Buch lesen: «Geisel des Piraten»
Keira Andrews
Geisel des Piraten
Aus dem Englischen von Julie Werner
Impressum
© dead soft verlag, Mettingen 2021
© Keira Andrews
Originaltitel: Kidnapped by the pirate, 2017
Übersetzung: Julie Werner
Cover: Irene Repp
http://www.daylinart.webnode.com
Bildrechte:
© freya-photographer – Shutterstock.com
© fergregory – Stock.adobe.com
1. Auflage
ISBN 978-3-96089-480-3
ISBN 978-3-96089-481-0 (epub)
Anmerkung der Autorin
Ich bin Alicia, Anara, Becky, Mary, Leta Blake, Davina Jamison und Robert Winter für ihre Hilfe beim Schreiben dieses Romans so dankbar. Vielen Dank auch an die Sprachpathologin Elizabeth J. für ihre unschätzbare Hilfe.
Obwohl ich in meinen Büchern immer nach Genauigkeit strebe – historisch und auch sonst – nehme ich mir manchmal etwas kreative Freiheit heraus. So bin ich mir sicher, dass auch ihr wisst, dass Primrose Isle rein fiktiv ist.
Inhalt:
Wird ein jungfräulicher Gefangener der sündhaften Berührung dieses Piraten widerstehen können?
Nathaniel Bainbridge ist daran gewöhnt, sich zu verstellen – sei es in Bezug auf seine Schwierigkeiten beim Lesen oder im Hinblick auf sein verbotenes Verlangen nach Männern. Unter dem Druck und der Knute seines ihn kontrollierenden Vaters, des Gouverneurs von Primrose Isle, segelt er in Richtung der gerade gegründeten Kolonie. Dort soll er zugunsten des Familienvermögens eine anständige Heirat eingehen. Dann schlagen die Piraten zu und er wird vom Sea Hawk, einem legendären Schurken der Neuen Welt, entführt, um Lösegeld zu erpressen.
Verbittert und erschöpft hegt Hawk den aussichtslosen Traum, die See zugunsten eines zurückgezogenen Lebens zu verlassen, aber Männer wie er verdienen keinen Frieden. Er hat mit Nathaniels Vater, eben dem Mann, dessen Betrug ihn in die Piraterie gezwungen hat, noch eine Rechnung offen, und er ist überzeugt davon, dass Nathaniel genauso verachtenswert ist wie sein Vater. Dennoch: Während die Tage auf engstem Raum vergehen, wirken Nathaniels lebhaftes Temperament und seine verlockende Unschuld bezaubernd und verführerisch. Obwohl Hawk weiß, dass er Distanz wahren muss, wächst das Verlangen danach, Nathaniel beizubringen, welche Lust Männer miteinander teilen können. Es ist allerdings auch nicht so, dass Hawk nur Lust für ihn empfinden würde …
Widmung
Ich bin in den 80ern mit dem Lesen von Bodice Rippern (in Deutschland Nackenbeißer oder auch Miederreißer genannt) aufgewachsen, und dieses Buch ist meine liebevolle Hommage an die herrlichen Geschichten von Piraten, Jungfrauen und an die Verwegenheit auf hoher See.
Kapitel Eins
1710
Wenn Piraten das blutige, wilde Ende von Nathaniel Bainbridge sein sollten, dann hoffte er darauf, dass sie ihn wenigstens schnell erledigten.
Unter seinen nackten Füßen war das windumtoste Deck feucht und erinnerte ihn an das taubenetzte Gras zu Hause. Was würde er nicht alles für die Freiheit geben, über die Felder von Hollington zu laufen, mit dem Wind in seinen Ohren, der das gleichmäßige Schlagen seines Herzens übertönte, und dabei die Welt hinter sich zurückzulassen.
Stattdessen war er umgeben von der endlosen, unruhigen See, die ihn in ihrer Wildheit zu verspotten schien. In England hatte er unzählige Geschichten von niederträchtigen Seeräubern und ihren heimtückischen Taten gehört. Die Menschen sprachen von dem Ozean, als ob es dort von Piraten nur so wimmelte, aber bis jetzt hatte die Reise Meile um Meile aus… Nichts bestanden.
Nathaniel schüttelte den Kopf über seine eigene Dummheit. Natürlich wünschte er sich nicht tatsächlich, dass Piraten ihr Schiff angriffen und sie massakrierten. Wenn er sich nur bewegen könnte, würde es ihm gelingen, die Langeweile in Schach zu halten.
Er umfasste die Reling und sehnte sich dabei nach Schmutz unter seinen Fingernägeln, nach Kratzern an seinen Händen, die er sich von der Baumrinde zuzog, während er kletterte und erkundete, und nach wunderbar schmerzenden Muskeln von stundenlangem Schwimmen im See. Könnte er doch nur eine Meile weit laufen. Kaum eine Entfernung, aber gefangen auf diesem Schiff kam ihm so viel freies Land wie ein Wunder vor.
Er wischte sich die Gischt aus den Augen. Wenn doch nur die Fähigkeit, schnell zu laufen und zu schwimmen in seiner Welt irgendetwas zählte, statt als kindische Torheit betrachtet zu werden, der er längst hätte entwachsen sein sollen. Männer kletterten nicht auf Bäume und schwammen nicht stundenlang, und ganz gewiss liefen sie nicht um des reinen Vergnügens Willen, so wie er es auf Hollington getan hatte.
Natürlich gehörte ihnen das Anwesen nicht mehr. Es war verkauft worden, um die Schulden zu tilgen. Selbst wenn er eines Tages wieder nach Kent reisen würde, würde er niemals in die liebliche Hügellandschaft zurückkehren. Die sattgrünen Bäume und der runde, stille See waren jetzt die Heimstatt einer anderen Familie.
Nein, in absehbarer Zukunft würde Primrose Isle seine Heimat sein: eine junge Kolonie, die sein Vater unbedingt florieren sehen wollte. Walter Bainbridge hatte sein Glück mitnichten in England gefunden, und als Gouverneur in der Neuen Welt stand ihm nun das zur Verfügung, was er am allermeisten liebte: Macht.
Auch Nathaniels zukünftige Braut wartete dort. Elizabeth Davenports Erbe versprach ein Vermögen, und damit die Kolonie – und Walter – wachsen und gedeihen konnten, mussten Allianzen geschlossen werden. Also würde Nathaniel das einzig Nützliche beitragen, was er konnte. Und heiraten.
Er wischte sich einen frischen Spritzer des salzigen Meerwassers aus dem Gesicht und starrte hinaus in die endlose Nacht, während er die Reling weiter fest umklammerte. Sein Hemd bauschte sich im Wind und unten an den Beinen lösten sich die Verschlüsse seiner Kniehose.
Im Dunkeln gab es niemanden, der seinen halb ausgezogenen Zustand kommentierte, und er vermutete, dass es die Mannschaft sowieso einen feuchten Kehricht scherte. Die Spitzen seiner frisch geschnittenen Haare kräuselten sich in der Feuchtigkeit. Er strich sich eine Locke hinters Ohr. Es war sein ganz eigener kleiner Akt der Rebellion gewesen, es viel kürzer als die meisten Gentlemen schneiden zu lassen. Und ganz sicher würde er auch keine der gefürchteten Perücken tragen – nicht, solange er es verhindern konnte.
Die Wolken verschworen sich und verbargen die Sterne und die hauchdünne Sichel des Mondes. Er zitterte in der Kälte der Spätseptembernacht; er hätte sich doch besser für die verhassten Schuhe und die Jacke entscheiden sollen. Wenigstens hatte der Wind jetzt nicht mehr der die bittere Kälte des Atlantiks, je näher sie den Westindischen Inseln kamen. Er verlagerte sein Gewicht von einem Bein aufs andere und stampfte dann wie ein ungeduldiges Rennpferd an der Startlinie.
Die Proud William hatte eine beachtliche Größe und war ein Handelsschiff, das eine Ladung Salzfisch und geschmiedete Werkzeuge zu den Kolonien bringen sollte. Als er nur einen leichten Trab über das Hauptdeck versucht hatte, hatte die Mannschaft im besten Fall mit Verwirrung und im schlimmsten Fall mit Feindseligkeit reagiert.
Zu Laufen war seine Lieblingsbeschäftigung und das, was er im Leben am besten konnte, sehr zum Missfallen seines Vaters. Im Sommer im See zu schwimmen und mit sicheren, gleichmäßigen Schwimmzügen durch das stille Wasser zu pflügen, war ihm gleichfalls eine Freude.
Jetzt zwar meilenweit von Wasser umgeben zu sein, aber nicht darin eintauchen und die verkrampften Muskeln lockern zu können, war die größte Qual. Er hatte den Captain gefragt, ob er wenigstens auf den Mast klettern dürfe oder bis in die Segeltakelage, und war rundweg abgewiesen worden. Also stand er Steuerbord an der Reling und ging hin und wieder auf und ab, sorgfältig darauf bedacht, der Mannschaft aus dem Weg zu gehen.
Wenigstens war ihm gesagt worden, dass sie gut vorankamen und dass sie nach einem Monat Reise – um genau zu sein, einunddreißig Tage und circa dreizehn Stunden, nachdem sie England verlassen hatten – die Insel innerhalb von weiteren vierzehn Tagen erreichen würden. Wenn der Wind anhielt. Er hatte gehört, dass manche Schiffe mehrere Monate brauchten, um die Kolonien zu erreichen. Segler konnten London an ein und demselben Tag verlassen und mit einer zeitlichen Differenz von mehreren Wochen ihr gemeinsames Ziel erreichen. So war nun mal das Wesen des Meeres.
Ins Nichts starrend, hielt er plötzlich in seiner ruhelosen Bewegung inne und blinzelte. Die schwach leuchtende Sichel des Mondes war sekundenlang den Wolken tapfer entkommen, und Nathaniel glaubte, eine seltsame Bewegung zu erkennen. Die Nacht selbst schien kurz Gestalt anzunehmen und verwandelte sich dann wieder zu einer einheitlichen Schwärze. Vielleicht war es eine große Kreatur aus den Tiefen des Ozeans gewesen, die hinauf an die Oberfläche getaucht war – ein Wal oder ein gigantischer Tintenfisch oder irgendein anderes geheimnisvolles Monster. Er lachte in sich hinein. Heute Abend hatte Susanna Fabeln aus einem der ledergebundenen Folianten vorgelesen, die sie von zu Hause mitgenommen hatte, und seine Fantasie ging eindeutig mit ihm durch.
Sie war schon immer die Nachsichtigere seiner beiden älteren Schwestern gewesen, und er wusste, dass sie die Bücher eingepackt hatte, die ihm gefielen, obwohl auch sie eher eine Vorliebe für abenteuerliche Geschichten hatte als für die rührseligen Erzählungen, die Damen eigentlich lesen sollten. Sie hatten beide mit großem Vergnügen das Tagebuch eines Marinekapitäns gelesen, der auf mehreren Schiffen gedient und das Leben an Bord lebendig und ausführlich beschrieben hatte.
Gleichwohl die Kabine, die sie sich teilten, winzig war, bot sie ihnen wenigstens etwas Ungestörtheit. Er sollte sich wirklich zu ihr gesellen, um zu schlafen und einen weiteren endlosen Tag zu beenden, aber die Wände dort schienen ihn wie in einem Gefängnis einzuschließen. Susannas beinahe donnerndes Schnarchen war ebenfalls nicht besonders hilfreich, aber er gönnte ihr ihren tiefen Schlaf von Herzen.
Zum hundertsten Mal fragte er sich, wie sein Leben auf Primrose aussehen würde. Die Kolonie war erst ein paar Jahre alt, und hinter vorgehaltener Hand hatte er von Problemen mit Ackerbau und Handel gehört, Gerüchte über Korruption und über Siedler, die schon jetzt wieder ihr Hab und Gut zusammenpackten. Er würde dazu gezwungen sein, für seinen Vater zu arbeiten oder einer anderen Tätigkeit nachzugehen, die ihm zugeteilt werden würde, so wie Susannas Ehemann Bart.
Der attraktive Bart war dreißig und mittellos, aber aus einem guten Stall und von angenehmem Wesen. Er und Susanna hatten aufeinander bestanden und mehrere Jahre gewartet, bis beide Väter nachgegeben und der Verbindung zugestimmt hatten. Bart schien darüber so glücklich gewesen zu sein, dass er Vaters Geboten gefolgt war, einschließlich des frühen Aufbruchs nach Primrose vor ein paar Monaten, nicht ahnend, dass Susanna sein Kind in sich trug.
Wenn Walter Bainbridge eine Forderung stellte, wurde sie befolgt. Manchmal wunderte Nathaniel sich, wie ein Mann, den er seit seiner Kindheit nur selten gesehen hatte, eine so große Bedeutung in seinem Leben einnehmen konnte. Susanna und Bart hatten es gehasst, sich trennen zu müssen, aber sie wurde gebraucht, um den Auszug aus dem Anwesen und die Auktion der wertvolleren Stücke zu überwachen. Gewiss konnte dies nicht Nathaniel überlassen werden, der nicht mal gewusst hätte, womit er beginnen sollte, da er so viel Zeit außerhalb des verzierten Hauses verbracht hatte, wie er nur konnte.
Nathaniel hatte es in Betracht gezogen, sich zu weigern, als er und Susanna fortzitiert worden waren. Aber was sollte er tun? Wo sollte er leben? Seine Heirat mit Elizabeth war von ihren Vätern arrangiert worden, und falls er seine Pflicht nicht erfüllte, würde Walter ihn enterben. Nichts würde ihm bleiben, nicht mal ein Dach über dem Kopf. Er schmeckte bittere Galle. Nein, das würde nicht gehen. Also auf Richtung Primrose Isle, um zu heiraten, wie sein Vater es für richtig hielt.
Von Elizabeth Davenport wusste er nur, dass sie einige Jahre mit ihrer wohlhabenden Familie in Jamaika gelebt hatte, bevor ihr Vater sich mit Walter zusammengeschlossen hatte, um auf Primrose Isle eine Reederei zu gründen. Nun, er wusste auch, dass ihre Handschrift ausnahmslos ordentlich war, und durch Susannas Zusammenfassung des Briefes wusste er auch, dass sie gerne stickte und sich wahrlich darauf freute, ihr Leben mit ihm zu teilen. Er hatte ihren Brief kurz vor seinem Aufbruch aus England erhalten und ihn auf dem Kaminrost in seinem Zimmer verbrannt. Wenigstens war die Reise eine angemessene Entschuldigung dafür, ihr nicht zu antworten.
Und so sehr er sich auch wünschte, in England zu bleiben: er konnte er es nicht zulassen, dass seine geliebte Schwester Susanna den gefährlichen Atlantik allein überquerte. Obwohl – wenn man in Betracht zog, wie reibungslos die Reise bis jetzt verlaufen war, auf der ein absoluter Mangel an Seemonstern geherrscht hatte und selbst ein nennenswerter Sturm ausgeblieben war, hätte er sich keine Sorgen um sie machen müssen. Dennoch, jetzt war es so.
Schon vor Jahren hatte er akzeptiert, dass er schwachsinnig war, und obwohl er wusste, dass er dankbar für die Möglichkeit sein sollte, wenigstens eine gewisse Position in der neuen Kolonie einnehmen zu können, fürchtete er die Vorstellung, einmal mehr wirklich unter der Knute seines Vaters zu stehen. Es war ein Segen gewesen, seinen Vater jahrelang auf der anderen Seite der Welt zu wissen. Vermutlich sollte er bei solch kleinlichen Gedanken eigentlich Reue empfinden, aber es gab für ihn noch viel mehr Schuld zu tilgen. So viel mehr, in der Tat.
Er wandte sich von der Reling ab und resignierte angesichts der Vorstellung einer weiteren langen Nacht in der schaukelnden Hängematte. Susanna schlief natürlich auf dem Feldbett in der einzigen Kabine, die sein Vater sich jetzt noch leisten konnte, da er so viel Geld verprasst hatte.
Ein Schrei über ihm durchdrang die Nacht, und Nathaniel sprang vor Schreck in die Höhe.
»Segel!«
In der einsetzenden Hektik und den lauten Rufen drückte er sich an die Seite, während die Besatzung wie eine Horde Ameisen aus dem Bauch des Schiffes auftauchte. Nathaniel spähte in die Dunkelheit und wandte den Kopf hin und her, konnte aber zunächst nichts erkennen. Dann sah er es: Der Rumpf eines Schiffes tauchte aus der Nacht auf. Es war stockdunkel, kein Licht brannte dort, und es schien von der Proud William angezogen zu werden wie eine Motte vom Licht. Nathaniel wurde schlecht. Sein Magen drehte sich und ihm wurde klar, dass er jetzt wirklich ein Monster vor sich hatte, und es war direkt über ihnen.
Er stürzte hinunter zu ihrer Kabine und riss die Tür auf. Haselnussbraune Locken fielen über Susannas Schultern, als sie sich erschrocken im Bett aufsetzte. Ihr Buch fiel zu Boden. Sie drückte eine Hand auf ihren runden Bauch und rief: »Was ist denn?«
»Ich glaube, es sind Piraten!« Als er es aussprach, konnte er seinen eigenen Worten kaum glauben. Hatte er sie herbeigerufen, als er über Langeweile gemurrt hatte? Oh, welch ein Narr er gewesen war.
Das Blut wich aus Susannas lieblichen, runden Gesicht. »Piraten?«
»Ich weiß nicht, wer es sonst sein sollte.« Hastig klappte er eine Truhe auf, wühlte darin nach seinem Dolch und verwünschte sich dabei, nicht doch schon eher den Alarm ausgelöst zu haben. Seine Gedanken rasten, während er den Griff der Waffe zu fassen bekam, die Lederscheide abzog und beiseite warf. Über ihnen donnerten Schritte und ließen die Decke beben, Staub wirbelte auf und Schreie erfüllten die Luft.
Susanna sah auf ihr Nachthemd hinunter und verzweifelte. »Es bleibt keine Zeit mehr für Unterröcke und ähnlichen Unsinn.« Sie zog sich ihr fließendes grünes Kleid über den Kopf und sagte durch den Stoff gedämpft: »Mein Gott, das sind wirklich Piraten, oder? Oh, ich glaube, ich stecke fest.«
Nathaniel half ihr, das Kleid über ihren geschwollenen Bauch zu ziehen. Sie tauchte aus den Falten des weichen Stoffes auf und spähte zur Decke, als könnte sie hindurchsehen. Wieder laute Schritte und lautes Schlagen. Angespannte Stimmen schrien Befehle, die zu weit weg waren, um sie zu verstehen.
Susanna flüsterte: »Keine Gewehrschüsse. Müssen zu viele sein. Die Mannschaft wehrt sich nicht. Hilf mir, das hier zu schließen.« Sie trug ihr Korsett nicht mehr und hatte damit während ihrer Schwangerschaft die neue französische Mode übernommen.
Als er endlich so viel Stoff zusammengerafft und festgesteckt hatte, dass das Kleid irgendwie hielt, wobei er sich in seiner Hast in den Finger gestochen hatte und ein kleiner Blutstropfen hervorquoll, zog er sich hastig seine eigenen Strümpfe an, befestigte sie an seiner Kniehose und quetschte die Füße in seine Schnallenschuhe. Er würde diesen Briganten nicht nur halb bekleidet gegenübertreten. Seinen Dolch steckte er sich in den hinteren Hosenbund, dann warf er sich seine Weste über und fummelte die Knöpfe durch die Knopflöcher. Für sein Halstuch und das Jackett blieb dagegen keine Zeit mehr. Schon erklangen laute Stimmen im Korridor. Verspätet wirbelte er herum, suchte nach etwas, mit dem er die Tür verbarrikadieren konnte.
Susanna hatte anscheinend den gleichen Gedanken gehabt. »Die Koffer sind nicht schwer genug. Außerdem wird es sie nur in Rage versetzen. Es hat keinen Zweck.«
»Stell dich hinter mich.« Er drängte sie in den hinteren Bereich der Kabine, der kaum breiter war als sein ausgestreckter Arm.
»Pass auf, was du sagst«, warnte sie ihn. »Du weißt, dass deine Gedanken manchmal direkt aus deinem Kopf auf deine Zunge springen, bevor du sie noch einmal abwägst.«
Er schnaubte. »Worüber genau soll ich deiner Meinung nach mit Piraten sprechen?«
»Pst!« Sie schlug ihm auf die Schulter.
Sie warteten, lauschten. Noch mehr donnernde Fußtritte und Rufe, die eine unwiderlegbar barbarische Qualität hatten. Nathaniel standen die Haare zu Berge. Sein Mund wurde trocken. Vielleicht würden die Piraten an ihrer Kabine vorbeigehen. Vielleicht würden sie nur die Fracht plündern und sich damit zufriedengeben. Vielleicht …
Die Tür wurde aufgerissen und flog fast aus den Angeln. Nur mit Mühe konnte Nathaniel einen Schrei unterdrücken. Sein Herz klopfte so laut, dass die beiden Eindringlinge es sicher ebenfalls hören mussten. Einer der beiden strich sich sein struppiges Haar aus den Augen. Beide sahen abgerissen aus; sie trugen schmutzstarrende Hosen, die genauso sackartig wie ihre Hemden an ihnen herunterhingen, und ihre Stiefel waren abgenutzt.
Der langhaarige Mann ließ seine Knopfaugen an ihnen auf und ab wandern. Er fragte seinen gedrungenen Kumpanen: »Hast du schon mal 'ne Hündin mit 'nem Welpen drin gefickt?«
Nathaniel drehte sich der Magen um. Woher wussten sie das? Susanna versteckte sich hinter ihm. Er hob das Kinn und versuchte krampfhaft, mit kräftiger Stimme zu sprechen. »Ihr werdet meine Schwester mit euren schmutzigen Fingern nicht einmal anrühren!«
Der Gedrungene ignorierte ihn. Er lächelte anzüglich und entblößte dabei abgebrochene gelbe Zähne. »Süß und saftig, ich sag's dir.«
Hinter ihm grub Susanna ihre Finger in Nathaniels Schulter. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Er zog seinen Dolch aus dem Hosenbund und schwang ihn in Richtung der Piraten. »Bleibt zurück!«
Die beiden blinzelten Nathaniel verdutzt an, dann brachen sie gleichzeitig in raues Gelächter aus. Der langhaarige Mann schnappte nach Luft und keuchte: »Oh nein, wir sind geliefert, Deeks!«
Schwere Tritte erklangen im Korridor, unverschämt und gebieterisch. Die beiden Männer strafften die Schultern und traten beiseite, als ein Mann in der Tür erschien. Seine Schultern berührten fast den Türrahmen. Er war groß genug, um sich beim Eintreten leicht bücken zu müssen. Sein scharfer Blick wanderte durch die Kabine, die noch nie so klein erschienen war.
Er trug Schwarz vom Kopf bis zu den goldenen Stiefelspitzen, ein Hemd mit offenem Kragen, eine Hose, die in die kniehohen Stiefel gestopft war, und einen langen Ledermantel, der sich hinter ihm bauschte. Eine Pistole steckte in seinem breiten Gürtel und ein Entermesser blitzte an seiner Hüfte. Die Gürtelschnalle war aus funkelndem Gold. Sie passte zu dem kleinen quadratischen Ohrring in seinem linken Ohr, den Ringen an seinen Fingern und den Spitzen dieser schwarzen Stiefel. Die Enden einer roten Schärpe hingen von seiner Hüfte herab. Abgesehen vom Gold, war das der einzige Farbtupfer an ihm. Er musste doppelt so alt sein wie Nathaniel. Sein Gesicht war wettergegerbt und eine Narbe zog sich über seine linke Schläfe. Sein dunkles Haar war ziemlich kurz geschnitten – das war überraschend, denn Nathaniel hätte eigentlich erwartet, dass alle Piraten lange, ungepflegte Haare hatten wie die Tiere, die sie nun mal waren.
Sein sorgfältig getrimmter Bart beschattete seinen ausgeprägten Kiefer. In dem gedämpften Licht konnte Nathaniel die Farbe seiner zusammen gekniffenen Augen nicht erkennen, und er stellte sich vor, dass sie so schwarz sein mussten wie die Seele des Piraten. Vielleicht war er sogar der Teufel höchstselbst.
Nathaniels Hand schwitzte am Griff seines Dolchs und beschämt wurde ihm klar, dass sein ausgestreckter Arm zitterte. Sein Hals fühlte sich schmerzhaft trocken an, als er krächzte: »Wir … wir besitzen nichts von Wert. Kein Gold oder Juwelen, die Eure Mühe wert wären.«
Susanna fügte hinzu: »Selbst mein Ehering ist nur vergoldet.«
Tully, eines der jungen Crewmitglieder der Proud William, hatte die Kabine betreten. Der Mann – ohne Zweifel der Kapitän der Piraten – sah ihn fragend an. Tully nickte. »'s stimmt. Nur Kleidung un' Kinkerlitzchen in ihr'n Koffern.« Er schnüffelte missbilligend und schüttelte seinen roten zotteligen Haarschopf. »Nichts irgendwo versteckt hier drin. Konnten nix finden, seit wir London verlassen ham.«
Nathaniel hatte eigentlich besser von der Mannschaft gedacht, aber jetzt sah er, wie naiv er gewesen war. Es musste Tully gewesen sein, der die Piraten darüber informiert hatte, dass Susanna ein Kind erwartete. »Was für ein elender Feigling du bist, Tully.«
Er schnaubte. »Sobald ich die Flagge erkannt hab, wusste ich, dass wir erledigt sind. Jeder weiß, dass der Sea Hawk dich vom Vordersteven bis zum Heck ausweidet, wenn er dich ers'ma' in den Krallen hat. Ich werd' bestimmt nich' sterben für 'ne Fracht, die mir scheißegal is', und für 'nen Käpt'n, der uns wie Dreck behandelt.«
»Euer Ziel ist Primrose Isle?« Der Pirat, dieser Sea Hawk, sprach ruhig und gelassen.
»Ja«, antwortete Nathaniel. »Es ist eine neue Kolonie.«
Tully nickte. »Ihr Ehemann is' da. Wir sollen sie da bei ihrem Vater absetzen. Der alte Mann is' da Gouverneur oder so.«
In diesem Augenblick schien Sea Hawk zusammenzuzucken, aber eine Sekunde später war er wieder ganz ruhig, furchteinflößend und leidenschaftslos. Nathaniel hatte sich das Zucken wohl nur eingebildet. Dennoch glomm jetzt ein Funken in den teuflischen Augen auf und Angst durchströmte Nathaniel. Sea Hawk kam näher, bis er sich unmittelbar vor Nathaniel auftürmte. Dann verlangte er in der gleichen bedächtigen und dennoch gebieterischen Art wie zuvor zu wissen: »Dein Name, Junge.«
Mit hämmerndem Herzen brachte er nur ein »Äh …« hervor.
»Dieser hier wird Bainbridge genannt«, sagte Tully hilfsbereit.
»Bainbridge«, wiederholte der Captain, die Stimme jetzt ein kaum hörbares Flüstern. »Wie in Walter Bainbridge?«
Seine Finger am Dolch wurden taub, aber Nathaniel nickte. Morgen würde er dort blaue Flecken haben, wo Susanna sich an ihn klammerte. Er spürte ihre hektischen Atemzüge im Nacken. Es machte keinen Sinn, es zu leugnen. »Unser Vater.«
»Du bist der Sohn, für den Walter Bainbridge seine Frau getötet hat?« So unmittelbar im Interesse des Captains zu stehen, jagte Nathaniel eine Gänsehaut über den Rücken. Er konnte ein Zusammenzucken nicht verbergen und nickte. Seine Mutter hatte ihn nicht mal mehr in den Armen halten können, bevor sie ihr Blut ganz und gar vergossen hatte. Susanna war sechs Jahre alt gewesen und hatte durch das Schlüsselloch zugesehen. Sie hatte Nathaniel nach seiner endlosen Fragerei schließlich alles gestanden, als er noch ein kleiner Junge gewesen war. Sonderbar, dass er selbst nach über achtzehn Jahren noch immer den schmerzhaften Verlust einer Berührung spüren konnte, die er in Wahrheit nie erfahren hatte.
Die Augen des Captains leuchteten auf. Gütiger Gott, der Mann war ein Riese. Nathaniel war mit einem Meter siebzig selbst ziemlich groß, aber dieses Monster überragte ihn noch und maß mindestens einen Meter fünfundachtzig. Um sich zu behaupten, blieb Nathaniel nichts anderes übrig, als standhaft auf seinem Platz stehen zu blieben und nicht nach hinten zu Susanna zurückzuweichen. Die Spitze seines Dolches bebte in seiner Hand, nur Zentimeter von dem schwarzen Herzen des Schurken entfernt.
Sea Hawk sah auf sie herab, als wären sie nur eine Art Beute für ihn, die er am liebsten sofort verschlungen hätte. »Euer Vater ist ein Lügner. Korrupt. Ein Übeltäter mit Seidenstrümpfen und feiner Lockenperücke.«
Nathaniel schluckte schwer, seine Hand zitterte. Sollte er ausholen und den Dolch in das Herz dieses bösen Mannes stoßen? Nicht, dass er besonders viel Liebe für seinen Vater empfand, aber hatte ein Pirat ihn über Übeltäter zu belehren?
Die Augen des Mannes glühten jetzt vor Hass. »Euer Vater hat mich betrogen. Er hatte die Aufgabe, für Gerechtigkeit, für Fairness zu sorgen. Stattdessen hat er eine Verschwörung angezettelt, um mich zu bestehlen. Er hat mich als Pirat gebrandmarkt, als ich ein Freibeuter war.«
»Ist das nicht ein- und dasselbe?«, platzte Nathaniel heraus.
Als die Nasenflügel von Sea Hawk sich aufblähten, grub Susanna ihre Nägel in Nathaniels Schulter. »Nein, das ist es verflucht noch mal nicht«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Freibeuter sind staatlich lizenziert. Legal. Freibeuter folgen Regeln. Gesetzen. Genauso, wie es Euer Vater als Richter am Gericht in Jamaika hätte tun sollen. Euer Vater versuchte, meinen Männern und mir alles zu nehmen, wofür wir gearbeitet und gelitten haben. Wir sind ihm entkommen, aber nach all den Jahren hat er nie dafür bezahlt.«
Furcht überfiel Nathaniel. Wieder einmal würden die Gier und Habgier seines Vaters Leid bringen. Wenn es Walters Schuldenberge nicht geben würde, wären Nathaniel und Susanna immer noch sicher zu Hause und würden bis zur Geburt des Babys warten, um die Reise zu unternehmen. Hollington müsste überhaupt nicht verkauft werden. Aber jetzt waren sie hier und sahen sich der Gnade der Piraten ausgeliefert.
Oh Gott. Bitte verschone Susanna und ihr Kind!
Bei dem Gedanken daran, dass seiner Schwester etwas zustoßen könnte, stieg ihm Galle in die Kehle, er spürte Angst klamm auf seiner Haut. Schweiß rann seine Wirbelsäule hinab. »Ich …« Er zerbrach sich den Kopf, um etwas, irgendetwas, zu sagen, einen Ausweg zu finden. Sein Dolch zitterte und er leckte sich über die trockenen Lippen. »Es tut mir leid.« Er musste das in Ordnung bringen.
Ein träges, grausames Lächeln verzog die Lippen des Teufels. »Das wird es.«