Buch lesen: «Nur einmal»
Kathleen Collins
Nur einmal
Storys
Aus dem amerikanischen Englisch von Brigitte Jakobeit und Volker Oldenburg
Kampa
Es ist einfach, Schlechtes zu tun,
Einfach, sich selbst zu schaden,
Gutes zu tun, etwas Gutes für sich selbst,
Dagegen ist sehr schwierig.
Kathleen Collins
Außen
»Okay, die Wohnung ist im fünften Stock, kein Fahrstuhl, drei Zimmer vorne, Badewanne in der Küche, Kakerlaken an den Wänden, das Klo ein Kabuff mit Buntglasfenster. Licht? Kein Problem, Licht gibt’s ohne Ende! Es ist das größte Haus in der Straße, ringsum nur Dächer und Sonne. Okay, leuchten wir die Nacht ein. Ich will einen Spot auf dem großen Doppelbett, das fast den ganzen Raum einnimmt. Und einen kleinen auf dem mit Jute bespannten Nachttisch. Okay, jetzt ein Licht auf den Schreibtisch mit den vielen Notizbüchern, Papieren und dem ganzen Kram. Gut so. Dann ein Spot auf das Sofa, das eigentlich nur aus ein paar Kissen besteht. Gut. Und jetzt ein schöner weicher Tupfer auf den jungen Mann, der am Schreibtisch seine Gedichte verfasst oder liest. Und noch einer auf die junge Frau, die am Herd steht und Kakerlaken erschlägt. Okay, jetzt Licht von hinten auf die beiden, wenn sie in dem großen Doppelbett unter der blauweißen Decke liegen. Sieht gut aus.
Während die beiden schlafen, legen wir einen Spot auf das Foto, das die junge Frau lächelnd auf dem Hausdach zeigt, und einen auf das Foto, auf dem der junge Mann Pfeife rauchend im schwarzen Schaukelstuhl sitzt. Und beim dritten Foto, wo er sie im Park (um die Ecke) umarmt, bitte beide gut ausleuchten. Gut. Jetzt von hinten auf die junge Frau, wenn sie den Emaildeckel von der Badewanne hebt, und ein sanftes Licht auf ihn, wenn er sie auszieht, dann ein schöner weicher Akzent auf die beiden nackt in der Tür. Sieht gut aus. Jetzt dimmen. Er nörgelt an ihr herum, will sie ärgern. Nein, stärker dimmen. Sie wirkt zu ängstlich und traurig. So lassen. Er wirkt ziemlich unruhig und wütend. Mehr dimmen. Sie will es ihm nur recht machen. Kann so bleiben. Sie steht am Fenster und wartet. Nein, Unsinn, vergiss es, er kommt ja erst am Morgen zurück. Okay, jetzt ein schönes sanftes Licht, während sie schweigend daliegen. Nein, vergiss es, das wirkt zu ruhig, zu drückend. Jetzt ein Frostfilter, wenn er am Abend zurückkommt, und gedimmt lassen, während sie auf dem Bett sitzen. Und wie wär’s mit etwas blauer Folie, wenn er ihr sagt, dass es vorbei ist? Gut. Jetzt ein bisschen weicher, wenn sie mit den Tränen ringt. Gut so. Jetzt mehr Licht auf ihn, während er sie kühl mustert, dann mehr Licht auf sie, wenn sie ihn bittet zu bleiben. Schön. Jetzt beide dimmen, und gedimmt lassen, wenn er sie ansieht, stumm ansieht, dann ihn ausblenden. Sie bleibt im Halbdunkel zurück und sucht die Gefühle, die früher den Raum erhellten.«
Innen
(Mann)
»… mein Leben ist eine lange Improvisation. Ich kenne nicht viele Musiker, die ein so vielseitiges Repertoire haben … wie ein Dichter mit dem siebten Sinn für die Zeichen der Zeit habe ich meinen Token für die Subway gezahlt und mich auf den Weg gemacht. Launisch war ich schon immer. Als Kind habe ich mich oft im Schrank versteckt … ich hatte keine Lust auf die kleinen Scheißer. Ich war nie ein angenehmer Zeitgenosse … zu launisch … eine echte Plage, die wie eine Fliege dreist durchs Leben spaziert, abgestoßen von der freudlosen Angepasstheit der Erwachsenen. Weil du mich wie einen Gott verehrst, hast du von Anfang an meine Launen geschluckt und sie dir als bedeutsame Kapriolen der Seele schöngeredet, dabei habe ich immer nur gemacht, was ich wollte. Ich bin launisch, verdammt, und rastlos, und im Leben gibt es schon genug Tage ohne Musik. Ich kann mich nicht dafür entschuldigen, dass ich dich so wenig liebe. Nur Träumen wohnt die süße Logik inne, die ich anerkenne … Träumen und einer gewissen … Unbekümmertheit, die deinem Wesen vollkommen abgeht. Du warst schon immer ernst, gutmütig und aufrichtig. Ich dagegen war schon immer ein Scheißkerl, ein Arschloch, ein selbstverliebter Schwärmer, der jede Mitfahrgelegenheit nutzt. Ich liebe alles zu wenig, für mich zählt nur die Reise, die Räder müssen sich drehen. Ich bin ein Fahrgast im Zug des Lebens. Von allen Träumen, die ich mir erfüllt habe, war der vom Reichwerden vielleicht der … durchdringendste … nur so konnte ich herausfinden, wie alles zusammenpasst und wie man es kombiniert. Diese Erfahrung war fast eine körperliche Genugtuung, ein Ersatz für die magische Kraft, die ich früher aus meinem Schwanz bezog. Sie hat mir geholfen, das Leben konkret in die Hand zu nehmen und abzuwägen. Du riechst so gut, Baby. Als ich bei Ramona eingezogen bin, hattest du einen leichten Schlaganfall … zwei Finger kannst du bis heute nicht bewegen. Es war eine Laune, Baby, verstehst du das nicht? Eine Laune, bloß eine Idee. Ramona war so schlicht gestrickt, das hat mich fasziniert … aber du hast es dir zu Herzen genommen, für dich war es ein tödlicher Schlag. In meinen Träumen hat keine Frau je eine Rolle gespielt. Du hättest wissen müssen, dass deine Nachgiebigkeit einem schutzlosen Wesen wie dir nur schaden kann. Ich bin zu launisch. Mit mir wirst du nicht glücklich … mit mir war noch nie jemand glücklich, nicht eine der Frauen, auf die du dein Leben lang eifersüchtig warst. Du bist irgendwie komisch. Erinnerst du dich an die Überraschungsparty, die du zu meinem vierzigsten Geburtstag gegeben hast? Für mich die beste Party aller Zeiten. Du hast diesen Rumpunsch gemacht, der tagelang im Tiefkühlfach stand, und das Zeug war so stark, dass die Leute nicht nur betrunken waren, sie waren körperlos, und dann hat Sam kubanische Musik gespielt – erinnerst du dich? –, er hat diese Latin-Platten aufgelegt, wo jedes Stück eine Stunde dauert, und alle waren so high und im Beat, dass sie nicht mehr aufhören konnten zu tanzen. So was Verrücktes hatte ich noch nie erlebt … eine Orgie mit Körperlosen. Die Leute haben mich mit leuchtenden Augen angeguckt, als wären sie in einer Blase, und gesagt: ›Irre Party, Mann, verdammt irre Party.‹ Es war toll … an was ich mich so erinnere. Einmal war ich draußen auf Coney Island … mit Ramona … wir sind am Strand spazieren gegangen, und plötzlich hatte sie einen Abgang, einfach so. Das Baby ist aus ihr raus und auf den Sand gefallen. Sie meinte, so macht sie das immer, wenn sie schwanger ist. Wenn sie sich stark genug konzentriert, kann sie ihre Gebärmutter dazu zwingen, es auszustoßen. Sie war auch auf der Party … du hast sie nicht erkannt. Es war seltsam. Sie hat dich beobachtet, und du hattest keine Ahnung, wer sie war. Beim Tanzen mit ihr hatte ich manchmal das Gefühl, dass du irgendwie misstrauisch bist, als würdest du was spüren … aber dann hast du gelächelt … und mir einen Geburtstagskuss zugeworfen … du warst wunderschön an dem Abend. Ramona war eifersüchtig auf dich. Das hat mich irgendwie gefreut, ich hab mich wieder richtig in dich verliebt. Meine Gefühle für dich waren wie früher, als wir frisch zusammen waren. Unglaublich. Du warst wieder die Alte, und ich war wieder der Alte. Du bist in die Wohnung gekommen mit diesem Lächeln, diesem Strahlen, von dem mir immer ganz warm wurde, und plötzlich war ich wieder so verliebt in dich, dass ich heulen musste. Alles war so verdammt real, ich roch sogar den süßen Duft, den du im Schlaf an dir hattest; ich bin immer ganz dicht an dich rangekrochen, nur um dich zu riechen, das hat mich so friedlich und glücklich gemacht. Das Gefühl war so real, ich konnte es fast greifen … und dann war es plötzlich weg, ich war wieder auf meiner Geburtstagsparty und habe mit Ramona getanzt … und gesehen, wie du mir einen Geburtstagskuss zuwirfst. Du hast dich mit so wenig begnügt. Manchmal glaube ich fast, wenn ich tot bin, steigt das Glück aus deiner Seele empor und rächt sich brutal. Ich entschuldige mich nicht dafür, dass ich dich so wenig liebe … im Leben gibt es schon genug Tage ohne Musik. Da bin ich doch lieber ein launischer Mistkerl. Oder fällt dir was Besseres ein? Mir nicht. Ehemann spielen? Vater werden? Statt ein launischer Mistkerl zu sein? Träum weiter … Ich brauche Raum zum Improvisieren, Baby, die Möglichkeit zum Improvisieren … im Leben gibt es schon genug Tage ohne Musik.«
(Frau)
»… als mich mein Mann zum ersten Mal verließ, mietete ich eine kleine Blockhütte im Wald, um mich in der Einsamkeit zu erholen. Ich nahm nur einen Koffer mit, ein Foto von mir, auf dem ich ruhig und schwermütig aussah, ein paar Zeichnungen zum Aufhängen und meine Geige. Ich hatte vor, jeden Tag im Fluss hinter der Hütte schwimmen zu gehen, lange Spaziergänge im Wald zu machen und Geige zu üben. Eigentlich wollte ich den ganzen Sommer bleiben, am Ende waren es nur drei Tage. In diesen drei Tagen ging ich morgens schwimmen, spielte bis mittags Geige, aß etwas und ging anschließend im Wald spazieren. Danach war ich ziemlich verschwitzt und setzte in der Hütte Wasser für eine Katzenwäsche auf, dann kochte ich mir Tee. Am dritten Tag, als ich nach meinem Spaziergang wieder Wasser aufsetzen wollte, fing der Petroleumkocher Feuer. Ich rückte den Flammen mit einer Decke zu Leibe, aber sie hatten schon den halben Raum erfasst. Eine ganze Weile stand ich da und überlegte, was ich tun könnte. Dann wurde mir schlagartig bewusst, dass ich keine Sekunde verlieren darf, wenn ich lebend davonkommen will. Ich sprang splitternackt durch das Fliegengitter. Ein paar Farmer kamen vorbei und staunten über den Anblick von so viel brauner Haut vor dem Hintergrund wütender Flammen. Das Feuer verbrannte meine Haare, meine Kleider, meine Geige. Die Natur erledigt ihre Arbeit gründlich, das muss man ihr lassen. Ich fuhr wieder nach Hause, kaufte einen großen Blumenkasten für das Küchenfenster und fing an, Kräuter zu ziehen. Der Sommer war sehr heiß und einsam. Ich nahm einen Job als Illustratorin für Kinderbücher an und kümmerte mich um meine Kräuter, grub mit bloßen Händen in der Erde und widmete mich den Pflänzchen mit der Hingabe einer angehenden Kräuterheilerin, die mit wirren Haaren ihre Einsamkeit in Schweiß und Schmutz versenkt, und beschriftete sie mit ›Thymian‹, ›Rosmarin‹ und ›Salbei‹. Das Basilikum wuchs zum Fenster eines Nachbarn hinunter, der Rosmarin wählte die andere Richtung und wucherte in die Küche. Der Sommer wurde noch heißer und einsamer. Ich fing an, abends zwischen sechs und acht über die Brooklyn Bridge zu gehen, und schliff die Kanten meiner Traurigkeit im leuchtenden Sonnenuntergang, ließ sie mit dem Rauschen des Verkehrs, das unter mir wie Brandung auf- und abschwoll, und dem fahlen Glanz der New Yorker Skyline verschmelzen. Dann kam eine Zeit, in der nichts mich trösten konnte. Weder das kleine Kräuterwunder in meiner Küche noch das ausgiebige Duschen vor und nach den Ausflügen zur Brooklyn Bridge verschafften mir Erleichterung. Wenn ich wach war, lastete die Zeit wie Blei zwischen meinen Beinen, und Linderung war nicht in Sicht. Ich fing an, Memoiren zu lesen. Es gehörte zu den schöneren Momenten, als ich begriff, dass kein Mensch den Qualen der Einsamkeit entkommt. Den Claudes und Johns und Marthas und Henrys aus früheren Zeiten ist es zu verdanken, dass ich die Beschwernisse des Lebens, weitergegeben von Vater zu Sohn, zum ersten Mal wirklich verstand. Über Wochen lag ich von 17.30 Uhr am Freitagabend bis 8.30 Uhr am Montagmorgen erschlagen im Bett und versank in Trauer. Ich erkannte, dass auch andere schon maßlos einsam und verloren gewesen waren, und dank ihrer Ironie, ihres Scharfsinns und ihrer altmodischen Moral gelang es mir manchmal, mein Leid auf eine spirituelle Ebene zu heben. Der Sommer wurde noch heißer und noch einsamer. Eine Freundin bekam ein Baby, und dieses quirlige Wesen führte mir meine eigene Verlorenheit vor Augen und löste den schlimmsten Schmerz aus, den ich bisher erlebt hatte. Mir war, als trocknete ich langsam aus, als schrumpften kalte Wellen meine Brüste, als ächzten und stöhnten alle meine Glieder. Nachts im Schlaf sah ich, wie du dich vor einer bunt gemischten Gruppe von Verkäuferinnen, Kellnerinnen, Go-go-Girls und Diakonissen entblößt. Du hast einer anderen den Bauch gefüllt. Der Sommer war fast vorbei. Ich ging in den nächsten Laden für Künstlerbedarf und kaufte einen Bogen Malkarton, zwanzig mal dreißig Zentimeter; bei einem Trödler erstand ich einen Stapel alter Zeitschriften. Ich wollte eine große Collage anfertigen und gegenüber von meinem Bett aufhängen. Das heillose Durcheinander schuf die Illusion von Wärme, von reger, lauschiger, lebensfroher Einsamkeit. Ich schnippelte und klebte, schnippelte und klebte, und widmete mich meinem Meisterwerk mit der fieberhaften Hingabe einer Künstlerin. So gestärkt, kam ich eines Sonntagmorgens auf die Idee, mir zwischendurch einen kleinen Fick zu gönnen und zog munter durch den Botanischen Garten. Der Mann war groß und überaus freundlich hinter seiner dicken Brille, und sein Penis hatte die Größe einer Erbse. Ich nahm es als Zeichen, dass ein kleiner Fick zwischendurch nichts für mich ist. Es war Herbst. Du hast mich angerufen, ein R-Gespräch. Ich sagte, dass ich ein Kind von dir will. Du hast gelacht und versprochen, mich in einem Jahr wieder anzurufen. Der Sommer kehrte noch heißer und einsamer zurück. Ich lernte einen Jazz-Discjockey kennen und entschloss mich erneut zu einem kleinen Fick. Eines Abends kam er mit zu mir. Das Schnippeln und Kleben war ausgeufert und hatte meine ganze Wohnung – Sofa, Kamin, Teppich, Vorhänge, Badezimmerspiegel – in eine Collage verwandelt, schon beim Eintreten blieb Klebstoff an den Sohlen hängen. Der Jazz-Discjockey fand mich sehr besonders, aber vor lauter Verlegenheit fiel ihm nichts anderes ein, als stumpf in mich einzudringen und ohne das kleinste bisschen Lust zu kommen. Es wurde endgültig Herbst. Ich fing an zu nähen und produzierte eine erstaunliche Kollektion schlechtsitzender Hosen, Blusen, Samtkleider und Hausanzüge, eine fummelige Arbeit, in die ich meine Vorstellung von der Schönheit und den Freuden handwerklichen Könnens einfließen ließ. Der Winter kam. Ich fuhr mit der Subway nach Coney Island. Der kalte, einsame Strand und der menschenleere Vergnügungspark kamen in einem Gedicht mit dem Titel Der Winter unserer Liebe vor. Als ich um Mitternacht vor dem Kamin saß, bist du wieder erschienen und hast dich vor der Frau deiner Träume entblößt – sie war schöner, freundlicher und liebevoller als ich. Ich spielte mit dem Gedanken, mir eine neue Geige zu kaufen. Die letzte war bei lebendigem Leib verbrannt, im Wald, zu Beginn des Sommers …«
Der Onkel
Ich hatte einen Onkel, der sich in den Schlaf weinte. Ja, diese Geschichte ist wirklich wahr, und sie ging schlecht aus. Eines Nachts weinte er sich nämlich in den Tod. Er war noch keine vierzig. Ein ehemaliger Sportler von olympischem Format. Im Haus meines Vaters hängen noch die goldenen Trophäen, die er irgendwann bei den Olympischen Spielen in England gewann. Er war ein schöner Mann. Schwarz. Und Marlon Brando wie aus dem Gesicht geschnitten. In meiner Familie erzählt man sich, mein Onkel und Marlon Brando seien sich eines Tages in Philadelphia auf der Straße begegnet und verblüfft über die Ähnlichkeit stehen geblieben. Er war ziemlich hell, hellbraun, und hatte die grüblerische Brando-Miene, den finsteren Zug um Mund und Augen, den verdrossenen, ruhelosen Blick. Er war mein Lieblingsonkel. Diese Geschichte lässt sich kaum erzählen, ohne die Requisiten der Rasse einzusetzen. Ich habe gesagt, er war schwarz. Ein Held der Aschenbahn. Ein Marlon-Brando-Doppelgänger. Er hatte außerdem eine hinreißend schöne Frau, die aufgrund ihrer gemischten Herkunft unbeschreiblich hell, fast weiß war, mit schwarzem, seidigem Haar und feinen Zügen. Als Kinder vergötterten meine Schwester und ich die beiden. So einen tollen Onkel und so eine tolle Tante zu haben! Und auch sie mochten uns sehr. Wir verbrachten viele Sommer in dem kleinen Ort im Süden von New Jersey, in dem Haus, das früher meiner Großmutter gehört hatte und jetzt ihnen gehörte. Sie waren immer ziemlich pleite. Ich weiß noch, dass meine Schwester und ich einmal unser letztes Taschengeld hergaben, als der Elektriker den Strom kappen wollte. Aber für uns machte sie das umso hinreißender. Pleite zu sein und trotzdem so anziehend und schön, so faul und großherzig. Es war nämlich so: Mein Onkel konnte keine Rennen mehr bestreiten, weil er seit einiger Zeit unter schweren Asthmaanfällen litt. Er hatte sich angewöhnt, tagelang im Wohnzimmer auf dem Sofa zu liegen, ohne sich zu rühren. Und meine Tante arbeitete nie. Ich glaube mich zu erinnern, dass meine Schwester und ich manchmal wochenlang jeden Morgen zu ihnen ins Schlafzimmer gingen, wo wir dann stundenlang zusammen im Bett lagen und uns lachend Geschichten anhörten. Meine Tante sprach unheimlich gern über Sex. Ohne sie wüsste ich vielleicht bis heute nicht, welche Rolle Sex bei der Fortpflanzung spielt. Und mein Onkel liebte es, beim Imbiss um die Ecke riesige U-Boot-Sandwiches, heißen Kakao, Doughnuts mit Puderzucker und Eis zu bestellen, im Bett zu essen und zu erzählen. Wenn ich die gemütlichen Sommertage ohne den Filter der Verklärung betrachte, erkenne ich, dass er den Kampf mit dem Leben schon damals aufgegeben hatte und dass meine Tante eine faule, verwöhnte Frau war, die sich einbildete, ihre helle, fast weiße Haut würde sie retten. Ich verlor früh den Kontakt zu meiner Familie. Ging für mehrere Jahre ins Ausland, kam verheiratet zurück und gründete eine eigene Familie. Doch aus den Briefen meines Vater erfuhr ich vom schleichenden Verfall meines Onkels, von seinen sporadischen Jobs als Leichtathletiktrainer in verschiedenen Colleges und Freizeitzentren, den lähmenden Phasen der Depression, in denen er wochenlang im Bett blieb und Tag und Nacht weinte.
Ich sah ihn nur einmal in diesen Jahren: Im Sommer- haus meiner Eltern, wo ich nach der Geburt meines ersten Kindes ein paar Wochen verbrachte. Er kam zur Tür herein, als ich die Treppe hinunterging. Für mich sah er aus wie immer, nur das Grüblerische in der Brando-Miene trat stärker hervor. Der traurige, düstere Ausdruck hatte Falten auf seiner Stirn und unter den Augen hinterlassen, und seine Mundwinkel zeigten noch ein bisschen mehr nach unten.
Aber diese tiefe Traurigkeit faszinierte mich, vielleicht weil ich noch jung genug war, um Leid anziehend zu finden. Dann geschah etwas Sonderbares. Mitten in der Nacht weckte er mich auf, riss mich unter heftigem Schluchzen aus dem Schlaf und bat mich, nach unten zu kommen und mich mit ihm zu unterhalten.
Ich folgte seiner Bitte.
Wir blieben die ganze Nacht auf, und er weinte ununterbrochen, abgesehen von kurzen, klaren Momenten, in denen er leise über meine Tante sprach, dass sie sich als dumm und faul entpuppt habe, ihm keine richtige Hilfe sei; dass er es zu nichts gebracht habe, sich nie auf andere habe verlassen können. Und er konnte weinen! Er gab sich seinem Schluchzen hin, ließ sich von seiner Trauer überwältigen, als wäre das Leben eine riesige Tränenquelle, in die man nur eintauchen konnte, indem man weinte! Mein Vater, der durch uns wach geworden war, kam herunter, außer sich vor Wut, dass sein Bruder mir derart zusetzte.
Ich sah ihn nie wieder. Als der Anruf mit der Nachricht von seinem Tod kam, saß ich mit meinen Eltern beim Essen. Mein Vater war tief erschüttert. Das erste seiner sieben Geschwister war gestorben. Dabei war sein Bruder das jüngste Kind gewesen, der Kleine, von allen am meisten geliebt, gehätschelt und verwöhnt. Ich bot meinem Vater an, ihn zum Haus meines Onkels zu fahren. Unterwegs erzählte mein Vater von seinen letzten Lebensjahren, den Jahren, in denen er das Bett überhaupt nicht mehr verließ. Jede Nacht hielt er die anderen (denn irgendwie war es ihm gelungen, in dieser Zeit drei heute fast erwachsene Kinder zu zeugen) mit seinen Klagen wach, seinem lauten, herzzerreißenden Schluchzen, das sich unerbittlich hinzog, bis er am Morgen endlich eindöste, den ganzen Tag verschlief, um dann am Abend von Neuem seine Klage anzustimmen. Seine Kinder waren mit seinem Kummer aufgewachsen. Seine Geschwister kamen regelmäßig vorbei und versuchten, ihn mit aufmunternden Worten zurück ins Leben zu holen. Sie standen unten an der Treppe und baten ihn, doch wenigstens ins Wohnzimmer zu kommen, brachten schmackhafte Speisen mit und beknieten ihn, aufzustehen und mit ihnen zu essen, versprachen, ihm eine Stellung als Cheftrainer an einer renommierten Universität zu besorgen. Aber er blieb im Bett, hielt an seinem traurigen, verkehrten Leben fest, weinte in sein Kissen, bis der Tod ihn mit sich nahm.
Meine Tante kam an die Tür. Sie hatte sich ihre Schönheit über die Jahre bewahrt, nur nicht um die Augen – die stumpfen Augen einer Frau, die zu viel hat hinnehmen müssen. Alles war beinahe so wie in meiner Erinnerung. Das Sofa im Wohnzimmer, auf dem er mit seinen riesigen U-Boot-Sandwiches und zuckerbestäubten Doughnuts gelegen hatte. Das Esszimmer, in dem jetzt nur fast-weiße Frauen, ältere Ausgaben meiner Tante, Sherry schlürfend und flüsternd, beisammensaßen. Ich ging nach oben in sein Schlafzimmer. Das breite, altmodische Bett, in dem er gelebt hatte, beherrschte den Raum, thronte darin wie ein Denkmal für sein groteskes Streben nach Demütigung und Leid. Natürlich war das grotesk, sicher hatte das mit seiner Hautfarbe und ihren lausigen Möglichkeiten zu tun. Doch sein Weinen, sein Wehklagen und sein Zähneknirschen waren von einer überbordenden Kraft, und ich weinte um ihn, weinte vor Stolz und Freude darüber, dass er sein Leben so gründlich in Leid ertränkt und auf ein uraltes Ritual zurückgegriffen hatte, das über die offene Demütigung seiner Haut und ihre beschränkten Möglichkeiten hinausging; sich beharrlich weigerte, sein Leid zu überwinden wie eine Krankheit, wie einen Stolperstein, den man ihm in den Weg gelegt hatte, um seine Geduld auf die Probe zu stellen; sich beharrlich weigerte, dagegen anzukämpfen, sein Leben in die Hand zu nehmen und Verantwortung zu übernehmen. Nein. Er hatte seinem Leid alle Ehre erwiesen, sich ihm mit tief empfundenen, nie versiegenden Tränen so rückhaltlos ausgeliefert, dass er mir, während ich in seinem Zimmer stand, wie der tapferste Mensch erschien, den ich je gekannt hatte.