Buch lesen: «Seewölfe - Piraten der Weltmeere 152»
Impressum
© 1976/2015 Pabel-Moewig Verlag KG,
Pabel ebook, Rastatt.
ISBN: 978-3-95439-476-0
Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de
Inhalt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
1.
„O Lord!“ sagte der dicke Nathaniel Plymson.
Er stand an einem der winzigen Fensterchen, durch die Licht und manchmal auch frische Luft in die Schenke drangen. Die Schenke trug den schönen Namen „Bloody Mary“ und lag an der Ecke Millbay Road – St. Marys Street in Plymouth. Für den dicken Nathaniel Plymson war sie eine Goldgrube, auch wenn er selber manchmal behauptete, daß sie der letzte Nagel zu seinem Sarg sei. Vor allem, wenn gewisse Leute wieder im Lande waren, zu deren Gewohnheiten es gehörte, Kneipeneinrichtungen zu Kleinholz zu verarbeiten.
Nathaniel Plymson hatte gerade das Bein eines wackelnden Tisches verkeilt, eines funkelnagelneuen Tischs, der das Brennholz ersetzte, das von seinem Vorgänger übriggeblieben war. Um Brennholz für das Kaminfeuer brauchte sich der dicke Plymson überhaupt vorerst nicht mehr zu sorgen. Dafür war sein Bestand an heilen Stühlen auf einen schäbigen Rest zusammengeschrumpft, und der Tischler von Plymouth konnte sich die Hände reiben.
Seufzend tastete Nathaniel Plymson nach seiner schönen blonden Perücke.
Die war auch neu. Plymson brauchte jedesmal eine neue Perükke, wenn die Seewölfe von der „Isabella VIII.“ in die „Bloody Mary“ einfielen. Nicht, daß der dicke Wirt etwa kein Talent gehabt hätte, im richtigen Moment den Kopf einzuziehen. Aber der Mensch hängt nun einmal an lieben alten Gewohnheiten, und für die Männer Philip Hasard Killigrews war es eine besonders liebe alte Gewohnheit, Plymsonsche Perükken zu ruinieren.
„O Lord“, wiederholte der Dicke mit einem abgrundtiefen Seufzer.
„Hä?“ fragte sein einziger Gast, der Eddy Smith hieß und mit seinem Rundschädel, den vorstehenden Augen und den schlaksigen Gliedern wie der Urenkel eines Kraken aussah.
„Sie kommen!“ verkündete Nathaniel Plymson düster.
„Wer kommt?“ fragte Eddy Smith, dem es allein in der „Bloody Mary“ sowieso langweilig war.
„Die Seewölfe“, sagte Nathaniel Plymson.
„He! Wölfe? Spinnst du?“
Eddy Smith hatte schon ein bißchen viel von dem Selbstgebrannten getrunken, den Plymson unverfroren Whisky zu nennen pflegte. Eddy war es egal, wie das Zeug hieß, solange es schön scharf schmeckte und man davon besoffen wurde. Neugierig geworden schwankte er von dem langen Schanktisch zu der Nische am Fenster, um ebenfalls einen Blick auf die „Wölfe“ zu werfen.
Ein bißchen enttäuscht stellte er fest, daß sie ziemlich menschenähnlich wirkten.
Allerdings: der Riese mit dem wüsten Narbengesicht, dem Amboßkinn und dem Brustkasten wie ein Bierfaß sah aus, als sei es besser, ihm nicht zu begegnen. Der schlanke junge Mann mit dem blonden Haar und den blauen Augen hatte tatsächlich etwas von der sehnigen Zähigkeit eines Wolfs. Und der dritte – du lieber Himmel, der trug statt der fehlenden rechten Hand einen stählernen, bedrohlich blitzenden Haken, mit dessen scharfgeschliffener Spitze er sich gerade ausgiebig hinter dem Ohr kratzte. Von den vier Männern, die da über den Kai auf die „Bloody Mary“ zuschlenderten, sah eigentlich nur einer nicht besonders beunruhigend aus: der magere schwarzhaarige Junge mit den unternehmungslustig funkelnden Augen. Aber wenn er in Gesellschaft von drei Wölfen wie denen dort aufkreuzte, konnte er auch nicht so ohne sein, wie Eddy Smith sehr richtig vermutete.
„Wer is’n das?“ nuschelte er, während er sich wieder zu seinem Selbstgebrannten trollte.
„Seewölfe“, wiederholte Nathaniel Plymson. „Vier aus der Crew dieses Satansbratens Killigrew, den sie Seewolf nennen. Höllenhunde sind das, sage ich dir. Wo die auftauchen, fliegen die Fetzen. Fünf Jahre haben sie sich nicht mehr in England sehen lassen. Und kaum sind sie zurück von ihrer Weltumsegelung, legen sie mir die Kneipe in Trümmer! Eine Schande ist das! Eine verdammte Schande!“
Nathaniel Plymson sah aus, als wolle er gleich weinen. Eddy Smith hatte sich inzwischen in ein Stadium von Milde und Besinnlichkeit hineingetrunken und seufzte teilnahmsvoll.
„Warum läßt du sie denn ’rein, wenn sie dir die Kneipe in Trümmer legen?“ erkundigte er sich.
„Und dann meine Perücke“, murmelte Plymson erbittert. „Jedes verdammte Mal ruinieren sie mir meine Perücke. Der Teufel soll sie lotweise holen. Lotweise, jawohl!“
„Und warum läßt du die Kerle dann ’rein?“ fragte Eddy Smith mit der Beharrlichkeit des Angesäuselten.
Nathaniel Plymson schoß ihm einen vernichtenden Blick zu.
„Dämliche Frage! Die Seewölfe, Mann! Wenn die den Hund von der Kette lassen, fließt hier in einer Nacht mehr Wein und Whisky als sonst im ganzen Monat. Und was sie mir zertöppern, das bezahlen sie gleich doppelt und dreifach. Die können mit dem Gold nur so um sich schmeißen, sage ich dir – schließlich weiß jedes Kind, daß sie mit ’nem ganzen Schiffsbauch voller Schätze zurückgekehrt sind. Denen ist nichts zu teuer, wenn sie einen Spaß haben wollen. Gentlemen sind das, du Esel, richtige Gentlemen!“
Eddy Smith spitzte die Ohren.
Daß Plymson die „Gentlemen“ eben noch als Höllenhunde und Satansbraten bezeichnet hatte, fiel ihm nicht weiter auf. Er hatte nur das Wort „Schätze“ gehört. Eddy Smith war nämlich beileibe kein ehrbarer Bürger, sondern ein Erzhalunke, und das Wort Schätze wirkte auf ihn ungefähr so wie eine Flasche Baldrian auf einen streunenden Kater.
„Mann!“ staunte er. „’ne Schiffsladung Gold? Ehrlich?“
„Gold und Silber und Perlen und Edelsteine“, schwärmte Nathaniel Plymson. Das hatte er zwar nur gerüchteweise erfahren, aber schließlich gehörte es zu den vornehmsten Aufgaben eines Kneipenwirts, Gerüchte mit den passenden Ausschmückungen weiterzuverbreiten. In der „Bloody Mary“ floß nicht nur Alkohol, sondern auch ein sprudelnder Quell aller möglichen Neuigkeiten. Von hier aus wanderten sie meist in die Barbierstuben, dann weiter zum heimischen Herd, wurden von treusorgenden Ehefrauen auf den Marktplatz getragen, und wenn sie am Ende wieder in der „Bloody Mary“ landeten, erkannte Plymson sie meistens nicht mehr wieder und ging daran, sie als ganz neue Geschichten weiterzuerzählen.
Aber daß die „Isabella VIII.“ von ihrer Weltumsegelung einen Haufen Schätze mitgebracht hatte, stand so fest wie der Tower in London. Und der stand sehr fest.
Eddy Smith kratzte sich heftig hinter dem rechten Ohr.
Gespannt lauschte er den Schritten, die über das Katzenkopfpflaster klapperten. Dann flog die Tür auf, und herein spazierten vier von den „Gentlemen“, die von Zeit zu Zeit für eine Renovierung der „Bloody Mary“ sorgten.
Diesmal sahen sie ganz friedlich aus.
Schließlich wollten sie auch nur einen kleinen Abschiedsschluck nehmen. Morgen früh ging es ankerauf, Richtung London. Und Bill, der schlaksige schwarzhaarige Moses, hatte mit überzeugenden Argumenten die Ansicht verfochten, daß er bisher beim Landgang nicht viel mehr erlebt habe als alte Heuchler, die ihm auf die Finger guckten und ihm predigten, gefälligst nicht so viel zu saufen. Also war ihm besagter Abschiedsschluck genehmigt worden, in Begleitung von Edwin Carberry, Donegal Daniel O’Flynn und Matt Davies. Denn schließlich mußte jemand dasein, der dem jüngsten der Crew ein bißchen auf die Finger schaute und ihn ab und zu ermahnte, gefälligst nicht so viel zu saufen.
So war eben das Leben.
Man mußte das Beste aus dem machen, was man kriegen konnte. Bill schnupperte vergnügt den Mief der „Bloody Mary“. Ed Carberry griff in die Tasche und befreite Sir John, den roten Ara-Papagei. Und Nathaniel Plymson zeigte strahlend seine schadhaften Zähne und zog sich noch schnell die neue blonde Perücke von der Glatze, um sie in einem Schubfach in relative Sicherheit zu bringen.
Eddy Smith, der Halunke, verholte sich unauffällig ans Ende des langen Schanktischs.
Vorsicht hieß die Mutter der heilen Rumflasche. Wer wußte schon, ob Leute, die Kneipenmöbel geraderückten, ihre Aktivitäten nicht auch auf Gesichter ausdehnten, die ihnen nicht gefielen. Wie gesagt: Eddy Smith hatte Ähnlichkeit mit dem Urenkel eines Kraken. Er glaubte nicht recht, daß sein Gesicht den vier Seewölfen besonders gefallen würde. Außerdem hatte er noch einen anderen Grund, sich unauffällig zu verhalten. Einen Grund, der in seinem Kopf herumspukte, seit das Stichwort Schätze gefallen war, und der ihm keine Ruhe mehr ließ.
Eddy Smith pflegte anderer Leute Besitztümer stets unter dem Aspekt zu betrachten, wie man sie sich am besten unter den eigenen Nagel reißen konnte.
So auch jetzt! Die Goldstücke, die der Riese mit dem zernarbten Rammkinn auf den Schanktisch warf, sprachen für sich. Wo die herstammten, da klimperte bestimmt noch mehr in der Tasche. Ganz abgesehen von der Sache mit den Schätzen, die vorerst noch Tauben auf dem Dach waren. Nun war zwar Eddy Smith weder ein Held noch ein Narr, jedenfalls kein so ausgemachter Narr, daß er sich allein an vier hartgesottene, salzgewässerte Seewölfe gewagt hätte, aber schließlich war er nicht der einzige Erzhalunke, der im schönen Plymouth herumlief.
Im Gegenteil!
Eddy Smith hatte beizeiten gelernt, daß Einigkeit stark macht. Deshalb pflegte er innige geschäftliche Beziehungen zu einem Erz-Ober-Halunken, der Patrick Killarney hieß, wegen seiner schönen roten Haare „Red Fox“ genannt wurde und eine starke Bande von Halsabschneidern und Wegelagerern befehligte.
Für „Red Fox“ waren auch ein paar Seewölfe kein unverdaulicher Happen. Von dem Gold, dem Silber, den Perlen und den Edelsteinen ganz zu schweigen! Eine solche Chance ließen sich Killarney und seine Hafenratten bestimmt nicht entgehen. Man mußte ihnen nur Bescheid geben. Genau das hatte Eddy Smith jetzt vor, und er war überzeugt davon, daß der „rote Fuchs“ ein paar hübsche Goldstückchen für die Nachricht springen lassen würde.
Eddy Smith trank noch einen Selbstgebrannten und verließ die „Bloody Mary“ noch im Stadium des aufrechten Gangs.
Nathaniel Plymson, der das höchst ungewöhnlich fand, blickte ihm nach und hatte da so seine eigenen Gedanken.
„Saftladen!“ krähte der Papagei Sir John.
Zur Abwechslung saß er auf Ed Carberrys Kopf. Nathaniel Plymson war froh, daß er seine Perücke in Sicherheit gebracht hatte. Er ahnte nämlich, daß sich der Vogel sonst bestimmt das gute Stück als Landeplatz ausgesucht hätte.
„Noch einen Whisky für jeden“, bestimmte der Profos. „Whisky, sagte ich. Nicht deine selbstgebrannte Haifischspucke, Plymson!“
„Einen?“ maulte Matt Davies. „Mann, sind wir hier vielleicht in ’nem Kloster, oder was ist?“
Der Profos schnaubte. „Dir zeig ich gleich, woher in diesem Kloster der Wind weht, du karierter Decksaffe! Noch ein Wort, und ich zaubere dir einen Slip-knoten in deinen verdammten Haken!“
„Ha! Kannst du ja mal versuchen, wenn du mit dem Haken tätowiert werden willst“, fauchte Matt.
Aber dann zog er es doch vor, aus der Reichweite des Profos’ zu verschwinden. Ein Whisky war besser als kein Whisky. Ganz abgesehen davon, daß sie schon mehrere gelenzt hatten und bei dem Abschiedsschluck die Betonung auf Schluck lag – was hieß, daß sie ohne wesentliche Schlagseite an Bord der „Isabella“ zurückerwartet wurden.
Dan O’Flynn ließ sich den echten Schottischen mit Genuß durch die Kehle rinnen.
Bill hatte glänzende Augen, weil er noch nicht so geübt war, was Hochprozentiges betraf.
Nathaniel Plymson strahlte, denn weder seine Perücke noch die Reste seiner Einrichtung waren in Gefahr. Über das plötzliche, auffällig-unauffällige Verschwinden des Halunken Eddy Smith ließ er sich keine grauen Haare wachsen. Erstens wuchsen auf seiner Glatze sowieso keine Haare, und zweitens huldigte er dem gesundheitsförderlichen Grundsatz, sich nicht in Angelegenheiten zu mischen, die ihn nichts angingen. Vor allem nicht in Angelegenheiten, in die außer diesen Teufelsbraten von Seewölfen auch noch ein schwarzer Höllenhund wie Red Fox Killarney verwickelt war und bei denen man am besten daran tat, den Kopf einzuziehen und sich zu verkriechen.
Die vier Seewölfe ahnten nichts von Nathaniel Plymsons prophetischen Gedanken, als sie nach einem weiteren, endgültig allerletzten Whisky die „Bloody Mary“ verließen.
Draußen dämmerte es, über dem westlichen Horizont lag ein glutroter Streifen wie der Widerschein einer Feuersbrunst. Ed Carberry schnupperte in den Wind. Es hatte aufgebrist. Morgen würden sie raumschots an der englischen Südküste vorbeisegeln.
Ein Geräusch unterbrach die erbaulichen Betrachtungen des Profos’. Ein sehr eigenartiges Geräusch. Scharf, schabend, begleitet von einem ganz leichten metallischen Singen – haargenau so, als werde mit einem Ruck ein Degen aus der Scheide gezogen.
Edwin Carberry blieb stehen.
Schräg neben ihm kreiselte Dan O’Flynn herum, der nicht nur scharfe Ohren, sondern vor allem ungewöhnlich scharfe Augen hatte. Jetzt bohrte er sie in den Schatten des Torwegs, aus dem das Geräusch gedrungen war – und was er da sah, ließ ihn grimmig die Lippen von den Zähnen ziehen.
Blitzende Klingen!
Schattenhafte Gestalten, die eben dabei waren, sich auf die Millbay Road zu pirschen. Matt Davies und Bill hatten sie ebenfalls erspäht, und der Moses, dessen Tatendrang vom echten Schottischen durchaus nicht eingeschläfert worden war, reckte unternehmungslustig die Schultern.
„Erst mal abwarten, ob die überhaupt was von uns wollen“, mahnte der Profos.
Sie wollten, kein Zweifel.
Der Anführer hatte fast so schöne rote Haare wie Ferris Tucker, der Schiffszimmermann der „Isabella“, das zeigte sich, als die Burschen in den Lichtkreis der nächsten Sturmlampe gerieten. Der Rotkopf war es auch gewesen, der den Degen gezogen hatte. Jetzt gab er seinen Kumpanen ein Zeichen. Und die pirschten sich lautlos heran wie Katzen an die Sahneschüssel – wahrscheinlich, weil sie nicht die ganze Millbay Road durch wildes Kriegsgeschrei aufscheuchen wollten.
„Lebensmüde“, konstatierte Matt Davies trocken.
Aber lebensmüde sah der knochige rothaarige Bursche eigentlich nicht aus. Eher hungrig – beutehungrig. Seine Kumpane, etwas mehr als ein Dutzend, waren auch nicht gerade von dem Kaliber, das in der Sonntagsschule herangezogen wird.
Zwei von ihnen hielten schwere Steinschloß-Pistolen in den Fäusten und zielten auf die Seewölfe. Somit bestand kein Zweifel mehr an ihren unfreundlichen Absichten.
Edwin Carberry rieb sich andächtig die mächtigen Fäuste.
„Weg mit den Erbsenspuckern“, forderte er. „Wenn ihr scharf auf ’ne anständige Keilerei seid …“
Er stockte.
Denn im selben Augenblick klapperten Hufe, rumpelten Räder, und der finstere Rachen des Torwegs spuckte auch noch einen offenen einspännigen Karren aus.
„Steigt ihr freiwillig auf?“ erkundigte sich der Rotschopf mit einem spöttischen Grinsen.
Dem Profos verschlug es glatt die Sprache.
Den anderen ebenfalls. Nur Dan O’Flynn mit seinem legendären Mundwerk konnte das natürlich nicht passieren.
„Dir haben sie wohl das Hirn durchlöchert, du Kakerlake“, fauchte er aufgebracht. „Mann, verhol dich, bevor ich dir was auf deinen blöden Schädel gebe. Dann glotzt du nämlich durch deine eigenen Rippen wie ein Affe durchs Gitter, du …“
„Schnappt sie euch“, sagte der Rotkopf, der offenbar ein Mann der Tat war.
Seine Halsabschneider grinsten erfreut und wollten aufs Wort gehorchen, mußten aber schon im nächsten Moment begreifen, daß das nicht ganz so einfach war, wie sie gedacht hatten.
Da nämlich legten die Seewölfe los, und an der Ecke Millbay Road – St. Marys Street flogen mal wieder die Fetzen.
Der Rotkopf bereute seinen Vorwitz spätestens in dem Augenblick, in dem er sich rückwärts in der Luft überschlug und da landete, wo der Gaul vor wenigen Minuten etwas hatte fallen lassen.
Drei von seinen Kumpanen suchten schon beim ersten Zusammenprall der Fronten das schmutzige Straßenpflaster auf und zeigten keine Anstalten, sich so schnell wieder zu erheben. Mit Ausnahme eines kleinen, krummbeinigen Kerls – und der erhob sich nicht, sondern wurde erhoben. Ed Carberry packte ihn nämlich bei den Füßen und begann, ihn im Kreis zu schwenken. Das hatte der Seewolf bei jener ersten legendären Schlacht vor der „Bloody Mary“ mit einem Gegner getan, der ihm dann aus den Stiefeln gerutscht, durch einen Fensterladen gesegelt und im Bett einer liebestollen Witwe gelandet war. Der Profos mußte den Trick noch üben. Ihm rutschte der Krummbeinige zwar nicht aus den Stiefeln, aber dafür wurde versehentlich Matt Davies umgesäbelt – und später behauptete er natürlich steif und fest, genau das sei es gewesen, was den Kampf entschieden habe.
In Wahrheit war es die Verstärkung, die einer der verdatterten Banditen herbeipfiff.
Ein weiteres halbes Dutzend Angreifer brach aus Gassen, Torwegen und dunklen Hauseingängen hervor. Da die Seewölfe alle Hände voll mit dem ersten Dutzend zu tun hatten, konnten sie nicht verhindern, daß ihnen die Neuankömmlinge in den Rücken fielen. Fäuste wurden geschwungen, Knüppel sausten, Beulen und blaue Flecken erblühten – und diesem Ansturm waren auch die kampferprobten Männer von der „Isabella“ nicht mehr gewachsen.
Ed Carberry hatte wenigstens noch die Genugtuung, den Krummbeinigen auf den Rothaarigen zu schleudern, worauf beide in innige Berührung mit den Pferdeäpfeln gerieten.
Matt Davies war ohnehin schon weggetreten, Bill und Dan O’Flynn verschwanden unter den Angreifern, die sie einfach durch ihr massiertes Gewicht zu Boden drückten und blitzartig mit dicken Hanfstrikken verschnürten. Ed Carberry, des Krummbeinigen ledig, blickte sich wild um, rollte die Augen und sah zum Fürchten aus. Aber inzwischen konnte sich fast die ganze Bande um ihn kümmern, und genau drei Minuten später ging auch der Profos mit fliegenden Fahnen unter.
Nach zwei weiteren Minuten lagen die Opfer gefesselt unter einem Haufen alter Säcke auf dem davonrumpelnden Wagen.
Die Banditen verschwanden eilig von der Bildfläche. Das Schlachtfeld leerte sich, und als wenig später die ersten Anwohner vor ihren Haustüren erschienen, um kräftig mitzukeilen, lag der Platz vor der „Bloody Mary“ so friedlich in der Abenddämmerung, als sei überhaupt nichts geschehen.
Niemand wußte Genaues.
Sie hatten Lärm gehört, das war alles. Der einzige, der ihnen die Geschichte hätte erzählen können, Nathaniel Plymson nämlich, hütete sich diesmal aus gutem Grunde, seinen Mund aufzutun.
2.
Der Lärm war auch an Bord der „Isabella VIII.“ gehört worden.
Die ranke Galeone lag außer Sichtweite, aber durchaus nicht außer Hörweite der „Bloody Mary“ am Pier. Ferris Tucker, der riesige rothaarige Schiffszimmermann, strich wie ein grollender Geist durchs Schiff, zerrte hier an einem Brooktau, klopfte dort gegen ein Querspant und belegte jeden einzelnen Holzwurm mit finsteren Verwünschungen. Aus der Kombüse drangen verlockende Düfte. Der Kutscher, Koch und Feldscher an Bord, warf ein Riesenexemplar von Steak nach dem anderen in die Pfanne, und die Männer, die sich nur zu oft wochenlang auf Fisch und Pökelfleisch beschränken mußten, erwarteten ein Festmahl.
Philip und Hasard, die siebenjährigen Zwillinge, schaukelten auf den Webleinen des Steuerbord-Hauptwants und betrachteten halb sehnsüchtig, halb mißtrauisch das abendliche Plymouth.
Batuti, der schwarze Herkules aus Gambia, hatte sich zu ihnen gesellt. In seinem immer noch gebrochenen Englisch erzählte er ihnen, wie es im fernen London aussah. Da er sich noch sehr gut an seine eigenen ersten Eindrücke erinnerte, nahm die Stadt an der Themse in seinem Bericht die Züge eines fabelhaften Platzes voller Wunder, Kuriositäten und Unglaublichkeiten an.
Die Jungen lauschten hingerissen.
Sam Roskill, der blonde Schwede Stenmark und Old O’Flynn lauschten ebenfalls, aber nicht auf Batutis Erzählungen, sondern auf den Lärm von der „Bloody Mary“. Das Geschrei und die Flüche hörten sich ziemlich wüst an. Haargenau so, als sei da drüben eine jener prachtvollen Keilereien im Gange, die bei einem zünftigen Landgang nun mal das Salz in der Suppe bildeten. Na ja, vielleicht hatten sich da ein paar Leute stark gefühlt, weil die Männer von der „Isabella“ nur zu viert waren. Sam Roskill seufzte. Stenmark schien es in den Fäusten zu jucken, da er sich ausgiebig die Knöchel kratzte. Und Luke Morgan, Smoky und Bob Grey, die jetzt ebenfalls ans Schanzkleid traten, hatten ein gewisses Funkeln in den Augen.
„Da geht’s rund“, sagte Bob Grey andächtig.
„Der Profos hat aber auch immer Glück“, brummte Sam Roskill.
Inzwischen lauschten auch Batuti und die Zwillinge dem Kampflärm. Gebrüllt und geflucht wurde jetzt nicht mehr. Also mußte das Gefecht jenes Stadium stummer Verbissenheit erreicht haben, in dem entschieden wurde, welcher Partei der Wind ins Gesicht wehte. Nicht mehr lange, dann würden sich die ersten wutentbrannten, in ihrer Ruhe gestörten Einwohner in die Schlacht stürzen, sich neue Fronten bilden und frische Kämpfer angelockt werden.
Es kam nicht soweit.
Der Lärm verstummte überraschend schnell. Die Männer auf der Kuhl grinsten sich eins, denn nach ihrer Meinung konnte das nur bedeuten, daß ihre Kameraden den vorwitzigen Gegnern eine gepfefferte Lektion erteilt hatten.
Was natürlich eine Kehrtwendung, einen neuerlichen Besuch in der „Bloody Mary“ und einen kräftigen Schluck auf den Sieg erforderte.
Sam Roskill seufzte schon wieder. Ferris Tucker, der soeben im Niedergang auftauchte, widmete ihm einen vernichtenden Blick. Kopfschüttelnd peilte der rothaarige Schiffszimmermann landeinwärts.
„Dieser karierte Riesenaffe von einem Profos hat wohl Quallen im Hirn“, grollte er. „Saufen wie ein Loch und ’ne Prügelei vom Zaun brechen, ha!“
„Wieso vom Zaun brechen?“ protestierte Stenmark. „Du hast doch überhaupt keine Ahnung, hast du nicht!“
„Mißratener Bengel!“ knurrte Donegal Daniel O’Flynn, womit er seinen Sohn Donegal Daniel junior meinte.
„Kleines O’Flynn erwachsen, kann saufen, wieviel will“, sagte Batuti mit schlagender Logik.
So ging es noch eine Weile weiter: Die Männer hatten Freiwache und reichlich Zeit, das Blaue vom Himmel zu reden. Nach einer halben Stunde allerdings wurden sie unruhig, denn inzwischen hätten Carberry und die anderen tatsächlich zurück sein müssen. Der Ansicht war auch Philip Hasard Killigrew, der vom Achterkastell auf die Kuhl gesprungen war und aus zusammengekniffenen eisblauen Augen ebenfalls landwärts spähte.
Sein langes schwarzes Haar flatterte im Wind. Im Widerschein der roten Abenddämmerung wirkte das braungebrannte Gesicht mit der Narbe noch verwegener als gewöhnlich.
„Gefällt mir nicht“, sagte er knapp. „Das sieht Ed nicht ähnlich. Ferris, schnapp dir ein paar Männer und sieh nach, was da passiert ist.“
„Aye, aye, Sir! Sten, Smoky, Batuti!“
Bewegung geriet in die Männer. Daß sie nicht zum Vergnügen an Land gingen, brauchte ihnen niemand zu sagen. Aber sie mußten schließlich in der „Bloody Mary“ die Lage peilen, und es konnte ja immerhin sein, daß da vielleicht zufällig ein paar volle Gläser herrenlos herumstanden oder so.
„Schaut bloß nicht so durstig aus der Wäsche“, schnauzte Ferris Tukker. „Ihr glaubt wohl, es geht zur Kirmes, was? Wer ein Glas auch nur schief ansieht, kriegt die Hammelbeine so lang gezogen, daß er demnächst durch den Kanal waten kann, verstanden?“
„Fein!“ Batuti freute sich. „Mit langes Hammelbeine du brauchst nicht mehr aufentern, um Toppen zu klarieren, eh?“
„Und ob! Weil du nämlich anschließend eins auf die Rübe kriegst, daß du sogar aufentern mußt, um die Nagelbank zu klarieren. Los jetzt, verdammt! Mir ist es irgendwie zu still hier.“
Tatsächlich schienen in der Millbay Road und der St. Marys Street eitel Ruhe und Eintracht zu herrschen.
Nichts wies darauf hin, daß hier vor wenig mehr als einer halben Stunde eine Schlacht geschlagen worden war. Keine Spur von Siegesgeschrei war aus der „Bloody Mary“ zu hören. Nur ein einsamer Betrunkener sang ein sehr trauriges Lied von einer gewissen Pretty Lucinda, die demnach ein Luder gewesen war und ihn sitzengelassen hatte. Sonst war es still, und die Seewölfe fanden das nicht gerade beruhigend.
Der Anblick der selbst für den frühen Abend recht schwach besuchten Schenke ließ sie auch nicht klüger werden.
Etwas aufschlußreicher war da schon das Verhalten des fetten Nathaniel Plymson. Der hatte seine funkelnagelneue blonde Perücke wieder aufgesetzt, stand hinter dem Schanktisch und verschüttete beim Anblick der neuen Besucher mindestens einen halben Humpen Wein, weil er den Krug nicht mehr ruhig halten konnte. Sein Doppelkinn hüpfte, seine Augen wurden weit, auf der Stirn bildeten sich Schweißperlen. Alles in allem bot der Besitzer der „Bloody Mary“ das Bild des personifizierten schlechten Gewissens.
Dabei hatte er gar nichts weiter verbrochen.
Er sah lediglich eine gewisse Wahrscheinlichkeit, die dafür sprach, daß man ihm die Schuld an den Ereignissen in die Schuhe schieben würde. Normalerweise ließ ihn das kalt: Er hatte seine emsigen Wurstfinger in so vielen zweifelhaften Geschäften, daß es ihm zwangsläufig ziemlich gleich sein mußte, wer ihm wann und wo welche Schuld an Was auch immer in die Schuhe schob. Aber bei diesen verdammten Seewölfen war das natürlich etwas ganz anderes.
Nathaniel Plymson wurde der Kragen zu eng.
Er schluckte heftig. Sein Blick wanderte von dem furchterregenden Neger mit den rollenden Augen zu dem nicht minder furchterregenden rothaarigen Riesen, von dem bulligen braunhaarigen Smoky zu dem schlanken blonden Schweden Stenmark – und plötzlich fiel dem dicken Plymson ein, daß er eigentlich sehr dringend etwas in seinem Weinkeller zu erledigen hatte.
„Hiergeblieben!“ grollte Ferris Tucker drohend.
Damit wurde die Angelegenheit im Weinkeller für Nathaniel Plymson noch etwas dringender und veranlaßte ihn dazu, wie eine geölte Kanonenkugel im düsteren Hintergrund der Schenke zu verschwinden.
Das heißt, er verschwand nicht, sondern watschelte die Treppe hinunter, die in besagten Weinkeller führte.
Die Seewölfe kannten die Treppe und den Weinkeller ebenfalls. Um einen watschelnden, schnaufenden, schwitzenden Nathaniel Plymson einzuholen, brauchten die vier Männer noch nicht einmal groß ihre Schritte zu beschleunigen.
Der Dicke gelangte endgültig zu der Überzeugung, daß ihm das Schicksal einen üblen Streich gespielt hatte, als ihm die „Bloody Mary“ als Besitz beschert worden war.
Dabei hatte er diesmal wirklich keine Schuld. Der Himmel wußte, daß er keine Geschäfte mit Patrick „Red Fox“ Killarney tätigte. Aber was nutzte es, daß der Himmel das wußte. Die Seewölfe wüßten es nicht – und die waren ihm jetzt auf den Fersen, als ob sie zu allem anderen auch noch Gedanken lesen könnten.
Nathaniel Plymson wischte zwischen den Weinfässern hindurch, gewann den Vorratskeller und strebte der Hintertür zu, um draußen im Gewirr der dunklen, verwinkelten Gassen unterzutauchen.
Was ihm das einbringen sollte, wußte er allerdings selbst nicht. Es spielte auch keine Rolle, da es gar nicht erst so weit kam. Die Hintertür war mit einem massiven Schloß und drei schweren Riegeln gesichert, damit sich niemand im Keller selbst bediente, und Nathaniel Plymson schaffte nur zwei von diesen Riegeln.
Beim dritten nahm ihm der blonde Stenmark die Arbeit ab.
Aber da hatte Batuti den quiekenden Dicken bereits am Kragen, und Ferris Tucker durchbohrte ihn mit einem Blick von der Sorte, bei der selbst der Teufel Reißaus genommen hätte.
Der arme Plymson hätte auch gern Reißaus genommen, aber er konnte nicht. Kreideweiß und schlotternd starrte er den rothaarigen Hünen an, der vollends die Tür öffnete und mit dem Daumen nach draußen wies.
„An die frische Luft mit ihm“, ordnete er an. „Und behandelt ihn vorsichtig. Er soll uns ja schließlich noch was erzählen können.“
Der Profos nieste.
Das lag an dem Staub, der ihm in die Nase drang. Der wiederum stammte von den Säcken, die man über die vier Gefesselten geworfen hatte. Säcke, die vor nicht allzu langer Zeit noch dem Transport von Mehl gedient haben mußten und immer noch dazu neigten, ihre gesamte Umgebung gleichmäßig zu pudern.
Zwei Minuten später nieste auch Dan O’Flynn.
Als nächster kam Bill wieder zu sich und schließlich auch Matt Davies. Jetzt niesten sie im Quartett. Zwischendurch fluchte Ed Carberry in allen Tonlagen, und auf dem Kutschbock kicherte jemand hingerissen.
„Dir wird das Lachen noch vergehen, du kalfaterte Landratte!“ brüllte der Profos und fügte einige finstere Mutmaßungen hinzu, die die Ahnenreihe des Mannes betrafen.
Der hörte auf zu kichern. Er entstammte einem Geschlecht ehrbarer Taschendiebe und hatte es nicht nötig, sich als Enkel eines triefäugigen, verlausten Ziegenbocks bezeichnen zu lassen.
„Dir stopf ich gleich das Maul, du Nachttopf-Matrose!“ drohte er wütend.
„Als ob du hirnrissige Ratte einen Nachttopf von ’nem Bierkrug unterscheiden könntest! Dir würde ich gern mal die Gurgel massieren und dann ein bißchen die Zähne putzen, du krummer Hund!“
Der Mann auf dem Kutschbock blieb die Antwort nicht schuldig.
Ein paar Leute, die offenbar zu Fuß neben dem Wagen marschierten, leisteten ebenfalls ihren Beitrag. Dan O’Flynn hörte auf zu niesen und fand seine übliche Form wieder, und auf diese Weise wurde die weitere Fahrt ganz unterhaltsam. Den Seewölfen gelang es allmählich, sich trotz der Fesseln durch den Berg von alten Mehlsäcken zu wühlen. Sie gewannen frische Luft und freie Sicht, aber ihre Lage war deshalb kaum weniger bescheiden.
Der kostenlose Auszug ist beendet.