog und einen schmalen Pfad einschlug.

„Ein Schweinesteig“, erklärte er. „Es gibt Wildschweine hier. Und Früchte in Hülle und Fülle. Es ist auch ein Dorf in der Nähe.“

„Und wie verhalten sich die Eingeborenen zu euch?“

„Sie sind freundlich. Aber wir haben nicht gewagt, bei ihnen unterzuschlüpfen. Die Dons gehen manchmal auf Jamaica an Land und durchstreifen die Dörfer.“

Die Dons!

Hasard dachte an seine eigenen Erlebnisse mit den Spanieren, die wie eine Gottesgeißel über die Eingeborenen der neuen Welt hergefallen waren, ganze Völkerschaften versklavt hatten und blutigen Terror verbreiteten.

Englische Freibeuter, ausgestattet mit Kaperbriefen der Königin, hatten ihnen im Laufe der Zeit erheblichen Schaden zugefügt. Wo immer die Spanier hier in der Karibik eines Engländers habhaft wurden, nahmen sie blutige Rache, und Hasard konnte die Furcht des mageren schwarzhaarigen Jungen durchaus verstehen.

Inzwischen hatten sie den Waldstreifen hinter sich. Das Dickicht wurde lichter, grüngoldene Sonnenflecken tanzten über den Boden. Auch hier schien die Luft zu kochen. Das Rauschen und Murmeln eines kleinen Bachlaufs erklang, Myriaden von Insekten summten. Die Wipfel eines Palmenhains wiegten sich sacht im Wind.

Die Hütte im Schatten zwischen den schlanken Stämmen war erst auf den zweiten Blick zu sehen.

Eine primitive Hütte. Fensterlos, gedeckt mit einem geflochtenen Dach aus Palmblättern. Zum Schutz gegen Schlangen ruhte sie auf einem einfachen Pfahlgerüst. Im Innern der Behausung mußte die Hitze unerträglich sein, denn der Bewohner kauerte halb, halb lag er vor der Hütte auf dem Boden.

Beim Geräusch der Schritte hatte er versucht, sich aufzurichten – jetzt sank er kraftlos gegen den Holzbalken zurück.

Sein Atem rasselte. Ein dichter grauer Vollbart bedeckte den unteren Teil des ausgezehrten Gesichts, die tief eingesunkenen Augen waren rot und entzündet. Flatternd hob sich seine Hand zu einer Geste, als er den schwarzhaarigen Jungen erkannte. Bill lief mit einem erstickten Laut auf den alten Mann zu und sank neben ihm auf die Knie.

„Vater! Ich habe Hilfe gebracht. Es sind Engländer, Vater! Es ist der Seewolf!“

Der alte Mann hob den Blick.

Einen unendlich müden Blick, erschöpft und wie ausgebrannt. Er sah Ben Brighton an, den blonden Dan O‘Flynn, den eisenharten Profos mit seinem zernarbten Gesicht, schließlich den Seewolf. Fast eine volle Minute schien der Alte zu brauchen, um den Anblick der vier Männer in sich aufzunehmen, und dann war es, als würden seine leeren Augen noch einmal von einem letzten Aufflacker des schon ersterbenden Lebensfunkens erhellt.

 

„Der Seewolf“, flüsterte er. „Engländer – dem Himmel sei Dank.“

Seine Lider schlossen sich, als hätten die Worte den letzten Rest seiner Kraft verbraucht. Der Junge neben ihm schluchzte leise, und Hasard fühlte, wie sich etwas in ihm verkrampfte, als er Bills fragendem Blick begegnete.

Auch die anderen schwiegen erschüttert.

Denn genau wie der Seewolf hatten sie nur einen einzigen Blick gebraucht, um zu sehen, daß der bärtige alte Mann bereits vom Tode gezeichnet war, daß nichts und niemand ihm noch helfen konnte.

Auch Bill wußte, daß sein Vater sterben würde. Seine Tränen bewiesen es, und dennoch brannte noch etwas wie ein Hoffnungsfunke in seinen Augen, wehrte sich sein Bewußtsein gegen die Endgültigkeit der Erkenntnis. Er starrte den Seewolf an, als erwarte er ein Wunder von ihm.

Hasard biß die Zähne zusammen.

„Lauf zum Strand zurück, Dan“, sagte er gepreßt. „Hol den Kutscher!“

Dan O‘Flynn nickte nur und sprang auf. Er wußte so gut wie die anderen, daß auch der Kutscher, Koch und Feldscher auf der „Isabella“, den alten Mann nicht mehr retten konnte. Aber Hasard wollte wenigstens versuchen, dem Kranken zu helfen – und wenn auch nur, damit Bill das Gefühl hatte, daß alles Menschenmögliche für seinen Vater getan worden war.

Der Junge blickte Dan nach, der wie eine Katze zwischen den Büschen verschwand. Auch der Alte hatte jetzt wieder die Augen geöffnet. Augen, die fiebrig glänzten und deren Blick Hasards Gesicht suchten.

Der Seewolf ging neben der ausgemergelten Gestalt in die Hocke. Der unruhige Blick des Alten sog sich an ihm fest, die trockenen, aufgesprungenen Lippen bewegten sich. Er hatte etwas auf dem Herzen. Er wollte reden, und noch einmal sammelte er seine schwindende Kraft zu einer letzten Anstrengung.

Schweigend und gebannt lauschten die Seewölfe der schwachen, brüchigen Stimme, die ihre traurige Geschichte erzählte.

Bill und sein Vater waren auf der „Sea Eagle“ gefahren: der Alte als Bootsmann, der Junge als Moses.

Ein Unstern schien über dem Schiff zu stehen von Anfang an. Das begann damit, daß im Sturm eine Rah vom Mast gerissen wurde, einen Decksmann erschlug und in zwei Teile brach. Wußte nicht jeder Seemann, daß eine gebrochene Rah bedeutete, auch das Schiff werde noch vor dem Ende der Reise in zwei Teile brechen? Der Mannschaft gelang es, den Schaden mit Bordmitteln zu reparieren, bis sie die nächste Insel anlaufen und eine neue Rah riggen konnten.

Zwei Wochen später gerieten sie in eine Flaute. Das Trinkwasser ging zur Neige, und als endlich wieder eine Brise wehte, waren die Männer schon halb wahnsinnig vor Durst. Sie nahmen Kurs auf Antigua. Die „Sea Eagle“ lief eine Bucht an, um Wasser zu mannen – und viel zu spät bemerkten sie die beiden spanischen Schiffe, die dicht unter Land auf sie lauerten.

Noch heute flackerten die Augen des alten Bootsmanns auf, als er sich an das Verhängnis erinnerte, das über die „Sea Eagle“ hereingebrochen war.

Der erste Spanier feuerte eine Breitseite ab, bevor die erschöpften, vom Durst gepeinigten Engländer es auch nur schafften, die Geschütze zu bemannen.

Die „Sea Eagle“ wurde unter der Wasserlinie getroffen. Ihr Schicksal war besiegelt. Es hätte der Brandpfeile gar nicht mehr bedurft, die der zweite Spanier dem hilflos treibenden Opfer in die Takelage schoß.

Eine einzige Breitseite konnte die „Sea Eagle“ noch abfeuern.

Einem der Spanier wurden Bugspriet und Blinde zerfetzt. Er revanchierte sich, indem er die „Sea Eagle“ regelrecht zusammenschoß. Und das böse Vorzeichen bewahrheitete sich: genau wie die Rah brach das Schiff in zwei Teile auseinander, bevor es sank.

Der größte Teil der Besatzung kam ums Leben.

Wenige nur wurden aus dem Wasser gefischt, darunter auch Bill, der Schiffsjunge, und sein Vater. Aber sie wußten, daß sie keinen Grund hatten, dem Schicksal für die Rettung zu danken. Dem Schicksal nicht und am allerwenigsten den Spaniern, die von Anfang an keinen Zweifel daran ließen, was die Engländer bei ihnen erwartete.

Schon daß es die „Sea Eagle“ überhaupt gewagt hatte, sich zu wehren, legten die Sieger als Verbrechen aus. Ein arroganter spanischer Kapitän befahl, jeden der Gefangenen mit dreißig Peitschenhieben zu bestrafen – und von da an begann für die kleine Gruppe der Engländer die Hölle.

Sie wurden zum Borddienst auf der spanischen Galeone gepreßt.

Und die Spanier ließen sie spüren, was es hieß, das Leben rechtloser Sklaven führen zu müssen. Wo immer sich die Gelegenheit bot, wurden die Engländer schikaniert und geschlagen. Jede unangenehme oder gefährliche Arbeit wurde unweigerlich den Engländern aufgehalst. Wo immer es Schwierigkeiten gab, irgendwelche Fehler passierten – die Engländer waren schuld und wurden bestraft.

Sie ertrugen diese Hölle, weil sie gar keine andere Wahl hatten, aber eines Tages trat der Augenblick ein, daß es selbst dem besonnenen alten Bootsmann zuviel wurde.

Einer der Spanier stieß den jungen Bill brutal mit Füßen, weil der ihm angeblich im Weg gewesen war.

Der alte Bootsmann sah es, und etwas in ihm schien zu zerbrechen. Mit einem wilden Schrei sprang er dem Spanier an die Kehle. Er hätte ihn wohl wirklich erwürgt, wenn nicht ein Dutzend anderer Dons dazwischengegangen wäre.

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