Seewölfe - Piraten der Weltmeere 104

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Seewölfe - Piraten der Weltmeere 104
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Impressum

© 1976/2015 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

ISBN: 978-3-95439-428-9

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

1.

Donegal Daniel O’Flynn lag reglos in der Hängematte und lauschte.

Er hörte nicht das Klatschen der Wellen gegen die hölzerne Bordwand, er hörte auch nicht das Knarren der Rahen und Blöcke, das die stampfenden, schlingernden Bewegungen des Schiffes wie eine vertraute Melodie begleitete. Dan O’Flynn konzentrierte sich mit jeder Faser auf die Atemzüge der Männer, die rechts und links von ihm im Mannschaftslogis des Vorschiffs schliefen. Fremde Atemzüge. Und Männer, die Dan erst seit ein paar Tagen kannte. Denn auf der Dreimast-Galeone „Isabella VIII.“ führte im Augenblick nicht der Seewolf das Kommando, sondern ein größenwahnsinniger bretonischer Piratenkapitän.

Dan richtete sich vorsichtig auf und schwang die Beine aus der Hängematte.

Er biß die Zähne zusammen. Sein Rücken brannte, die Peitschenstriemen, die er dem verdammten Bretonen verdankte, waren immer noch nicht verheilt. Auch Batuti, der riesige Gambia-Neger, hatte zwanzig Hiebe mit der Neunschwänzigen über sich ergehen lassen müssen.

Jean Morro, dem Bretonen, war es schließlich gelungen, seine beiden Gefangenen zum Borddienst auf der unterbemannten Galeone zu zwingen. Aber nicht, weil er sie etwa mit seiner Drohung eingeschüchtert hätte, sie sonst an der Rahnock aufzubaumeln oder in der Vorpiek verhungern zu lassen – das ganz gewiß nicht.

Dan und Batuti hatten sich nur zum Schein gebeugt.

Sie wußten, was das Piratengesindel nicht einmal ahnte: daß die Seewölfe ganz sicher nicht lange auf der Insel bleiben würden, auf der man sie zurückgelassen hatte. Der schwarze Segler war in der Nähe. Ein knüppelharter Sturm hatte ihn von der „Isabella“ getrennt, aber Siri-Tong und Thorfin Njal würden die Seewölfe suchen – und finden, davon war Dan O’Flynn überzeugt.

Irgendwann würde „Eiliger Drache über den Wassern“ die „Isabella“ einholen – und bis dahin wollten Dan und Batuti nicht mehr an Bord sein, damit die Piraten sie nicht als Geiseln benutzen konnten.

Aber verschwinden konnten sie nicht, wenn sie gefesselt in der Vorpiek lagen oder nach einer zweiten Abreibung mit der Neunschwänzigen nicht mehr fähig waren, sich auf den eigenen Beinen zu halten.

Deshalb hatten sie sich geduckt, hatten gehorcht und die Schikanen und Quälereien ihrer Gegner ertragen. Auch so blieb das Unternehmen schwierig genug. Dan und Batuti waren verschiedenen Wachen zugeteilt und ständig von Männern umgeben, die auf sie aufpaßten. Die Chance, etwa unbemerkt ein Boot abzufieren, war gleich Null. Aber inzwischen hatte die „Isabella“ die Höhe von Managua passiert, lag dicht unter Land auf Nordwestkurs, und gestern nachmittag hatten die beiden Seewölfe ein paarmal die Küste gesehen.

Sie würden schwimmen.

Daß sich Jean Morro damit aufhalten würde, die Küste von Nueva España nach ihnen abzusuchen, wenn er ihre Flucht entdeckte, bezweifelten sie. Aber Siri-Tongs Crew und die Seewölfe würden zum Beispiel Rauchzeichen richtig zu deuten wissen, wenn sie vorbeisegelten. Oder vielleicht war es auch möglich, irgendwo ein Boot aufzutreiben, mit dem sie den Kurs des schwarzen Seglers kreuzen konnten.

Dan O’Flynn warf noch einen letzten Blick auf die schlafenden Männer, die er in der Dunkelheit des Vorschiffs nur schattenhaft zu erkennen vermochte. Vorsichtig stieg er aus der Hängematte, glitt auf nackten Sohlen zum Schott und tastete nach dem Riegel. Schweiß stand auf seiner Stirn, als er – unendlich behutsam, um kein Geräusch zu verursachen – den Durchlaß öffnete. Wie ein Schatten huschte er nach draußen, und genauso behutsam wie vorher schloß er das Schott wieder.

Für ein paar Sekunden verharrte er auf dem Niedergang und lauschte.

Das stete Knarren, Knirschen und Ächzen der Takelage hatte sich verstärkt. Schritte erklangen: bedächtige Schritte, nicht das rastlose Klatschen nackter Sohlen auf den Decks, das man bei böigem Wind und unruhiger See hörte. Die „Isabella“ lag über Backbordbug und empfing den gleichmäßigen Ostwind raumschots. Sanft schob er sie dahin, unermüdlich, einschläfernd – in einer solchen Nacht brauchten die Männer an Deck kaum eine Hand zu rühren.

Dan wußte, daß Batuti die Steuerbordwache auf der Kuhl ging, zusammen mit Esmeraldo, diesem einäugigen Hundesohn.

Lautlos glitt Dan O’Flynn über den Niedergang. Sein Blick flog über die geblähten, fahl schimmernden Segel, über die Wanten und Pardunen, in denen der Wind sang. Eine Gestalt lehnte am Schanzkleid, noch schwärzer als die Nacht. Aber sie hob sich von dem bewegten, im Sternenlicht glitzernden Spiegel des Pazifik ab, und deshalb konnte Dan die Umrisse des hünenhaften Negers deutlich erkennen.

Batuti rührte sich nicht. Und Dan kümmerte sich vorerst nicht um ihn. Er schob sich auf dem Niedergang noch eine Kleinigkeit höher, wandte den Kopf – und jetzt hatte er auch den einäugigen Esmeraldo im Blickfeld.

Der lehnte lässig am Großmast und betrachtete angelegentlich die überlangen Rohre der Culverinen, von deren Reichweite und Treffsicherheit er sich bei dem Gefecht mit dem ahnungslosen schwarzen Segler hatte überzeugen können.

Auch das Ruderhaus der „Isabella“ erregte immer von neuem das Interesse der Piraten. Überhaupt war ihnen inzwischen klargeworden, was für ein außergewöhnliches Schiff sie da in ihre Hand gebracht hatten. Nur die gut verborgenen Schätze in den Frachträumen hatten sie noch nicht gefunden. Und auch nicht die Brandsätze, die die „Isabella“ an Bord hatte und mit denen die Piraten ohnehin nichts anzufangen wußten.

Dan O’Flynn packte den Belegnagel fester, den er bei seiner letzten Wache heimlich eingesteckt hatte.

Niemand war auf die Idee verfallen, ihn oder Batuti zu durchsuchen. Wahrscheinlich glaubten die Piraten, ihren Gefangenen endgültig das Rückgrat gebrochen zu haben.

Dan erschien es, als hätten die Kerle in ihrer Aufmerksamkeit sogar etwas nachgelassen, und er hoffte, daß das auch auf den einäugigen Esmeraldo zutraf, auf ihn – und auf die beiden Kerle drüben auf der Backbordseite.

Es waren die beiden Burgunder. Und die steckten dauernd die Köpfe zusammen und tuschelten über das Bordell, das sie in ihrer Heimat gründen wollten, wenn ihr Beuteanteil groß genug war, um mit einem eigenen Schiff den weiten Weg um Kap Horn und quer über den Atlantik zurück in die alte Welt segeln zu können. Nach den Gesprächen der beiden würde das ein Bordell werden, gegen das sich der Palast der Königin von England bescheiden ausnahm.

Dan grinste leicht, während er auf die flüsternden Stimmen horchte, die der Wind herübertrug. Ja, die Burgunder waren vollauf damit beschäftig, an ihrem Traum weiterzuspinnen. Dan glitt lautlos über die Kuhl, schlug einen Bogen und näherte sich dem einäugigen Esmeraldo von hinten.

Der Pirat hörte nichts.

Er schien mit offenen Augen zu träumen.

Dan holte aus, nahm Maß – und hieb dem Einäugigen den Belegnagel auf den Schädel.

Es klang hohl, fand Dan. Auf jeden Fall ziemlich leise, genau wie das gedämpfte Röcheln, das der Einäugige noch hervorbrachte. Rasch fing Dan den stürzenden Körper auf und ließ ihn vorsichtig auf die Planken gleiten.

Batuti hatte sich umgedreht.

Das Weiß seiner Augäpfel schimmerte, und die prächtigen Zähne blitzten im Dunkeln, als er die Lippen zu einem breiten Grinsen verzog. Lautlos huschte Dan zu ihm hinüber. Kein Wort fiel. Irgendwie hatte es der hünenhafte Neger bereits geschafft, eine Leine auszubringen. Dan nickte ihm zu, schwang sich geschmeidig über das Schanzkleid und hangelte sich Hand über Hand nach unten.

Behutsam ließ er sich ins Wasser gleiten, schwamm ein Stück zur Seite und legte den Kopf in den Nacken.

Batutis Hünengestalt erschien über dem Schanzkleid.

Auch er hangelte sich an der Leine nach unten und glitt vorsichtig ins Wasser. Mit dem Daumen wies er zur Küste. Dans blaue Augen funkelten. Er nickte und wollte sich von der Bordwand lösen. Im nächsten Moment erstarrte er.

Jäh wurde es über ihnen an Deck lebendig.

Schritte polterten. Jemand stürmte hastig aus dem Vorschiff. Und dann dröhnte bereits die Donnerstimme des bulligen Barbusse, der eigentlich auf Dan hatte aufpassen sollen.

„Vermaledeiter Bengel!“ brüllte er. „Dieser Giftzwerg ist getürmt, aus dem Logis verschwunden! Verdammt, wo steckt diese Wanze?“

Dan und Batuti wechselten einen raschen Blick.

„Wegtauchen“, flüsterte Dan O’Flynn.

Batuti nickte nur, weil er wußte, daß sie so oder so keine andere Wahl hatten.

Düster und majestätisch glitt der „Eilige Drache über den Wassern“ nach Norden.

 

Der stetige Ostwind blähte die schwarzen Segel an den vier Masten. Das Schiff verschmolz fast mit der Dunkelheit. Jetzt, im fahlen Mondlicht, bot es einen unheimlichen Anblick – ein großer, stolzer Segler, gegen den sich die Karavelle, die in seinem Kielwasser segelte, fast wie ein Zwerg ausnahm.

Ein gefährlicher Zwerg allerdings. Und ein Zwerg, der von einer Mannschaft gefahren wurde, die das seemännische Handwerk im Schlaf beherrschte. Philip Hasard Killigrew, der Seewolf, hatte jeden Fetzen Tuch gesetzt, den die drei Masten der „Santa Monica“ zu tragen vermochten.

Die Karavelle war rank und wendig gebaut, leicht auf Kosten der Armierung: drei Geschütze auf jeder Seite, Vierpfünder mit gegossenen Bronzerohren, außerdem je zwei Serpentinen in drehbaren Gabellafetten an Bug und Heck. Verglichen mit der Bewaffnung des schwarzen Seglers war das lächerlich. Aber dafür war die „Santa Monica“ schnell, konnte das Tempo des „Eiligen Drachen“ mithalten, und nichts anderes zählte im Augenblick für die Seewölfe.

Sie waren auf der Jagd, auf der Jagd nach ihrem eigenen Schiff, der „Isabella“, das ihnen eine Bande von Südsee-Piraten abgejagt hatte. Und auf der Jagd, um Dan O’Flynn und Batuti zu befreien, die sich in der Gewalt der Piraten befanden.

Jean Morro hieß der Anführer der Horde. Ein gefährlicher Mann, wie Hasard sich eingestehen mußte. Und dennoch würde er gegen die Verfolger keine Chance haben.

Mit zusammengepreßten Lippen stand der Seewolf auf dem Achterkastell und starrte in die Dunkelheit.

Der Verlust der „Isabella“ nagte an ihm. Vor allem die Frage nach dem Schicksal von Dan und Batuti. Wieder und wieder zog die Erinnerung an die letzte Woche in einer Folge messerscharfer Bilder an seinen inneren Augen vorbei. Wieder und wieder fragte er sich, ob er irgendwo einen Fehler begangen hätte.

Angefangen hatte es mit dem Irren, den sie auffischten: einem von seiner Mannschaft ausgesetzten Piratenkapitän, der den Verstand verloren hatte und nur noch von seiner Rache faselte. Eines nachts war der Verrückte verschwunden gewesen. Und mit ihm Dan und Batuti, die er wohl gezwungen hatte, ein Boot abzufieren und ihn zu der Insel zu pullen – jener Insel, auf deren Riff die Galeone der Piraten als zerschmettertes Wrack lag.

Als sie zurücksegelten, hatten die Seewölfe nicht ahnen können, daß sich sechzehn Überlebende der Katastrophe auf der Insel verbargen. Hasard selbst hatte den kleinen Suchtrupp angeführt, den die Piraten in einen gemeinen Hinterhalt lockte. Und danach brauchte Jean Morro, der Bretone, nur noch damit zu drohen, seine Gefangenen einen nach dem anderen umzubringen, wenn man seine Bedingungen nicht erfüllte.

Ben Brighton hatte sich in dieser Situation dafür entschieden, die „Isabella“ auszuliefern.

Und Hasard wußte glasklar, daß er an Bens Stelle genauso gehandelt und nicht einen einzigen seiner Männer geopfert hätte. Das Schicksal war gegen sie gewesen. Sie hatten eine Niederlage einstecken müssen – und sie waren unterwegs, um diese Niederlage wieder auszubügeln.

Denn sie kannten das Ziel der Piraten.

Chiapas war es, jenes kleine Stück grüner Hülle südöstlich der Landenge von Tehuantepec.

Maya-Land! Eine geheimnisvolle, unerforschte Wildnis, in der die Piraten einen legendären Schatz zu finden hofften. Das allerdings konnten die Seewölfe und die Männer der Roten Korsarin zu diesem Zeitpunkt nur ahnen. Denn Dan O’Flynn hatte nicht mehr als das Wort „Chiapas“ in einen Felsen ritzen können, bevor er von der Insel verschleppt wurde.

Der Seewolf lächelte grimmig, als er daran dachte, wie sie es geschafft hatten, die verdammte Insel wieder zu verlassen.

Die versprengte spanische Karavelle hatte wie gerufen die Insel angelaufen. Noch ehe der schwarze Segler die Insel entdeckte, hatten die Seewölfe die „Santa Monica“ gekapert. Und jetzt waren es die Spanier, die auf dem öden Eiland festsaßen und darauf hofften, daß man sie finden würde.

Der schwarze Segler und die kleine Karavelle waren bisher Nordkurs gelaufen. Aber jetzt hatten sie bereits die Höhe von Managua, und wenn die Karten nicht trogen, würden sie bald Land sehen. Hasard spähte unwillkürlich zum Großmars hoch, und Ben Brighton, der neben ihm auf dem Achterkastell stand, warf ihm einen Blick zu.

„Glaubst du immer noch, daß wir die ‚Isabella‘ vor Chiapas einholen?“ fragte er verhalten.

Der Seewolf schüttelte den Kopf.

Als sie von der Insel aufbrachen, war er überzeugt gewesen, daß sie die Piraten schnell erwischen würden. Die „Isabella“ war hoffnungslos unterbemannt, selbst wenn man Dan und Batuti dazuzählte. Aber die See, die ihnen in den letzten Wochen so oft die Zähne gezeeigt hatte, schien ihnen jetzt wie zum Hohn ihr freundlichstes Gesicht zu präsentieren.

Stunde um Stunde, Tag um Tag wehte dieser gleichmäßige, sanfte Ost. Nichts wies darauf hin, daß sich das Wetter ändern würde. Der Seewolf hatte mittlerweile ein sicheres Gespür für das Wetter in diesem Teil der Welt entwickelt. Unter solchen Bedingungen segelte sich die „Isabella“ fast von selbst. Da würde es schwer, wenn nicht unmöglich sein, ihren Vorsprung aufzuholen.

„Wenn wir sie nicht vor Chiapas erwischen, dann eben in Chiapas“, sagte Hasard hart. „Und wenn wir jede Bucht und jeden Fluß einzeln absuchen.“ Er schwieg einen Moment und zog die Brauen zusammen. „Vielleicht ist es ohnehin besser, bis Chiapas zu warten“, fuhr er fort. „Dort können wir die Kerle aufsplittern. Oder Dan und Batuti im Handstreich auf dem Landweg befreien. Wenn wir die ‚Isabella‘ in offener Seeschlacht stellen, werden die Piraten ihre Gefangenen vermutlich als Geiseln benutzen.“

„Auch wieder wahr“, murmelte Ben Brighton. „Wir könnten Fühlung halten und …“

Er wurde jäh unterbrochen.

„Land ho!“ sang Bob Grey im Großmars aus. „Land Steuerbord voraus!“

Hasards Blick suchte den schwarzen Segler, der weit voraus als Schatten zu erkennen war. Auch dort war der Großmars besetzt, und der Ausguck hatte die Küste sicher ebenfalls gesichtet. Der Seewolf enterte über den Niedergang ab, und wenig später stand er auf dem Vorkastell und spähte durch das Spektiv nach Nordnordost.

Ein unregelmäßiger schwarzer Streifen hatte sich zwischen den sternengespickten Himmel und das bewegte, im Mondlicht wie flüssiges Silber glitzernde Wasser geschoben.

Das war keine Insel mehr. Ganz davon abgesehen, daß die Karten in dieser Gegend südlich der Fonseca Bai ohnehin keine Inseln verzeichneten. Vor ihnen lag die Küste, die Landenge, die Nueva España mit dem südamerikanischen Kontinent verband. Hasard lächelte, als er sich umwandte und mit einem Blick den Stand der Segel prüfte.

In der nächsten Sekunde dröhnten seine Kommandos über das Deck: „Klar zum Anluven! Holt dicht alle Schoten! Pete, höher ran an den Wind!“

Längst hatten die Wachen auf Kuhl und Achterdeck ihre Stationen eingenommen. Der Besan wurde zuerst dichtgeholt, dann folgten Großsegel und Vorsegel.

„Höher ran“, wiederholte Pete Ballies ruhige Stimme, und Hasard verfolgte, wie die Karavelle an den Wind ging.

„Holt durch die verdammten Schoten, ihr lahmen Rübenschweine!“ brüllte Ed Carberry von der Kuhl. „Willig, willig, oder habt ihr keinen Mumm mehr in den Knochen, ihr kalfaterten Decksaffen, ihr …“

Der Profos stockte.

Nicht, weil ihm die Fluche ausgingen, sondern weil er in den Wind sprach. In einen sanften, stetigen Ostwind, den sie jetzt von Steuerbord voraus erhielten und der die Karavelle unter perfekt getrimmten Segeln laufen ließ wie Samt und Seide.

„Na also“, brummte Edwin Carberry. Er sah zum Vorkastell hoch und grinste breit, und Hasard wußte genau, was dieses Grinsen bedeutete.

Eine verdammte Teufelsbande ist das, sagte dieses Grinsen.

Die brauchte man nicht erst anzulüften, die beherrschte ihr Handwerk im Schlaf und mit links. Da waren Carberrys Flüche im Grunde ganz überflüssig.

Aber ein fluchender Profos gehörte nun einmal dazu. Und solange Edwin Carberry fluchte, war die Welt noch in Ordnung.

2.

Dan O’Flynn hatte das Gefühl, als würden im nächsten Augenblick seine Lungen platzen.

Er brauchte Luft. Er mußte auftauchen. Schon tanzten rote Feuerräder vor seinen Augen. Als sein Kopf die Wasseroberfläche durchstieß, mischte sich das Brausen des Blutes in seinen Ohren mit dem Plätschern und Gurgeln der Wellen und dem heiseren Geschrei an Bord der „Isabella“

„Du solltest aufpassen, du Bastard!“ Das war Pepe le Mocos Stimme, wahrscheinlich stauchte er Barbusse zusammen. „Wo ist der Nigger, verdammt noch mal? Wenn sie entwischt sind, laß ich dich kielholen, du Penner, du lausiger …“

Dan pumpte seine Lungen voll Luft und tauchte wieder.

Mit gestreckten Armen und Beinen glitt er durch das dunkle Wasser, die Augen weit geöffnet. Undeutlich spürte er eine Bewegung neben sich: Batuti. Der schwarze Herkules schwamm wie ein Fisch und hielt sich mit Dan auf gleicher Höhe. Sekunden verstrichen, und auch dieses Mal tauchten sie erst auf, als die Atemnot unerträglich wurde.

Dan keuchte und sog gierig die frische, salzige Luft ein. Wasser plätscherte neben ihm, Batutis Kopf tauchte auf. Der Neger schnappte nach Luft, grinste gleichzeitig, und in dem schwarzen Gesicht blitzten die Zähne.

„Da!“ brüllte jemand auf der Galeone. „Da sind sie! Steuerbord querab!“

Im nächsten Sekundenbruchteil ertönte Jean Morros Stimme: „Beiboot abfieren! Hopp-hopp! Ich will diese Bastarde wiederhaben!“

„O verdammt!“ flüsterte Dan mit Inbrunst, während Batuti schon wieder wegtauchte.

Der drahtige Dan tauchte hinterher. Dabei wurde ihm klar, daß es nicht den geringsten Sinn hatte, stur geradeaus zu schwimmen. Undeutlich sah er die schwarze Hünengestalt vor sich und wie sie nach oben schwenkte. Dan tauchte ebenfalls auf.

„Nach links!“ zischte er. „Wir müssen sie täuschen, Haken schlagen oder so was.“

„Wie Hase?“

„Ja, verflucht! Oder wie Haifisch oder …“

„Fier weg das Ding!“ gellte die Stimme des Bretonen. „Sechs Mann abentern! Nehmt Waffen mit, ihr dreimal verdammten Idioten!“

Dan warf sich im Wasser nach links, stieß tief nach unten und versuchte, so weit wie möglich von seinem ursprünglichen Standort wegzuschwimmen. Sein Herz hämmerte, und das Stechen und Brennen in seiner Brust bewies ihm, daß er für längere Tauchstrecken nicht mehr gut genug war. Das Salzwasser biß in den Wunden an seinem Rücken, aber das nahm er kaum wahr. Verzweifelt stieß er die angehaltene Luft aus, schluckte Wasser, und die blubbernden Blasen vor seinen Augen schienen sich in bunte, explodierende Sterne zu verwandeln.

Mit letzter Kraft tauchte er auf und schnappte nach Luft.

„Still!“ zischte Batutis Stimme dicht an seinem Ohr. „Kerle in Boot suchen Bewegung.“

Jetzt erst hörte Dan bewußt die rhythmischen Ruderkommandos, die in seinem Schädel widerzuhallen schienen wie Hammerschläge.

„Hool weg! Hool weg!“

Das Boot löste sich von der „Isabella“.

Vier Männer pullten, zwei spähten aufmerksam über das Wasser. Sie waren mit Pistolen, Belegnägeln und Bootshaken bewaffnet – letztere vermutlich, um ihre Opfer aus dem Bach zu fischen, wenn sie sie erst hatten. Vorerst suchten sie in der falschen Richtung. Aber Dan O’Flynn bezweifelte, daß das so bleiben würde.

„Weiter!“ flüsterte er.

Sehr behutsam ließ er sich diesmal unter Wasser gleiten, und auch Batuti vermied es, sich heftig zu bewegen. Dafür gelangten sie auch nicht so schnell vorwärts, und zusätzlich vermieden sie es, das letzte Quentchen Luftreserve zu verbrauchen, um nicht zu unkontrolliert und hastig auftauchen zu müssen.

Trotzdem rauschte das Blut in Dans Ohren, als er auftauchte.

„Scheiße!“ hörte er Batutis Stimme, warf einen Blick über die Schulter und zuckte zusammen.

Das Boot hielt auf sie zu.

Die Kerle mußten sie entdeckt haben.

An Bord der „Isabella“ wurde im selben Augenblick ein zweites Boot abgefiert, weil der Bretone offenbar keinerlei Risiko eingehen wollte.

Angriff ist die beste Verteidigung, dachte Dan.

Und Batuti kleidete den gleichen Gedanken in schlichtere Worte: „Nix hauen ab! Besser hauen drauf, rumms!“

„Ja, rumms! Wir tauchen, packen sie von zwei Seiten, schaukeln ein Bißchen, entern und hauen die Bastarde mit den Riemen zu Brei!“

„Rumms!“ wiederholte Batuti, begeistert.

Und mit dem nächsten Atemzug war er schon wieder verschwunden.

 

Dan tauchte ebenfalls. Sehr steil diesmal, so daß er sich im Wasser drehen konnte, denn die Kerle sollten ja annehmen, daß ihre Opfer an Abhauen und nicht an Draufhauen dachten. Mit aufgerissenen Augen glitt Dan auf den plumpen Schatten des Bootes zu. Batuti verschwand bereits hinter diesem Schatten, Dan hielt sich an der Backbordseite. Unmittelbar über ihm zogen die Riemenblätter durchs Wasser. Dan wartete, bis sie achtern waren, spannte die Muskeln und schnellte wie ein Tümmler dicht an der Bordwand hoch.

Jemand brüllte erschrocken.

Dans Körper blockierte die Riemen, seine Hände umklammerten das Dollbord, stemmten sich dagegen, gleichzeitig spürte er den Zug von der anderen Seite. Das Boot krängte nach Steuerbord. Mit fuchtelnden Armen versuchten die Kerle, die in Bug und Heck knieten, das Gleichgewicht zu halten.

„Hopp!“ schrie Dan gellend, und der jähe Gegenruck ließ das leichte Fahrzeug fast kentern.

„Du dreckige Wanze!“ brüllte einer der Rudergasten und riß den Riemen hoch.

Dan packte mit beiden Händen zu, um den Kerl außenbords zu ziehen. Das schaffte er auch: der Bursche nahm lieber ein Bad, als den Riemen fahren zu lassen. Der zweite Rudergast auf der Backbordseite hatte Dans Kopf aufs Korn genommen. Aber da war plötzlich kein Kopf mehr, der Hieb ging ins Leere, und auch dieser Kerl sprang dem im Wasser verschwindenden Riemen nach.

Damit war der Trimm beim Teufel.

Wie eine Nußschale schlug das Boot um. Gebrüll brandete auf. Auch Batuti schrie – ein kurzer, abgehackter Schrei. Er hatte die Kante des Dollbords an den Kopf gekriegt, aber das konnte Dan O’Flynn nicht sehen.

Drei Mann stürzten sich wie die Berserker auf Dan O’Flynn.

Er tauchte weg, bevor sie ihn zerquetschen konnten. Einem der Kerle rammte er von unten den Schädel in den Bauch. Der Bursche krümmte sich im Wasser. Dan glitt zur Seite, schnellte auf das Boot zu, das sie entern wollten, also wieder aufrichten mußten, aber er suchte Batuti vergeblich.

Eisiger Schrecken krampfte seinen Magen zusammen.

Blindlings schlug er um sich, als sich einer seiner Gegner von hinten über ihn warf. Nummer zwei erwischte er mit einem Fußtritt, aber der erste saß ihm wie eine Katze im Nacken und versuchte, seinen Kopf unter Wasser zu drükken. Dan stieß die Hand mit gespreizten Fingern nach oben. Er traf nicht und hörte grelles, triumphierendes Gelächter.

„Hierher!“ schrie jemand – und wie ein Schemen glitt das zweite Boot über das Wasser.

Mit der Kraft der Verzweiflung stieß Dan noch einmal zu. Diesmal fuhren seine gespreizten Finger dem Piraten ins Gesicht, und der Kerl schrie gellend auf. Der Würgegriff lockerte sich. Dan rang nach Luft, wollte wegtauchen und wußte zugleich, daß er keine Chance mehr hatte.

Nur verschwommen sah er den Rumpf des zweiten Bootes dicht vor sich.

Etwas krachte von oben auf seinen Schädel. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte er das Gefühl, sein Kopf fliege auseinander, dann fühlte er überhaupt nichts mehr.

Als er wieder zu sich kam, lag er bäuchlings auf den Planken der „Isabella“, und jemand bearbeitete seine Rippen mit Fußtritten.

„Rabenaas, verdammichtes!“ hörte er eine vertraute Stimme. „Wenn kleines O’Flynn umbringen, Batuti macht Picadillo aus dir …“

„Kleines O’Flynn, kleines O’Flynn!“ äffte Pepe le Moco wütend. „Dein kleines O’Flynn wird kielgeholt, du schwarzer Bastard!“

„Mistiges Hund! Sohn von verlaustes Wanderhure und triefäugiges Ziegenbock, du …“

Der nächste Tritt krachte in Batutis Rippen. Dan stöhnte vor Wut. Als er die Augen öffnete, sah er die hochgewachsene Gestalt von Jean Morro, der das Achterkastell verließ, und gleichzeitig sah er die Bewegung, mit der Pepe le Moco von neuem zutreten wollte.

Dan O’Flynn federte schneller hoch, als irgend jemand denken konnte.

Mehr war allerdings nicht drin, da sich sofort ein paar Mann an seine Arme hängten und ihm fast die Schultern auskugelten. Dan warf den Kopf in den Nacken. Er konnte hören, wie der Tritt in Batutis Rippen krachte. Mit einer wilden Bewegung spuckte der blonde O’Flynn Jean Morro an und fauchte erbittert, weil er nicht getroffen hatte.

„Mann!“ sagte der Bretone. Es klang beinahe anerkennend. „Dich müssen sie wirklich auf einer Kanonenkugel gezeugt haben.“

„Worauf du dich verlassen kannst, du feiger Bastard!“ fauchte Dan, dem jetzt alles egal war.

Der Bretone schüttelte den Kopf. Ein paar von seinen Leuten zerrten Batuti auf die Füße – oder besser, sie verhinderten, daß er auf die Füße und gleich auch noch Jean Morro ins Gesicht sprang. Der schwarze Herkules sah furchterregend aus. Eine tiefe Wunde klaffte an seinem Kopf, Blut lief über sein Gesicht. Es war ein Wunder, daß er sich überhaupt noch auf den Beinen halten konnte.

Pepe le Moco taumelte keuchend gegen das Schanzkleid.

Er hatte ebenfalls einiges abgekriegt, stellte Dan zufrieden fest. Wut und Rachsucht flackerte in den blutunterlaufenen Augen des Piraten wie ein Feuer.

„Auf was warten wir noch?“ schrie er. „An die Rah mit den Bastarden!“

„An die Rah! Zieht ihnen die Hälse lang!“

„Wer gibt hier eigentlich die Befehle?“ fuhr der Bretone dazwischen.

Pepe le Moco knirschte mit den Zähnen. „Du, Jean! Willst du sie etwa nicht aufknüpfen oder kielholen lassen?“

„Nein“, sagte der Bretone.

„Aber – aber du kannst doch nicht …“

„Nein!“ wiederholte Jean Morro schneidend. „Sperrt sie in die Vorpiek! Der nächste, der etwas an meinen Befehlen zu mäkeln hat, kriegt die Neunschwänzige zu spüren!“

Dan O’Flynn war immer noch ziemlich verdattert, als das Schott der Vorpiek hinter ihnen dichtgerammt wurde.

Er wurde nicht schlau aus dem Bretonen.

Aber er begann zu ahnen, daß sie den Kerl wohl irgendwie nicht ganz richtig eingeschätzt hatten.

Die Strahlen der Morgensonne tanzten über das Wasser wie glitzernde Pfeile.

Der schwarze Viermaster und die ranke Karavelle segelten dicht unter Land nach Nordwesten. Die Küste lag querab: Palmen, leuchtende Strände, wie ein dunkelgrüner Gürtel dahinter die üppige tropische Vegetation des Urwalds, und noch weiter landeinwärts die steil ansteigenden Berge, deren Gipfel bereits hinter Hitzeschleiern verschwammen.

Hasard stand am Steuerbord-Schanzkleid des Achterkastells und suchte die Küstenlinie mit dem Spektiv ab. Vor einer knappen Stunde hatte Siri-Tong die Fahrt des Viermasters verlangsamt und der aufsegelnden Karavelle signalisiert, auf Rufweite heranzudrehen.

In der tropischen Hitze waren sämtliche Wasservorräte des schwarzen Seglers verdorben. Die Rote Korsarin und der Wikinger wollten Frischwasser an Bord nehmen, möglichst bevor sie auf die „Isabella“ stießen und vielleicht in unvorhersehbare Verwicklungen gerieten. Das war vernünftig. Hasard fand es überdies ganz nützlich, sich an Land umzusehen und die Gegend ein wenig kennenzulernen, bevor es ernst wurde.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?