Die Behandlung Schwerbehinderter im kirchlichen Arbeitsrecht der katholischen Kirche

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II.SGB IX als Arbeitsschutzrecht

Das Neunte Sozialgesetzbuch (SGB IX) stellt insgesamt eine Verknüpfung arbeits- und sozialrechtlicher Regelungen dar.104 Erstere sind hauptsächlich in den Paragraphen 68ff. SGB IX geregelt. Es ist Teil des staatlichen, sozialen Arbeitsschutzrechts.105 Mit Hilfe dieses Gesetzes soll den besonderen Bedürfnissen behinderter und von Behinderung bedrohter Menschen Rechnung getragen werden, indem ihre Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft gefördert wird. Gleichzeitig soll Benachteiligungen entgegengewirkt werden.106 Im Folgenden wird auf die Entstehungsgeschichte des Gesetzes eingegangen sowie auf seine verfassungsrechtliche Verankerung.

1.Entstehung des SGB IX

Erst am 01.07.2001 ist das neunte Buch des Sozialgesetzbuches mit dem Titel „Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen“ in Kraft getreten. Es kann aufgrund der langen Entstehungsgeschichte des Schwerbehindertenrechts insgesamt als das Ergebnis einer fast drei Jahrzehnte währenden Diskussion über das „Ob“ und „Wie“ eines einheitlichen Rehabilitationsrechts für behinderte Menschen angesehen werden.107

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde mehr und mehr die Idee eines Staates geboren, der die Widersprüche zwischen formaler Gleichheit und tatsächlicher Unterlegenheit – sei es aufgrund körperlicher Benachteiligungen oder aufgrund wirtschaftlicher Abhängigkeit108 – versucht auszugleichen und so die Gesellschaft in ihrem Wirtschaftsleben nicht komplett sich selbst überlässt. Es wurde also die Idee eines Sozialstaates geboren, der zum Schutz Einzelner in die Gesellschaft ordnend eingreift.109 Kriegsgeschädigte, deren Anzahl mit dem technischen Fortschritt der Waffen immer mehr stieg, erlitten meist ein ähnliches Schicksal wie Personen, die Opfer von Betriebsunfällen geworden waren: Der Geschädigte erhielt zwar Schadensersatz im Rahmen des geltenden Haftpflichtrechts, letztlich konnte seine Versorgung dadurch aber nicht langfristig sichergestellt werden, so dass er meist auf die Armenpflege angewiesen war.110 Oberstes Ziel im Umgang mit Kriegsgeschädigten war es also, sie schnellstmöglich wieder erwerbsfähig zu machen und in das Wirtschaftsleben zurückzuführen.111 Ebenso wie die Weimarer Kirchenartikel wurde darum auch das Gesetz über die Beschäftigung Schwerbeschädigter vom 06.04.1920 bereits zu Zeiten der Weimarer Republik erlassen. Es sah eine Pflichtquote der Beschäftigung von Schwerbeschädigten für alle Arbeitgeber vor und legte zudem einen besonderen Kündigungsschutz fest.112 Nach dem Zweiten Weltkrieg und einer daraus resultierenden hohen Anzahl Schwerbeschädigter wurde das soziale Arbeitsschutzrecht dann weiter ausgebaut. 1950 wurde das Gesetz über die Versorgung der Kriegsopfer (Bundesversorgungsgesetz) erlassen und 1953 das Gesetz zur Beschäftigung Schwerbeschädigter neu gefasst. Ein entscheidender Schritt zur Förderung der Rehabilitation wurde schließlich im Jahr 1974 getan mit dem Erlass des Schwerbehindertengesetzes und des Gesetzes über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation (RehaAnglG). Letzteres hatte schon damals die Angleichung der medizinischen und der berufsfördernden Leistungen zur Rehabilitation zum Ziel, weil deren Verteilung aufgrund der komplexen Gesetzeslage und der unterschiedlichen Behandlung der behinderten Menschen in den verschiedenen Versicherungszweigen als ungerecht empfunden wurde.113 Allerdings blieb der gewünschte Effekt aus bzw. wurde nur teilweise erreicht. Wegen der Unübersichtlichkeit des gesamten Rehabilitationssystems kam es nicht zu der für einen reibungslosen Ablauf notwendigen Zusammenarbeit der einzelnen Rehabilitationsträger und das System blieb für die Betroffenen weiterhin intransparent.114

Erst 1994 konnte mit der Einführung des Benachteiligungsverbots gegenüber behinderten Menschen nach Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG der Grundstein für einen Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik gelegt werden, in der es fortan nicht mehr hauptsächlich um Fürsorge und lebenslange Versorgung ging, sondern deren zentrales Ziel die Gleichstellung und Selbstbestimmung behinderter Menschen war.115 1998 legten die Regierungsparteien SPD und Bündnis 90/Die Grünen ein Eckpunktepapier vor, nach dem das Teilhaberecht als neuntes Buch in das Sozialgesetzbuch eingegliedert werden sollte. Nach eingehender sozialpolitischer Diskussion wurde schließlich am 16.01.2001 ein Referentenentwurf in den Bundestag eingebracht. Verbände und Organisationen der behinderten Menschen wurden bei der Schaffung des SGB IX bereits von Anfang an mit einbezogen und nicht erst ab Bestehen eines Gesetzesentwurfs, damit sie ihre Erfahrungen und ihr Fachwissen von Beginn an einbringen und die Regelungen maßgeblich mitgestalten konnten.116 Das heutige SGB IX haben der Bundestag letztendlich am 06.04.2001 und der Bundesrat am 11.05.2001 beschlossen. Nach Auffassung des Deutschen Bundestages sollte Mittelpunkt dieses neuen Gesetzes nicht mehr die Fürsorge und die Versorgung von behinderten Menschen sein, sondern ihre selbstbestimmte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und die Beseitigung der Hindernisse, die ihrer Chancengleichheit entgegenstehen.117 Es ist somit Aufgabe des sozialen Staates, die Rahmenbedingungen für die Teilhabe behinderter Menschen als Gleichberechtigte am gesellschaftlichen Leben zu schaffen und Gefährdungen dieser Teilhabe durch Übergriffe Dritter abzuwehren.118 Auch die Erweiterung der Beteiligungsrechte der Schwerbehindertenvertretung bereits zum 01.10.2000 war ein Schritt in Richtung selbstbestimmte Teilhabe der Betroffenen, da sie von der Schwerbehindertenvertretung in ihrem Interesse gegenüber dem Arbeitgeber unterstützt werden.119 Praktisches Ziel des neuen Gesetzes sollte es außerdem sein, das Rehabilitationsrecht in einem Buch des Sozialgesetzbuches zu vereinheitlichen und zusammenzufassen, um die Unübersichtlichkeit des alten Rechts zu beenden und Betroffenen damit die Verwirklichung ihrer Rechte zu erleichtern.120

2.Verfassungsrechtliche Verankerung

Das Rehabilitationsrecht insgesamt wird maßgeblich von nationalem Verfassungsrecht geprägt. Eine besondere Bedeutung nimmt hierbei das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes nach Art. 20 Abs. 1 und Art. 28 Abs. 1 GG ein. Die Stellung schwerbehinderter Menschen – nicht nur im Verhältnis Staat und Bürger – wird außerdem durch Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG geprägt.

a.Sozialstaatsgebot nach Art. 20 Abs. 1 und Art. 28 Abs. 1 GG

Wie bereits erwähnt ist es Aufgabe des Sozialstaates, die gleichberechtigte Teilhabe Schwerbehinderter am Leben in der Gesellschaft zu fördern und einer Benachteiligung entgegenzuwirken. Die verfassungsrechtliche Grundlage dazu liegt im Sozialstaatsgebot. Dieses Gebot ist ein Prinzip staatlicher Verantwortung für die ganze Gesellschaft im Gegensatz zu einem nur punktuell oder nicht intervenierendem Staat.121 Es gebietet dem Staat für Einzelne oder Gruppen der Gesellschaft, Vorsorge und Fürsorge zu leisten, wenn sie aufgrund persönlicher Lebensumstände oder gesellschaftlicher Benachteiligung, insbesondere wegen körperlicher oder geistiger Gebrechen, in ihrer Selbstbestimmung behindert sind.122 Als Mittel zu Erreichung dieser Ziele dient die Rechtsgestaltung. Durch Förderung, Lenkung und Zwang wahrt der soziale Rechtsstaat letztlich seine Verantwortung im Ganzen.123 Im Ergebnis soll im sozialen Rechtsstaat eine soziale Gerechtigkeit für alle Bürger geschaffen werden124, die es vor allem auch im Bereich des Arbeitslebens zu erreichen gilt. Gerade dort muss der soziale Rechtsstaat regulierend in die Privatrechtsgestaltung eingreifen, weil eine Integration allein mit staatlichen Einrichtungen und Mitteln des öffentlichen Rechts im Arbeitsleben nicht möglich ist.125 Bei der Erfüllung des Sozialstaatsprinzips geht es zum einen um die materielle Verteilungsgerechtigkeit, aber zum anderen auch um die Gestaltung einer Ordnung an und in der jeder teilnehmen kann.126 Zentrum ist dabei das Bestreben des Staates, allen Menschen die Möglichkeit der tatsächlichen Wahrnehmung ihrer Freiheitsgrundrechte zu ermöglichen.127 Formal stehen die Freiheitsgrundrechte zwar jedem Menschen zu, die tatsächliche Wahrnehmungsmöglichkeit kann allerdings infolge einer Behinderung stark eingeschränkt sein, wie etwa bei Art. 12 Abs. 1 GG, dem Freiheitsgrundrecht, das gewährleistet, dass jeder seinen Beruf sowie seine Ausbildungs- und Arbeitsstätte frei wählen und den gewählten Beruf ausüben kann. Ein behinderter Mensch kann beispielsweise seinen gewünschten Beruf nicht ausüben, wenn sein Arbeitsplatz nicht leidensgerecht gestaltet wird. Dieser Grundzusammenhang zwischen dem Sozialstaatsgebot und der Realisierung von Freiheitsgrundrechten ist für die Auslegung des SGB IX, das das Sozialstaatsgebot mit der Gewährung sozialer Rechte konkretisiert, von großer Bedeutung.128 Es ist also Aufgabe des sozialen Rechtsstaates, die tatsächlichen Möglichkeiten der Grundrechtswahrnehmung den formalen anzugleichen. Die arbeits- und sozialrechtlichen Regelungen des SGB IX greifen zu diesem Zweck zwar in das Arbeitsverhältnis gestaltend ein, im Ergebnis müssen aber die Interessen und Freiheitsgrundrechte des Arbeitgebers genauso wie die des Arbeitnehmers möglichst weitgehend verwirklicht werden.129

b.Benachteiligungsverbot nach Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG

Bei der möglichst weitreichenden Gewährung der Freiheitsgrundrechte hat der Gesetzgeber allerdings gleichzeitig zu beachten, dass er auch dem Gleichheitsgrundrecht verpflichtet ist und damit Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandeln muss. Allerdings ist für das Merkmal der Behinderung von der Verfassung nur die benachteiligende, nicht aber die bevorzugende Ungleichbehandlung ausgeschlossen, so dass eine kompensatorische Bevorzugung von behinderten Menschen grundgesetzlich unbedenklich ist.130 Ein individuelles Abwehrrecht gegen Benachteiligungen Behinderter besteht nach ganz überwiegender Auffassung in dem Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG, das im Jahr 1994131 ergänzt wurde. Es veranschaulicht die staatliche Aufgabe des besonderen Schutzes von behinderten Menschen.132 Im Rahmen dieses Förderungsauftrags kann der Gesetzgeber auch Normen schaffen, die eine Gleichbehandlung behinderter Menschen im Privatrechtsverkehr verlangen, um so die Möglichkeit gleicher Chancenwahrnehmung zu gewährleisten.133 Adressat des Gleichheits-grundsatzes bleibt dabei der Staat, der ihn aber im Rahmen seiner sozialen Gestaltungsaufgabe durchsetzen kann.134 So hat das Prinzip der sozialen Gleichheit behinderter Menschen auch im Zivilrecht mittelbare Drittwirkung.135 Zwar ist das privatrechtliche Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer grundsätzlich von der Privatautonomie geprägt - greift der Gesetzgeber hier aber nicht korrigierend und gestaltend ein, so bleibt eine Vielzahl von Menschen vom Wirtschafts- und Arbeitsleben ausgeschlossen.136 Der Sozialstaat übernimmt diesbezüglich eine Verantwortung, damit Menschen aus gesundheitlichen Gründen gerade nicht an der Teilhabe ihrer Rechte gehindert sind.137 Da sich im Privatrechtsverkehr typischerweise zwei Grundrechtsträger gegenüberstehen, findet der Behindertenschutz in den gegenläufigen Grundrechten anderer Privatrechtssubjekte eine Schranke.138 Dabei ist es auch die Aufgabe des Gesetzgebers, möglichen Konflikten gerecht zu werden, die entstehen können, wenn die Vertragsfreiheit des Arbeitgebers auf der einen Seite mit dem Beschäftigungsanspruch des behinderten Arbeitnehmers auf der anderen Seite konkurriert. Ziel muss es dabei sein, die Freiheitsrechte aller im Wege der praktischen Konkordanz möglichst weitreichend zu gewährleisten.139

 

Der zweite Teil des SGB IX, der vornehmlich arbeitsrechtlich geprägt ist, überführt mit den dortigen Regelungen das in Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG verankerte Benachteiligungsverbot in das privatrechtliche Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer.140 Es ist längst unumstritten, dass sozialrechtliche Regelungen, die eine gleiche Teilhabe aller am Arbeitsleben durch öffentlich-rechtliche Maßnahmen durchsetzen wollen, mit der Privatautonomie in Einklang stehen.141 Schließlich sind Eingriffe des Sozialstaats in privatrechtliche Rechtsverhältnisse bereits seit langem üblich, wie beispielsweise im Mietrecht. Seit dem Ersten Weltkrieg besteht dort für Mieter ein weitgehender Kündigungsschutz, um die tatsächlich ungleichen Machtverhältnisse der formal gleichen Rechtssubjekte im Privatrecht auszugleichen.142

C.Öffentlich-rechtliches Arbeitsschutzrecht als Schranke des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts

Insgesamt sichert die Verfassungsgarantie des Selbstbestimmungsrechts die Freiheit der Religionsgemeinschaften innerhalb der gesellschaftlichen Ordnung.143 Teil dieser gesellschaftlichen Ordnung ist das staatliche Arbeitsrecht und das Arbeitsschutzrecht, das die Sicherheit und den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer im Arbeitsverhältnis nach Maßgabe des staatlichen Gesetzgebers gesetzlich festlegt. Es ist nun zu prüfen, ob und wie die Kirche als Arbeitgeber an diesen Normen der gesellschaftlichen Ordnung teilhat.

In der in Art. 137 Abs. 3 WRV verankerten Gewährleistung des Staates, die Kirche dürfe ihre eigenen Angelegenheiten selbständig regeln, steckt im Kern die Zusage des staatlichen Gesetzgebers, dass er die Regelungszuständigkeit der Gesetzgeber der Religionsgemeinschaften für diese Bereiche anerkennt. Diese Anerkennung der Eigenständigkeit bedeutet im Umkehrschluss die Einsicht, dass der staatliche Gesetzgeber selbst in diesem Zusammenhang auf die Regelung weltlicher Bereiche beschränkt ist.144 Wie bereits erwähnt gehört das kirchliche Dienst- und Arbeitsverhältnis zu den eigenen Angelegenheiten der Religionsgemeinschaften i.S.v. Art. 137 Abs. 3 WRV, so dass sie dieses wegen ihres garantierten Selbstbestimmungsrechts innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes ordnen und verwalten können.145 Gem. Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 5 WRV ist den Religionsgesellschaften zudem der Status als Körperschaft des öffentlichen Rechts garantiert, der es ihnen ermöglicht, ihre Dienstverhältnisse nach öffentlichrechtlichen Grundsätzen zu ordnen, ohne dabei den Normen des staatlichen Arbeitsrechts zu unterliegen.146 Es steht ihnen jedoch auch frei, sich der jedermann offenstehenden Privatautonomie zu bedienen, um ihre Dienstverhältnisse zu begründen und zu regeln, was bei dem überwiegenden Teil der kirchlichen Mitarbeiter auch so erfolgt. Die Kirchen bedienen sich der Gestaltungsformen des staatlichen Arbeitsrechts. Ausgenommen sind davon grundsätzlich Geistliche, da diese nicht kraft eines Arbeitsvertrages, sondern entsprechend ihrem Amt bei der Kirche beschäftigt sind, nachdem sie durch die Priesterweihe ihre Funktion erlangt haben.147 Auf sie findet das staatliche Arbeitsrecht keine Anwendung. Ob in den anderen Fällen das staatliche Arbeitsrecht insgesamt und damit auch die Arbeitsschutzvorschriften als Teilbereich des Arbeitsrechts im kirchlichen Bereich Geltung erlangen, wie weit eine mögliche Schranke des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts greift und was im Bereich der betrieblichen Mitbestimmung gilt, wird im folgenden Abschnitt ausführlich erörtert.

I.Geltung des staatlichen Arbeitsrechts im kirchlichen Bereich

Das Verhältnis von Staat und Kirche bzw. der staatlichen Vorschriften und dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht wurde vor allem durch die Rechtsprechung des BVerfG geprägt. Das Staatskirchenrecht insgesamt wurde seit der Geltung des Grundgesetzes nicht mehr nur von der Literatur und der Staatspraxis federführend ausgeformt und mit Leben gefüllt, sondern das BVerfG übernahm hierbei mehr und mehr eine Führungsrolle.148 Auch bei der Interpretation des Schrankenvorbehalts des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts im Bereich des Arbeitsrechts, wenn sich die Kirchen der Gestaltungsform des staatlichen Privatsrechts zur Begründung ihrer Dienstverhältnisse bedienen, spielt seine Rechtsprechung eine tragende Rolle. Im Folgenden werden die unterschiedlichen Auffassungen der Literatur sowie die geschichtliche Entwicklung in der Rechtsprechung zur Geltung des staatlichen Arbeitsrechts im kirchlichen Bereich veranschaulicht.

1.Entwicklung in Literatur und Rechtsprechung

Zum Thema Schrankenvorbehalt und staatliches Arbeitsrecht wurden in der Literatur zunächst zwei völlig verschiedene Auffassungen vertreten. Die eine Ansicht ging von einem Vorrang des kirchlichen Rechts im Bereich des Arbeitsrechts aus und damit von einem eigenen Kirchenrecht. Die andere Auffassung dagegen hielt alle arbeitsrechtlichen Vorschriften auch im kirchlichen Bereich für verbindlich und sah damit einen Vorrang des staatlichen Rechts.149 Das BVerfG hat mit grundlegenden Beschlüssen den Meinungsstand mehr und mehr fortentwickelt.

Kalisch150, ein Vertreter der ersten Ansicht, hat bereits 1952 die Schaffung eines eigenständigen kirchlichen Dienstrechts gefordert. Gerechtfertigt hat er dieses Erfordernis mit dem Leitbild der Dienstgemeinschaft, die alle Beschäftigten im kirchlichen Bereich umfasst und vom Wesen und Auftrag der Kirche beherrscht wird.151 Mit dem Leitbild einer Dienstgemeinschaft soll ausgedrückt werden, dass der Auftrag Jesu, ihm im Dienst der Versöhnung zu folgen, sich nicht nur auf den Dienst jedes Einzelnen beschränkt, sondern auch ein Zusammenstehen vieler in der Gemeinschaft des Dienstes gefordert wird.152 Diese Gemeinschaft erfordere die Gestaltung eines eigenständigen Dienstrechts für einen Bereich, „der in der hier erfolgenden Weise weder vom öffentlichen Dienstrecht noch vom allgemeinen Arbeitsrecht geregelt werden kann, weil der Auftrag der Kirche seinem Ursprung und Inhalt nach einzigartigist. Das kirchliche Dienstrecht ist weder Arbeitsrecht noch öffentliches Recht, sondern Kirchenrecht’.153 Eine Prüfung, ob sich dieses kirchliche Arbeitsrecht innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes i.S.v. Art. 137 Abs. 3 WRV hält, erübrige sich deshalb. Mayer-Maly154 hat diesen Ansatz weitergeführt, indem er dem staatlichen Arbeitsrecht nur subsidiäre Geltung zuspricht. Für den Fall, dass eine Religionsgesellschaft von ihrem Selbstbestimmungsrecht Gebrauch gemacht und eine eigene Regelung für ihre Beschäftigten im kirchlichen Dienst geschaffen hat, so seien grundsätzlich auch nur diese Normen anzuwenden. Nur wenn die Kirche von ihrem Selbstbestimmungsrecht keinen Gebrauch gemacht hat und keine eigenen Normen geschaffen hat, kann auf die staatliche Ordnung zurückgegriffen werden, sofern sich die entsprechende Anwendung mit der Eigenart des kirchlichen Dienstes verträgt.155 Allein bei elementaren Grundsätzen der staatlichen Arbeitsverfassung und damit Normen von grundsätzlichem Charakter könne das staatliche Arbeitsrecht dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht eine Schranke ziehen.156

Ebenso ging Geiger157 davon aus, dass der Staat mit der Formulierung in Art. 137 Abs. 3 WRV die kirchliche Kompetenz zur Ordnung und Verwaltung ihrer Angelegenheiten anerkennt und damit auch davon ausgeht, dass die Kirche von dieser Kompetenz Gebrauch macht. Da die Kirche den Raum, der ihr zur Regelung ihrer Angelegenheiten offensteht, in vielen Bereichen nicht genutzt hat und sich damit aus ihrem „ursprünglichen Regelungsbereich“ zurückgezogen hat, sind in diesem dann „Anleihen bei der staatlichen Ordnung“ aufzunehmen und damit das staatliche Recht anzuwenden, wie etwa im Bereich des Arbeitsvertragsrechts.158 Wenn die Kirchen also kircheneigene Gesetze über Dienstgemeinschaft und Dienstordnung für die bei ihnen Beschäftigten erlassen und eigene Gerichte bilden würden, dann müssten auch keine staatlichen Arbeitsgerichte über Streitigkeiten aus dem kirchlichen Dienst entscheiden.159 Dabei übersieht Geiger jedoch, dass bei einer Inanspruchnahme der Privatautonomie und damit einer privatrechtlichen Begründung eines Arbeitsverhältnisses gerade kein ursprünglicher Regelungsbereich der Kirche vorhanden ist, sondern die Kirchen auf die Formen des staatlichen Rechts zurückgreifen.160 Insgesamt bleibt bei dieser These vom Vorrang des kirchlichen Rechts ungeklärt, wie der Konflikt zu lösen ist, wenn elementare Grundsätze des staatlichen Arbeitsrechts durch die eigenständige Gestaltung des Dienstes nach dem kirchlichen Selbstverständnis berührt werden.161

Nachdem sich seit dem Beschluss vom 17.02.1965162 als „Startschuss“ das BVerfG verstärkt in die Ausformung und Entwicklung des deutschen Staatskirchenrechts einbrachte, wurde die Diskussion um die Anwendbarkeit der staatlichen Normen im Bereich des Arbeitsrechts Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre parallel zu den ergangenen grundlegenden Entscheidungen des BVerfG163 lauter.164 Neumann führt hierzu erklärend aus, dass die Frage des Schrankenvorbehalts im Arbeitsrecht erst dann aufgetaucht sei, weil nun eigenständige kirchliche Regelungen getroffen würden.165 Damals wurde die sogenannte Heckel’sche Formel, nach der nur ganz besonders bedeutende Gesetze die Kirchenautonomie begrenzen können, überwiegend aufgegeben und durch das neue Verständnis des Bundesverfassungsgerichts ersetzt.166 Danach können zu den ’für alle geltenden Gesetze[n] nur solche Gesetze rechnen, die für die Kirche dieselbe Bedeutung haben wie für Jedermann167. Trifft das Gesetz die Kirche nicht wie den Jedermann, sondern in ihrer Besonderheit als Kirche härter, also beschränkt die Norm ihr Selbstverständnis, so ist sie keine Schranke i.S.v. Art. 137 Abs. 3 WRV.168

Verfechter der Ansicht, dass dem staatlichen Arbeitsrecht ein strikter Vorrang einzuräumen ist - die den Großteil der Stimmen im Schrifttum darstellte169 - schwächen wegen dieser Rechtsprechung des BVerfG ihre früheren Thesen teilweise ab und relativieren die Anwendbarkeit im kirchlichen Bereich. Frank beispielsweise geht zwar nach wie vor von einer zwingenden Geltung des sozialen Kündigungsschutzes, des Jugend-, Mutter- und Schwerbehindertenschutzes auch im kirchlichen Bereich aus, stellt aber ansonsten nicht mehr auf eine uneingeschränkte Geltung des staatlichen Arbeitsrechts ab, sondern setzt auf Relativierung und Differenzierung angesichts der Schrankenrechtsprechung.170 Nur sehr vereinzelt geht man dennoch soweit, einen strikten Kompetenzverlust der Kirchen zur Regelung eines eigenständigen Dienstrechts aufgrund der Tatsache anzunehmen, dass die Kirchen sich der staatlichen Privatautonomie bedienen. Nell-Breuning sieht es beispielsweise als inkonsequent an, wenn sich die Kirchen einerseits „des Arbeitsvertrags [zu] bedienen und sich damit dem individuellen Arbeitsrecht als dem für alle geltenden Gesetz [zu] unterwerfen, andererseits aber alles, was in den Bereich des kollektiven Arbeitsrechts einschlägt, als spezifisch, kirchlich‘ und in diesem Sinn, eigene‘ Angelegenheiten an[zu]sehen und dafür mit Berufung auf Art. 137Abs. 3 WRV i.V.m. Art. 140 GG Freistellungen von der allgemein geltenden Regelung [zu] beanspruchen.“171 Birk sieht die rechtliche Bindung kirchlicher Mitarbeiter durch einen Arbeitsvertrag ebenso nicht als eigene Angelegenheit im Sinne des kirchlichen Selbstverständnisses an172, wohingegen das BVerfG in seiner späteren Entscheidung vom 25.03.1980 allerdings ausdrücklich klarstellt, dass eine Bedienung staatlichen Rechts im Rahmen von Organisations- und Ordnungsformen nicht die Zugehörigkeit zu den eigenen Angelegenheiten der Kirche aufhebt.173

 

Mit seiner Entscheidung vom 25.03.1980174 und der Anwendung eines Abwägungsmodells zur Bestimmung des Schrankenvorbehalts erreicht das BVerfG eine differenziertere Interpretation des Art. 137 Abs. 3 WRV, wie sie teilweise in der Literatur bereits herangezogen wurde.175 Weiss geht beispielsweise bereits vor der Entscheidung des BVerfG von der Notwendigkeit einer Abwägung hinsichtlich der Geltung des staatlichen Arbeitsrechts aus und möchte dabei die kirchliche und staatliche Ordnung so weit wie möglich zur Übereinstimmung bringen, „ohne einerseits die Kirchenautonomie auszuhöhlen und ohne andererseits die durch staatliches Arbeitsrecht den Arbeitnehmern eingeräumten Garantien preiszugeben“.176 Diese Entwicklung ist im Vergleich zum früheren Vorgehen nach der Bereichsscheidungslehre als methodischer und sachlicher Fortschritt zu begrüßen.177 Zudem stellt das Gericht klar, dass „die Einbeziehung der kirchlichen Arbeitsverhältnisse in das staatliche Arbeitsrecht [hebt indessen] deren Zugehörigkeit zu den eigenen Angelegenheiten der Kirche nichts“ aufhebt.178

2.Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 04.06.1985

Weder die These vom Vorrang des kirchlichen Rechts noch die These vom strikten Vorrang des staatlichen Rechts erfasst die Ausprägungen des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts also umfassend, wenn die Kirche sich bei dem Abschluss eines Arbeitsverhältnisses der Privatautonomie bedient.179 Die These vom Vorrang des kirchlichen Rechts allein übersieht, dass bei einer Inanspruchnahme der Privatautonomie und damit einer privatrechtlichen Begründung eines Arbeitsverhältnisses, kein „ursprünglicher Regelungsbereich“ der Kirche betroffen und die staatliche Rechtsordnung als Ergänzung vorauszusetzen ist.180 Der strikte Vorrang des staatlichen Arbeitsrechts wiederum vernachlässigt, dass das Staatskirchenrecht des Grundgesetzes die Eigenständigkeit der kirchlichen Ordnung gerade anerkennt. Was genau zu ihren eigenen Angelegenheiten gehört, wird deshalb nach ihrem Selbstverständnis bestimmt, weil der Staat dafür keine Maßstäbe kennt und somit „insoweit farbenblind“ ist.181

Das BVerfG hat in seinem richtungsweisendem Beschluss vom 04.06.1985 dann eine Art Mittelweg eingeschlagen und klargestellt, dass das staatliche Arbeitsrecht als „schlichte Folge einer Rechtswahl182 auch im kirchlichen Bereich Anwendung findet, wenn sich die Religionsgemeinschaften im individualrechtlichen Bereich der jedermann offen stehenden Privatautonomie bedienen, auch wenn die Regelung der Arbeitsverhältnisse zu den „eigenen Angelegenheiten“ der Kirche zählt. Grundlage für die Geltung des staatlichen Arbeitsrechts ist dann konkret der zwischen den Parteien geschlossene Arbeitsvertrag.183 Allerdings ist diese Geltung des staatlichen Arbeitsrechts nicht insgesamt zwingend, denn das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften darf trotz der grundsätzlichen Geltung des staatlichen Arbeitsrechts nicht ausgehebelt werden und steht somit in einigen Bereichen einer vollständigen Anwendbarkeit des staatlichen Arbeitsrechts entgegen.184

3.Kirchliche Dienstgemeinschaft und Offenhalten eines eigenen Weges

Den Kirchen ist also auch im Bereich des Arbeitsrechts - auch wenn dort grundsätzlich staatliche Arbeitsrechtsvorschriften für sie gelten – ein eigener Weg offenzuhalten zur Gestaltung des kirchlichen Dienstes und seiner arbeitsrechtlichen Ordnung in der von ihrem Selbstverständnis gebotenen Form.185 Man spricht dabei auch von einer arbeitsrechtlichen Regelungsautonomie.186 Denn die Kirchenautonomie sichert grundsätzlich die Freiheit der Kirchen innerhalb der staatlichen Ordnung.187

Kirchlicher Beweggrund, im Arbeitsrecht zum Teil eigenständige Wege zu gehen, und Grundlage dieses modifizierten, „kirchlichen Arbeitsrechts“ ist insgesamt das Leitbild der Dienstgemeinschaft, das die Arbeitsrechtsbeziehungen in der Kirche prägt.188 Sie bezeichnet das Gemeinschaftsverhältnis zwischen der Leitung und der Mitarbeiterschaft einer kirchlichen Einrichtung.189 Mit dem Leitbild einer Dienstgemeinschaft soll ausgedrückt werden, dass der Auftrag Jesu, ihm im Dienst der Versöhnung zu folgen, sich nicht nur auf den Dienst jedes Einzelnen beschränkt, sondern auch ein Zusammenstehen vieler in der Gemeinschaft des Dienstes gefordert wird.190 Nach dem Selbstverständnis der Kirche umfasst dieser Dienst die Verkündigung des Evangeliums, den Gottesdienst und den aus dem Glauben erwachsenden Dienst am Mitmenschen.191 Zur Erfüllung dieses Auftrags ist jeder berufen, der im Dienst der Kirche steht, da es in der Dienstgemeinschaft keinen „auftragsfreien Raum“ gibt. Aus ihrem Leitbild ergibt sich, dass auch eine Konfliktaustragung im Rahmen des Dienstverhältnisses respektvoll und fair erfolgen muss.192 Die Kirche unterscheidet sich damit in diesem Punkt von allen anderen Einrichtungen und Betrieben, denn nirgends sonst wird das eigene Tätigsein jedes Einzelnen auch mit einem übergeordneten Werk verbunden, an dem alle mitarbeiten als Gemeinschaft. Sie hebt sich dadurch unter allen anderen Betrieben heraus.193 Die Kirche soll ihren Auftrag in der Nachfolge Christi so auslegen und leben dürfen, wie sie ihn versteht. Sie ist dabei lediglich an die „Schranken der für alle geltenden Gesetze“ gebunden, die sich in den Grundprinzipien der Rechtsordnung, dem Willkürverbot, den guten Sitten, dem „ordre public“ sowie den Arbeitsschutzgesetzen gebunden.194 Denn die Ordnung des Wirkens der Kirche ist als Ordnung innerhalb – nicht jenseits – des gesamten Gemeinwesens zu verstehen.195

Wie das Bundesverfassungsgericht eigens ausgeführt hat, darf die Einbeziehung kirchlicher Arbeitsverhältnisse in das staatliche Recht die verfassungsrechtlich geschützte Eigenart des kirchlichen Dienstes, das kirchliche Proprium, nicht in Frage stellen.196 Damit beendete das BVerfG eine Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, die bei der Kündigung von Mitarbeitern im kirchlichen Dienst nur abgestufte Loyalitätspflichten anerkennen wollte – abhängig von der Nähe der Tätigkeit des Betroffenen zu den kirchlichen Aufgaben –, weil „auch die Entscheidung darüber, ob und wie innerhalb der im kirchlichen Dienst tätigen Mitarbeiter eine,Abstufung‘ der Loyalitätspflichten eingreifen soll, ist grundsätzlich eine dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht unterliegende Angelegenheit.“197 Es können sich also aufgrund des verfassungsrechtlichen Schutzes der Religionsgemeinschaften bei Arbeitsverhältnissen mit Beteiligung von Kirchen bzw. kirchlichen Einrichtungen vom staatlichen Arbeitsrecht abweichende Regelungen ergeben, wenn ansonsten die spezifisch religiöse Eigenart im Bereich des arbeitsrechtlich organisierten Dienstes bedroht wäre.198 Es ist dem kirchlichen Arbeitgeber also gestattet, „die verfassungsrechtlich geschützte Eigenart des kirchlichen Dienstes“ nach seinem Verständnis auszugestalten und „in den Schranken des für alle geltenden Gesetzes den kirchlichen Dienst nach [seinem] Selbstverständnis zu regeln und die spezifischen Obliegenheiten kirchlicher Arbeitnehmer zu umschreiben und verbindlich zu machen“.199