Schmerzfrei ohne Medikamente

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Doch damit nicht genug: Sobald ein Mensch Schmerzen an mehreren Körperstellen hat, beispielsweise am Herzen, im Knie und im Kreuz, und dies eine mehrgleisige Intervention erfordert, kann das zu einem Therapiespektakel ohnegleichen führen, sodass es Ihnen kalt den Rücken hinunterlaufen lässt, wenn Sie davon nur hören. Glauben Sie mir, ich habe in meinen zwanzig Jahren Praxis mit Schmerzklienten viele Szenarien erlebt, in denen eine solche oder ähnliche Vorgehensweise eine Heilung regelrecht verhinderte und Therapie frontal gegen den Baum lief. Die Betroffenen wurden ursprünglich nur der Abklärung halber zu einem Facharzt geschickt und versackten in einer Therapiespirale, weil ihnen jeder der Spezialisten etwas anderes verordnete oder zu einem anderen Vorgehen riet. Weil ihr Körper als ein in Teile zerlegtes Ding galt, blieb am Ende ein erschöpfter Mensch übrig, dessen Schmerz noch immer derselbe war.

Ein Schmerzspezialist brachte das einmal auf einem Schmerzkongress auf den Punkt. Seine Worte sind mir sinngemäß im Ohr geblieben, weil viel Wahrheit in ihnen liegt: Der Schmerz wird äquivalent dazu behandelt, durch welche Tür der Patient geht. Gehen Sie durch die Tür des Chirurgen, werden Sie eher mit der Operation im Schmerzgebiet rechnen müssen. Betreten Sie das Zimmer des Neurologen, werden Sie medikamentiert, und wenn Sie sich an den Orthopäden wenden, erhalten Sie Spritzen, Krankengymnastik oder Elektroanwendungen. Durch die Teilung des Körpers entstehen bestimmte Vorgehensweisen und diese wendet man auf Sie an. Das Fazit: In der klassischen Schmerztherapie werden Sie leider nur selten als „System Mensch“, ja, „als menschliches Wesen“ behandelt werden. Dessen sollten Sie sich bewusst sein, bevor Sie die Türklinke der Facharztpraxis herunterdrücken.

Verstehen Sie mich nicht falsch. Die hochspezialisierte Medizin verlangt, dass es für Fachgebiete Spezialisten geben muss. Der Orthopäde sollte keinen Herzschrittmacher einbauen, der Urologe keine Endoprothese für die Hüfte, auch wenn es in der Nähe seines anatomischen Reviers liegt, und der Hausarzt muss sich genauso wenig mit dem Lesen eines MRTs auskennen, wie der Radiologe in der Lage sein muss, die Litanei der Schmerzmittel auswendig herzusagen. Aber ein jeder Mediziner sollte ein solides Grundverständnis vom Organismus haben und diesem in seiner Vorgehensweise folgen. Er sollte wissen, wie Organe und Körperstrukturen funktionell zusammenarbeiten, wie sie einander bedingen und beeinflussen und wie sie in eben diesem Zusammenhang auch heilen können. Darüber hinaus wäre es die wunderbarste Sache der Welt, wenn Fachkräfte zusammenarbeiten könnten und trotz Spezialwissen den Organismus des Menschen im Auge behalten. Der Nachholbedarf auf diesem Gebiet scheint mir akut zu sein, doch die Praxis hinkt weit abgeschlagen hinterher.

Weiter geht’s mit dem Leergießen Ihres Glases und dem Empfänglichmachen für den Grundsatz Nummer vier:

Verabschieden Sie sich von der Vorstellung, dass Ihre Physis in abgrenzbaren Behandlungsgebieten und im Puppenkörpersystem behandelbar ist. Ihr Organismus funktioniert als Einheit und Meditation spricht diesen als Einheit an.

5. Sie sind ein Mensch

Noch immer sind wir mit dem Teilen und Zerstückeln des Menschen befasst. Nicht nur unser physischer Körper wird in Teile zerlegt, sondern der ganze Mensch mit seinen verschiedenen Anteilen: in eine Materie, die der Körper ist, in den Geist, der die mental-kognitive Welt repräsentiert, und in die Psyche, die die emotionale Welt beschreibt. Obwohl wir heute fast schon gewohnheitsmäßig über die „Einheit von Körper, Seele und Geist“ lesen und das Wort „ganzheitlich“ ein selbstverständlich benutzter Begriff ist, heißt das nicht automatisch, dass diese Einheit auch im Praktischen greift. Ich erlebe immer wieder, dass vielen Menschen nicht einmal klar ist, worin genau diese Einheit besteht. Wo genau spielt sich diese Einheit denn ab? Und WIE fühlt sich diese Einheit WO an?

Wenn diese Fragen unbeantwortet bleiben und praktische Erfahrungen fehlen, zerplatzt das Hervorheben von Ganzheitlichkeit wie eine Seifenblase. Es bleibt weiterhin im Dunkeln, was es bedeutet, eine „Einheit“ zu sein, ganz zu schweigen von der Frage, wie diese herzustellen ist, wenn sie denn fehlt.

Das heißt dann eben auch, dass Schmerz kategorisiert wird und eine Schublade braucht. Ist er strukturell oder funktionell bedingt, als psychosomatisch eingestuft oder mental gewachsen? Klienten fühlen sich erfahrungsgemäß am wohlsten, wenn der Körper allein im Fokus der Intervention steht. Die psychosomatische Schiene kommt wesentlich schlechter an und der mentale Aspekt ist am allerwenigsten beliebt. Wer will schon als mental retardiert gelten oder im Zusammenhang mit fehlender Selbstkontrolle gesehen werden?

Doch wie sieht die Realität aus? Seien Sie ehrlich: Wenn Ihre Schmerzen aufdrehen, können Sie kaum die Beobachtung aufrechterhalten, dass Ihre Schmerzempfindung eine rein physische Angelegenheit ist. Denn das hieße, dass Ihre emotionale Welt unbehelligt und Ihre mentale Verfassung unbeeinflusst bliebe. Ich kenne nicht einen einzigen Menschen, der rein körperliche Beschwerden hat. Schmerz involviert immer den ganzen Menschen mit allen Anteilen, den physischen, den psychischen und den mentalen. Und weil das so ist, dürfen wir den Schmerz nicht grundsätzlich auf die Physis begrenzen und die anderen Anteile als Zusatzkomplikationen sehen. Wenn wir die drei Aspekte als selbstverständliche Faktoren im Schmerzgeschehen verstehen, ganz gleich, ob sie ursächlich oder als Folge daran beteiligt sind, haben wir überhaupt erst die Chance einer erfolgreichen Schmerzintervention.

Gießen Sie Ihr Glas weiter aus und beherzigen Sie den Grundsatz Nummer fünf:

Verabschieden Sie sich von der Vorstellung des gedrittelten Menschen, der in physische, mentale und psychische Anteile zerlegt ist. Sie sind ein ganzer Mensch. Durch Meditation wird sich dies auch in Ihrer Wahrnehmung etablieren.

6. Gesundheitsdefinition

Und schließlich bringt uns der Gedanke an die Einheit von Körper, Seele und Geist zum Thema Gesundheit, denn darum geht es hier ja eigentlich. Von Schmerzen betroffene Menschen wünschen sich nichts mehr, als sich wieder gesund zu fühlen. Und da kommt die Frage auf, was es denn eigentlich heißt, gesund zu sein.

Doch beim Thema Gesundheit kommen wir noch mehr mit unserem herkömmlichen Medizinlatein in Konflikt. Ist ein Mensch gesund, wenn er frei von Beschwerden und ärztlicher Hilfe ist? Und fühlt er sich dann auch so, nämlich rundum gesund? Ist jemand gesund, der zwar keine sicht- und messbaren Beschwerden hat, sich aber mit Beruhigungsmitteln gerade so über Wasser hält? Ist jemand gesund, der im Berufsleben erfolgreich ist, aber zu Hause einen Wutanfall nach dem anderem kriegt? Ist jemand, der mit einem angespannten Rücken Tag für Tag durchhält, gesünder als jemand, der mit anfänglichen Knieschmerzen nach Hilfe sucht? Ist ein positiver und Optimismus vorgebender Mensch, der zu Hause depressiv absackt, gesünder als jemand, dem seine Depression ins Gesicht geschrieben steht? Und ist jemand gesund, der sich mit einem makellosen Gesundheitscheck ständig müde und ausgepowert fühlt?

Wir sollten darüber nachdenken, was Gesundsein im Einzelnen heißt, und klar definieren, dass ein Mensch mit Schmerzen nicht automatisch krank sein muss. Die Diagnose „Schmerzkrankheit“ möchte ich hier hinterfragen.

Gießen Sie jetzt weiter, aber lassen Sie noch ein paar Tropfen drin! Hier ist der Grundsatz Nummer sechs:

Entlassen Sie alle hinkenden Gesundheitsdefinitionen aus Ihrem Wertegerüst. Auch wenn Sie in Ihrer Patientenakte als „chronisch schmerzkrank“ gelten, muss das keine Krankheit sein.

7. Individualität

Wenn ich eins im Laufe meiner Praxisjahre im Zusammentreffen mit Schmerzklienten gelernt habe, dann ist es, dass Schmerz eine absolut individuelle Sache ist. Das ist sie sogar dann, wenn Beschwerden in ein und derselben Körperregion lokalisiert sind. Ich habe mir extra für das Schreiben dieses Buches noch einmal meine Klientendateien der letzten Jahre durchgesehen und versucht, Parallelen zu ziehen, aber es ist mir nicht gelungen. Wenn sich eine Sekretärin mit ihrer Chefin über Schulter-Nacken-Schmerzen unterhält, ein Notar mit einem Möbelpacker über Lumbalbeschwerden fachsimpelt oder ein Student mit einer Friseurin über Spannungskopfschmerzen spricht, wird sich das mit hoher Wahrscheinlichkeit auf sehr unterschiedliche Sachverhalte beziehen.

Besonders klar wird mir das, wenn ich mir die konkreten Beschreibungen ansehe, mit denen Klienten ihr Empfinden zum Ausdruck bringen. Während einige von ihnen sagen, dass ihre Schmerzen stechen, bohren, schneiden, pulsieren, sägen, hämmern und brennen, werden sie von anderen als klirrend, ziehend, wund, spitz, dröhnend, dumpf, messerstich-, kolik- oder nesselartig erlebt. Sie können hell oder dunkel sein, sich sprunghaft, schubhaft, wellenförmig und impulsiv benehmen, sie können aufflammen, ausstrahlen, aufheulen, sich einschleichen oder explodieren. Oftmals enthalten sie emotionale Bewertungen, indem sie lauern, drohen, quälen, zermürben, zermartern, einen beherrschen, nerven oder geißeln oder indem sie schlichtweg nur die Hölle sind. Weil das so ist, lösen Schmerzen auch individuelle Reaktionen aus: Sie veranlassen jemanden, den Atem anzuhalten, aufzugeben, fast durchzudrehen, in die Knie zu gehen, verzweifelt oder am Ende aller Kräfte zu sein.

Es ist Augen öffnend, wie unterschiedlich Schmerzerfahrene ihre Beschwerden erleben. Ich übertreibe nicht, wenn ich behaupte, dass Schmerzerleben ein niemals gleiches, sondern höchst differenziertes Empfinden ist. Deshalb: Vergleichen Sie Ihren Schmerz niemals mit dem anderer, selbst dann nicht, wenn er gleich lokalisiert sein sollte, zur selben Zeit aufkommt oder sich in ähnlichen Schüben zeigt. Schmerzerleben ist immer individuell. Es braucht deshalb auch einen maßgeschneiderten Lösungsansatz und dieser entwickelt sich besonders gut vor dem Hintergrund von Meditation.

 

Gießen Sie nun den Rest des Glases leer. Grundsatz sieben lautet:

Denselben Schmerz als solchen gibt es nicht. Ihr Schmerz ist einzigartig, unvergleichbar und individuell. Meditationspraxis holt Sie genau dort ab, wo Sie sind.

Das „Meditationsglas” leergießen

Missverständnisse klären

Nachdem Sie das „Schmerzglas” geleert haben und vielleicht an einigen konservierten Auffassungen rund um die Schmerzintervention rütteln mussten, pirschen wir uns an das zweite an, das „Meditationsglas”. Aufgrund meiner Erfahrung ist mir bewusst, dass dieser Schritt schmerzgewohnten Menschen noch mehr Elastizität abverlangen kann, als sich von den klassischen Prinzipien der konventionellen Schmerztherapie zu lösen. Wenn ich nämlich in Gesprächen mit schmerzerfahrenen Klienten das Wort „Meditation” verwende, passiert es gar nicht so selten, dass mein Gegenüber stiller, oftmals distanzierter oder steifer wird.

„Oje …“, dachte Olaf, ein Klient mit jahrelanger Migräne, als ich ihm eine erste Meditationstechnik vorstellte, „ich habe mich wohl in der Tür geirrt.“ Das gestand er mir allerdings erst später, nachdem er bereits zum Fan der Bewegungsmeditationen geworden war. Oder Helena: Sie verdrehte die Augen. „Fürs Meditieren habe ich keine Zeit”, sagte sie fast gekränkt. „Ich habe zwei Kinder, ein großes Haus, eine Firma, Rückenschmerzen und immer etwas zu tun. Ausgeschlossen!“ Mit dem Meditieren habe sie nun wirklich nichts am Hut. Als ich ihr jedoch die erste meditative Technik als „Beobachtungssequenz” vorstellte, war sie von dieser sofort begeistert.

Deshalb bezeichne ich die Meditationsübungen, die ich in meine praktische Arbeit einfließen lasse, nicht immer sofort als Meditationsmethoden, sondern zunächst erst einmal als Bewusstheits-, Beobachtungs- oder Achtsamkeitsübungen. Als Meditation „oute” ich sie erst dann, wenn sich der Klient von bestehenden Vorurteilen verabschiedet hat.

In Meditationsworkshops habe ich Ähnliches beobachtet: Auch hier kommen Vorurteile und Missverständnisse vonseiten der Teilnehmer ans Tageslicht. Mitunter geschieht es sogar, dass ich einen großen Teil der Kurszeit damit verbringe, vorgefertigtes Wissen darüber, wie Meditation zu sein hat, erfahrungsbezogen zu entkräften. Erst dann tauchen wir tiefer in die Innenwelt ein.

Reaktionen wie diese wurzeln häufig darin, dass der Begriff „Meditation” noch immer mit Unsicherheit und Skepsis verbunden ist. Aus diesem Grund geht es nun beim Ausgießen des „Meditationsglases” möglicherweise noch viel mehr darum, leer zu werden, als es bei den ersten sieben Güssen der Fall gewesen ist. Fangen wir an!

8. Meditieren gegen …?

Es ist essenziell wichtig zu verstehen, dass Meditation niemals gegen etwas gerichtet werden kann, das Sie weghaben, vernichten, vermeiden oder loshaben wollen, weil es Sie stört, behindert, zermartert, schwächt, schmerzt, belastet, nervt oder hemmt.

Moment mal, werden Sie sagen, das Thema „Gegen …” als Ausdruck des Kampfgedankens haben wir doch schon ausgegossen, gerade eben, beim „Schmerzglas”. Ja, das stimmt. Doch jetzt können Sie es noch einmal tun, weil die Abkehr sowohl vom „Feindbild Schmerz” als auch vom „Meditieren gegen …” in der Praxis der Innenschau eine fast noch wesentlichere Rolle spielt.

Während der Kampf gegen den Schmerz generell eine unbrauchbare Strategie darstellt, ist das Kämpfen für Schmerzfreiheit auf dem Meditationskissen derjenige Faktor, der eine positive Meditationserfahrung sprichwörtlich sabotiert. Wenn Sie an eine Meditationstechnik mit derselben Haltung herangehen wie an das Einnehmen einer Pille, die gegen ein Symptom wirkt, oder an eine sedierende Injektion, die Sie förmlich „niederspritzt“, werden Sie hundertprozentig enttäuscht sein. Sie können nicht gegen den Schmerz und genauso wenig für das Verschwinden von Schmerz meditieren. Das ist unmöglich. Wenn Sie es versuchten, wären Sie von der Wirkung enttäuscht.

Bevor wir uns das etwas genauer ansehen, gießen Sie jetzt die Strategie vom „Meditieren gegen …“ aus. Kommen Sie mit mir zum Grundsatz Nummer acht:

Wenn Sie der Schmerzlösung halber meditieren, heißt das nicht, gegen den Schmerz zu meditieren. Sie meditieren, damit Sie Ihre innere Balance, Ihre „Mitte” wiederfinden, und das hat positive Auswirkungen auf Ihr Gehirn, wo Schmerzverarbeitung geschieht.

9. Die Abkehr vom Ziel

Jetzt wird es kniffelig: Auch wenn Sie kein Feindbild und kein „Gegen …” in sich tragen, bleibt zumeist eine Zielformulierung übrig. Diese ist oft in der positiven Formulierung versteckt: Sie meditieren für Schmerzfreiheit, für das Abklingen von Beschwerden oder unangenehmen Emotionen, für mehr Entspannung, für weniger Angst und für ein Arbeitsleben ohne Stress. In den Gedanken schmerzgeplagter Meditierer kreisen ständig Sätze wie: „Wenn ich jeden Tag fleißig meditiere, werde ich hoffentlich in zwei, drei, vier Wochen … jedenfalls bald schmerzfrei, besser, positiver, problemfreier oder, oder, oder … sein“.

Formulieren wir es einmal so: Ein solches Ansinnen liegt nahe, doch es ändert nichts an der Tatsache, dass Sie sich nicht mit einer konkreten Zielorientierung im Kopf auf den Meditationsschemel hocken können. Das klappt deshalb nicht, weil das menschliche Nervensystem nicht auf diese Weise funktioniert. Selbst durch intelligenteste meditative Impulse können wir bei ihm nicht in Auftrag geben, was wir uns im Einzelnen wünschen. Das Nervensystem hat keinen Reizaufnehmer für Botschaften wie: „Ich möchte vom Schmerz zu Schmerzfreiheit gelangen, vom Frust zum Glück, vom Problem zu Problemlosigkeit, von Panik zur Gelassenheit.“ Sie können getrost über dreißig Jahre Meditationsübungen mit einem solchen Zielgedanken praktizieren und dennoch muss sich der angestrebte Zustand nicht einstellen.

Im Gegenteil. Eine konkrete Zielformulierung verhindert eher, dass sich ein positives Selbstempfinden bahnen kann. Das ist so, weil Sie mit einer Zielvorgabe einen leisen inneren Druck erzeugen, der zu einer subtilen Muskelspannung führt. Diese muss vom Gehirn organisiert werden, sodass es aktiv bleibt und sich schon gar nicht gleichzeitig um das Bahnen gegenteiliger, also angenehmerer Empfindungen kümmern kann. Außerdem engt eine Zielvorgabe den Fokus ein und führt dazu, dass Sie unerwartete Effekte des Meditierens als irrelevant einstufen, weil sie nicht innerhalb Ihres abgesteckten Erwartungsrahmens liegen.

Um hier realistisch zu sein: Jeder Mensch hat eine gewisse Intention, eine Absicht, warum er sich zur Innenschau entschließt. Das sind tatsächlich in den meisten Fällen Herausforderungen oder massivere Probleme im Leben, die ihn ans Limit führen und einen Handlungsbedarf kreieren. Meditation ist dann einer der letzten Grashalme, nach denen Menschen unter Handlungsdruck greifen. Ich schätze, dass etwa neunzig Prozent meiner Klienten ursprünglich aus diesen Beweggründen auf dem Meditationskissen gelandet sind. Und Hand aufs Herz: Aufgrund Ihres Wunsches nach Veränderung haben Sie sich ja auch dieses Buch gekauft oder es von jemandem geschenkt bekommen. Das ist gut und richtig und vollkommen normal.

Lassen Sie uns hier einen gemeinsamen Ausgangspunkt finden: Natürlich dürfen Sie Ihre Intention, schmerzfrei zu werden, weiterverfolgen und als Absicht formulieren. Das ist überhaupt kein Problem. Sobald Sie sich dann aber den praktischen Übungen widmen, versuchen Sie einmal, diese Intention etwas beiseitezulassen. Nehmen Sie eine offene, empfängliche Grundhaltung ein und bleiben Sie wach für alles, was geschieht. So lange Sie das große „Bild” von Meditation noch nicht kennen und noch kein Gefühl dafür haben, was sich intern zum Positiven hin verändern kann, sollten Sie jegliche auftretende Veränderung willkommen heißen, selbst dann, wenn sie mit einer Schmerzlinderung erst einmal gar nicht im offensichtlichen Zusammenhang steht. Dazu gebe ich Ihnen später noch genaue Anhaltspunkte.

Gießen Sie jetzt einen nächsten Schwapp des Wassers aus und machen Sie sich bewusst, dass Ihr Schmerz den Rückzug nicht auf Grundlage eines direkten Ursache-Wirkungs-Effekts antreten wird. Kommen wir zu Grundsatz Nummer neun:

Beim Meditieren führt eine direkte Zielorientierung nicht zum Erfolg. Nehmen Sie eine offene innere Haltung ein, die neue Erfahrungen einlädt und innere Veränderung begrüßt.

10. Meditieren heißt nicht sitzen

An dieser Stelle möchte ich Ihnen einen sehr wichtigen, weil grundlegenden Fakt zum Verständnis von Meditation vermitteln. Wenn Sie einen Laien fragen, was er unter Meditation im Allgemeinen versteht, wird er Ihnen mit großer Wahrscheinlichkeit ungefähr drei Dinge sagen und sich dabei auf das Bild einer Buddhafigur beziehen. Er wird sagen, dass man in einer aufrechten Haltung still zu sitzen und dabei die Beine überkreuzt zu halten hat. Mit geschlossenen Augen begebe man sich so zur Ruhe und fühle sich danach als gelassener Mensch.

Auch wenn ich hier etwas übertrieben habe, ist das in etwa das Bild, mit dem viele Menschen das Meditieren assoziieren. Und ja, es ist kein Wunder. Diese Vorstellung ist nicht nur den vielen Buddhastatuen geschuldet, die wir beim Aldi, im Möbelmarkt und in jedem Asia-Shop kaufen können, sondern auch den geläufigen Meditationsanleitungen auf YouTube, Google, Facebook und den übrigen Social-Media-Kanälen, die tatsächlich das stille Sitzen als Maßgabe nehmen.

Zunächst einmal eines: Meditationspraxis hat nicht unbedingt etwas mit stillem Sitzen zu tun. Wie Sie später sehen werden, ist die Welt der Bewusstheits- und Meditationstechniken eine sehr farbige, die immer bunter wird, je mehr Anerkennung Meditation als etwas Natürliches und Gesundes genießt. Innerhalb des 30-Tage-Programms werde ich Sie sogar mit Methoden vertraut machen, die Sie inmitten Ihres Alltags anwenden können, während Sie arbeiten, essen, Musik hören, feiern, am Computer sitzen, kochen oder ruhen. Darüber hinaus gibt es bewegungsbezogene Methoden, die gar kein Sitzen erfordern. Schmerzgewohnte Klienten atmen bei dieser Botschaft auf, denn die meisten von ihnen haben sich vor ihrem geistigen Auge schon unruhig auf dem Meditationskissen herumrutschen und auf die Uhr schielen gesehen.

Um dieses Vorgehen zu verinnerlichen, möchte ich Ihnen hier eine Unterscheidung erklären: Wenn ich in diesem Buch von Meditation schreibe, ist das vom Begriff her eigentlich nicht ganz korrekt. Es gibt Meditationstechniken, die Sie praktizieren, üben und ausführen können. Wie bereits erwähnt, ist die bekannteste davon das meditative Beobachten der inneren Vorgänge, was im stillen Sitzen passieren kann. Das ist das eine. Und dann gibt es noch den inneren „Zustand von Meditation”, der durch das Praktizieren von Meditationsübungen eingeladen wird. Dieser Zustand bezieht sich auf eine Erfahrung des inneren Stillseins, das mit einem Nicht-Involviertsein in innere Prozesse verbunden ist. Gedanken mögen weiter ihre Runden drehen, Emotionen können auch weiterhin vorhanden sein, doch Sie als Meditierende sind nicht in deren Inhalte involviert. Und das ist wichtig: Genau dieses Geschehen, das „Erfahren von Meditation”, ist dafür verantwortlich, dass sich die vielen positiven Effekte auf unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden entrollen. Es ist nicht das Praktizieren der Meditationsübung als solche, das zählt, sondern das Erfahren des meditativen Nicht-Involviertseins, das für Veränderungen in unserem Organismus sorgt.

Zurück zum Sitzen: Wenn Sie sich meditierend hinsetzen möchten und es Ihnen anstrengungslos gelingt, Ihr Nervensystem auf diese Weise zu beruhigen, steht dem nichts entgegen. Nur seien Sie hier unglaublich wach! Es gibt viele Fallstricke, in denen Sie sich dabei verfangen können. Sie wären nicht der erste Meditierer, dem das passiert.

Und noch ein anderer Faktor kommt hier ins Spiel: Gerade weil das meditative Sitzen in vielen Köpfen so stark manifestiert ist, es aber vielen Menschen große körperliche Herausforderungen bereitet, gelassen im Lotossitz zu ruhen, kommt der Ehrgeiz ins Spiel. Mit dem Ehrgeiz poliert sich unser Ego und mit dem Ego verschafft sich der Leistungsgedanke auf dem Meditationskissen seinen Platz. Deshalb ist auch die Vorstellung verbreitet, dass diejenigen die erfahrensten Meditierer sind, die am längsten regungslos in einer Position verharren können oder in Retreats zu den Durchhaltern zählen. Wer den Körper mit seiner Quengelei am diszipliniertesten übergehen und geißeln kann, findet Beachtung. Wer sich härtesten Aufgaben unterzieht, wird als Meditationsexperte oder Meister verehrt.

 

Lassen Sie mich hier sehr deutlich sagen: Beim Meditieren hat der Leistungsgedanke keinen Platz. Es gibt keine Nominierung zum Meditations-Oscar, weder zum „Wie-lange-kann-ich-in-der-Lotosposition-sitzen-Award” noch zu „Wetten, dass …?“. Der „Zustand von Meditation” ist es, der für Veränderung in der Impulsverarbeitung sorgt, und dieser muss Ihnen genauso wenig sitzend geschehen, wie er an zeitliche Maßgaben oder an körperliche Parameter gebunden ist. Wodurch er erreicht wird, welche Technik ihn einladen oder hervorrufen kann, ist eigentlich gar nicht die Priorität. Für Sie ist wichtig herauszufinden, wie er Ihnen geschieht. Es reicht vollkommen aus, wenn Sie bei sich ankommen und sich in sich hinein entspannen, sodass überflüssige innere Angespanntheit von Ihnen abbröckeln kann.

Leeren Sie nun Ihr Glas weiter und verinnerlichen Sie den Grundsatz Nummer zehn:

Während das klassische Sitzen nur eine von vielen Meditationstechniken ist, spielt die entscheidende Rolle, dass sich der „Zustand von Meditation“ in Sie einschleichen kann. Dieser ist es, der die Vorgänge der Schmerzverarbeitung moduliert.

11. Hang zum Materialismus

Und weiter geht‘s. Sobald Sie sich der Bewusstheits- und Meditationspraxis nähern, empfehle ich Ihnen, dass Sie sich von einem möglichen Hang zum Materialismus lösen, der ausschließlich anerkennt, was Sie sehen, hören, anfassen, messen, nachweisen oder in Zahlenreihen kleiden können. Sehen? Anfassen? Hören? Da hat Meditation schlechte Karten. Ihre Wirkung ist genauso wenig materiell, wie es Schmerz ist. Wenn Sie ihn, den Schmerz, packen und aus dem Fenster werfen könnten – wie schön!

Auch wenn die Hirnmessungen der Meditationsforscher durch bildgebende Untersuchungsmethoden mit präzisen Aufzeichnungen auf dem Screen beeindrucken und dadurch die Wirkung von Meditationspraxis auf das menschliche Gehirn beweisen, wird unsere Innenwelt niemals vollständig nachvollziehbar sein. Selbst die bahnbrechendsten Ergebnisse werden nicht durch reinste lineare Logik erzielt. Es ist immer ein Faktor des Verborgenen, des Unzugänglichen und Unbenannten enthalten. Wäre das nicht so, würden sich Forscher gar nicht dazu animiert fühlen, weiterzusuchen und noch tiefer in die Furchen des Gehirns hineinzusehen.

Eines darf ich Ihnen bereits vorab sagen: Sobald Sie Ihren Blick nach innen richten und Gefallen daran finden, werden Sie die Anerkennung des „Immateriellen“, des nicht Festzumachenden irgendwann viel natürlicher finden als das materiell ausgerichtete Vorgehen. Das ist so, weil uns die inneren Ungewissheiten den Weg zum Reifen weisen. Sie halten uns in Bewegung und schubsen unsere Selbstentwicklung an. Wenn Sie mich fragen, ist dieser Prozess das einzige, was uns Menschen wirklich befriedigt und unserem Leben einen innewohnenden Sinn geben kann.

Aber genau das, das Unerklärbare auf uns zukommen zu lassen und letztlich als Lebensfaktor anzuerkennen, kann eine schwere Hürde für Menschen mit Langzeitschmerz sein: Warum sollten sie sich auf etwas einlassen, für das es nicht einmal ansatzweise eine materielle Garantieerklärung gibt?

Nehmen Sie das Meditationsglas zur Hand und gießen Sie weiter. Der meditative Grundsatz Nummer elf lautet:

Verabschieden Sie sich vom puren Materialismus. Vertrauen Sie Ihrem Eigenempfinden und Ihrem Instinkt! Indem Sie Ihre Innenwelt entdecken, wird Ihr Leben noch lebenswerter und reichhaltiger.

12. Der Glaube an …

Das Thema des Immaterialismus bringt uns unweigerlich zum nächsten Fakt. Wenn es also keine materiellen oder gesicherten Anhaltspunkte für diesen „Zustand Meditation“ in unserem Inneren gibt, woran halten wir uns dann fest? Woran orientieren wir uns? Müssen wir daran glauben, damit die „Erfahrung Meditation” von uns Besitz ergreifen kann?

Ich habe einige Menschen getroffen, die mich als Erstes danach fragten, ob sie an eine bestimmte Meditationswirkung glauben müssten, damit sie ihnen passiert. Nein. Das müssen Sie nicht. Meditation hat mit dem Glauben an einen bestimmten Effekt nichts zu tun. Im Gegenzug mag das allerdings geschehen: Wenn Sie von vornherein wissen, dass Ihnen die Meditationspraxis nicht weiterhelfen wird und Sie sich folglich mit Misstrauen und Skepsis ans Praktizieren machen, dann können Sie tatsächlich erwarten, dass Ihnen die Erfahrung von Meditation vorenthalten bleibt. Doch anders herum funktioniert es nicht. Sie müssen nicht an Meditation glauben, damit sie wirkt.

Das bringt mich noch zu einem weiteren Punkt, bei dem das „Glauben an …” eine Rolle spielt. „Ist es empfehlenswert, sich mit dem hinduistischen Glauben zu befassen, wenn ich Yogameditationen richtig praktizieren will?“, fragte mich Robert, ein junger Klient. „Muss ich an Buddhas Sichtweisen glauben, dass es hilft?“, wollte Tim wissen, als ich ihm eine Technik mit einem buddhistischen Hintergrund vorschlug. Beide Fragen habe ich verneint. Auch wenn zahlreiche Meditationstechniken aus Systemen mit einem religiösen Hintergrund stammen, heißt das nicht automatisch, dass dieser als Voraussetzung für die Praxis gilt. Sie werden dabei weder zu einer gläubigen oder religiösen Person, noch müssen Sie sich mit den Glaubensinhalten befassen.

Tatsächlich habe ich gelesen, dass Menschen tiefere Meditationserlebnisse haben sollen, wenn sie an etwas Bestimmtes glauben, das mit der Technik in Verbindung steht. Aber diese Untersuchungen stammen zumeist von Meditationsunternehmen, die „Glauben“ produzieren wollen. Ich selbst kann das nicht unterstützen. Während jeder Mensch seinen Blick nach innen richten kann, stehen Glaubenssätze und Überzeugungen einer echten Meditationserfahrung eher im Weg, als dass sie unterstützend wirken. Das wurzelt in der Tatsache, dass der Glaube an etwas einem Menschen von vornherein ein inneres Empfindungsgerüst, ein abgestecktes Wahrnehmungsfenster vorgibt. Dadurch können bestimmte innere Impulse den Filter der Wahrnehmung gar nicht erst passieren, sodass ein Teil möglicher Erfahrungen, unerwartete Erkenntnisse oder neue sensible Qualitäten ausgeschlossen werden. Außerdem bleibt beim „aktiven Glauben an …“ der sogenannte „Mind“ aktiv, der ja beim Meditieren Ruhe geben und in den Hintergrund treten soll.

Sie müssen also an nichts glauben, weder an Buddha, den Hinduismus, an Esoterik, Spiritualität, Weltflucht und nicht einmal an dieses Buch. Sie müssen sich weder mit Gott, Shiva oder Shakti befassen noch ein Fan von Räucherstäbchen, Om-Tönen, Mantras, Mudras oder Yogahaltungen sein. „Erfahren statt glauben“ ist meine Devise, ob gegenüber einer Lehre oder einem Lehrer, einer Theorie oder einer Religion. Am besten ist es, wenn Sie Ihre Sensoren von jeglichen Bewertungen „blankputzen“ und eine neutrale innere Haltung einnehmen. Das wäre aus meiner Sicht der ideale Beginn.

Schauen wir auf den meditativen Grundsatz Nummer zwölf:

Verabschieden Sie sich davon, dass Sie an Meditation glauben müssen. Wenn Sie offen für neue Erfahrungen in Ihrem Innern sind, reicht das für das Wahrnehmen neuer Impulse vollkommen aus.

13. Angst vor Kontrollverlust

Ich erinnere mich gut daran, als Hebammen die ersten Akupunkturnadeln setzten, um Geburtsschmerzen zu lindern, als Zahnärzte in ihren Praxen Hypnose zur Angstlinderung vorstellten oder Homöopathen damit begannen, Erkrankungen mit kleinen weißen Kügelchen zu behandeln. Es war, als erschütterten gleich mehrere Erdbeben das Hoheitsgebiet der Medizin. Und so war es auch mit der Legitimierung von Meditation.