Buch lesen: «Sicher eingewöhnen»
Käthe Bleicher
Sicher eingewöhnen
Wie ein einfühlsamer Übergang
in die Krippe gelingt
Inhalt
Persönliches Vorwort
Einleitung
Bindung und Beziehung
Das Bindungsverhalten verstehen
Wie sich das Kind an seine Eltern bindet
Die Bindung der Eltern an das Kind beginnt schon während der Schwangerschaft
Bezugspersonen. Wie viel Mutter braucht das Kind?
Die Eingewöhnung
«Sicher eingewöhnen» – das Modell
Der äußere Rahmen
«Sicher eingewöhnen» – ein Leitfaden für die Eltern
Die Rolle der Erzieherin
Der erste Kontakt
Wer ist das Kind? Das Aufnahmegespräch
Der Hausbesuch
Der erste Tag
Welche Rolle übernehme ich während der Eingewöhnung?
Wie baue ich eine sichere und feinfühlige Bindung zum Kind auf?
Meine Beziehung zu den Eltern/zur Hauptbindungsperson
Meine Beziehung zum Kind
Die erste Trennung
Und wenn das Kind weint? Seine Reaktion auf die Trennung von der Hauptbezugsperson
Und wenn die Mutter oder der Vater nicht loslassen kann?
Das erste Wickeln
Die erste Mahlzeit
Die Gartenzeit
Der erste Schlaf
Wie umgehen mit «Rückschritten»?
Das Ende der Eingewöhnung – alles schon vorbei?
Die Rolle der Mutter oder des Vaters – der Hauptbezugsperson
Die außerfamiliäre Betreuung. Was ist das Beste für unser Kind?
Der erste Kontakt
Das Aufnahmegespräch
Der Hausbesuch
Der erste Tag
Meine Rolle während der Eingewöhnung
Die Beziehung zur Erzieherin
Die Beziehung zu meinem Kind und ihre Bedeutung für die Trennung
Die erste Trennung
Was, wenn mein Kind weint?
Was geschieht mit meinem Kind, wenn ich den Raum verlassen habe?
Fragen, Sorgen und Ängste. Was, wenn man sich während der Eingewöhnung plötzlich unsicher wird?
Der Alltag außerhalb der Krippe – wie gestalten?
Das gemeinsame Nachspüren der Eingewöhnung mit meinem Kind
Wie umgehen mit Rückschritten?
Das Ende der Eingewöhnung – alles schon vorbei?
Die Rolle des Kindes
Aus Sicht eines Säuglings
Aus Sicht eines Kindes im zweiten Lebensjahr
Aus Sicht eines Kindes im dritten Lebensjahr
Beziehungskontinuität im Krippenalltag und ihre Bedeutung für das Kind
Ausreichend Beziehungszeit zwischen Eltern und Kind außerhalb der Krippe
Aus aktuellem Anlass: Die Rückkehr in die Kita nach der Corona-Krise
Was bedeutet die plötzliche Veränderung während der Krise für die Kinder?
Wie geht es nach der Krise wieder in den Kita-Alltag zurück? Müssen alle Kinder neu eingewöhnt werden?
Eine gute Eingewöhnung zahlt sich nach einer Krise wie Corona besonders aus
«Sicher eingewöhnen» in der Praxis
Ich möchte das Konzept «Sicher eingewöhnen» für meine Einrichtung/Arbeit verwenden. Was muss ich beachten?
Nachwort
Anmerkungen
Persönliches Vorwort
Liebe Pädagogen, liebe Eltern!
Ich habe viele Jahre in Krippen und Kindergärten gearbeitet und durfte dabei etliche Kinder eingewöhnen und viel Beziehungsarbeit leisten – sowohl bei den Kindern als auch bei ihren Eltern. Während der Eingewöhnung meines Sohnes vor zwei Jahren machte ich dann zum ersten Mal die Erfahrung, wie sich eine Eingewöhnung für eine Mutter anfühlt und was dies für einen bedeutet.
Mir ist aufgefallen, dass das als Mama gar nicht so leicht ist – wenn man zum ersten Mal sein Kind abgibt und einer bis dahin völlig fremden Person und Einrichtung anvertrauen muss. Worauf kommt es denn eigentlich an? Wie soll ich mich als Mutter oder als Vater bei der Eingewöhnung verhalten? Was ist, wenn mein Kind weint?
Und welche Rolle hat dabei eigentlich das pädagogische Fachpersonal? Wie gehe ich, als Pädagoge, richtig auf die Ängste und Sorgen der Eltern ein? Was bedeutet die Eingewöhnung denn genau für das Kind und sein Bindungsmuster?
Eine Eingewöhnung wirft schnell viele Fragen auf – bei uns als Eltern, bei uns als Pädagogen und letztlich natürlich auch bei den Kindern.
Eine wirklich sichere, feinfühlige und bindungsorientierte Eingewöhnung kann und darf nicht nach einem starren Muster erfolgen. Man benötigt dabei viel Fingerspitzengefühl, Einfühlungsvermögen und Kreativität. Denn jedes Kind, jeder Pädagoge und jede Mutter, jeder Vater ist anders. Und dennoch gibt es Grundlagen und Fakten, die immer beachtet werden sollten.
Ich habe in diesem Buch all das aufgeschrieben, von dem ich überzeugt bin, dass es unverzichtbar ist. Dennoch soll dies hier kein Patentrezept sein. Denn die Eltern kennen ihre Kinder – und auch die betreffende Erzieherin oder Tagesmutter – am besten. Das trifft ebenfalls für die Pädagogen zu; ihnen sind die jeweiligen Kinder vertraut, sie kennen auch deren Mütter oder Väter. Daher wissen die Eltern und die Pädagogen auch am besten, an welcher Stelle sie das eine oder andere vielleicht ein klein wenig anders handhaben können – und es vielleicht sogar etwas anders handhaben müssen.
Ich wünsche Ihnen/euch viel Erfolg beim sicheren Eingewöhnen!
Herzlichst, Ihre/eure Käthe Bleicher
Einleitung
Ich freue mich sehr, dass Sie zu diesem Buch gegriffen haben. Denn das bedeutet, dass das Thema «Eingewöhnung» endlich den Platz in unserer Gesellschaft erhält, den es schon lange verdient hat.
«Eingewöhnung» – für viele ist dieser Begriff meist sehr negativ behaftet. Schnell steigen da Bilder oder Erinnerungen in einem auf, etwa weinende Kinder, gestresste Erzieher und verzweifelte Eltern. Zumindest erlebte ich in den Anfängen meiner pädagogischen Arbeit die Phasen der Eingewöhnung in der Krippe keineswegs als ein entspanntes, freudiges Kennenlernen zwischen Bezugserzieherin und Kind sowie zwischen Erzieherin und Eltern. Die meisten meiner Kolleginnen, die schon einige Eingewöhnungen hinter sich hatten, sehnten die Zeit der Eingewöhnung nicht gerade herbei. Und auch die Eltern kamen häufig eher ängstlich und unsicher zum ersten Tag der Eingewöhnung als freudig und erwartungsvoll.
Keine besonders guten Voraussetzungen, wenn man bedenkt, dass die Art und Weise einer Eingewöhnung eine sehr bedeutsame Rolle dabei spielt, wie das Kind später einmal in der Gruppe der Kinder stehen wird.
Schnell habe ich mir die Fragen gestellt: Woran liegt das? Wieso wird die Phase der Eingewöhnung von vielen Pädagogen und Eltern als stressvoll und unangenehm empfunden?
Das liegt vermutlich daran, dass die Eingewöhnungen häufig alles andere als schön und ideal verlaufen. Jeder kennt diese Geschichten – entweder von Freunden oder von seinen eigenen Erlebnissen als Mutter, als Vater oder als Erzieherin – Geschichten wie die folgenden:*
«Wir waren gerade den zweiten Tag in der Krippe, da sagte die Erzieherin, ich könne nun gehen. Die Mama würde nicht länger gebraucht. Ich war so überrumpelt, dass ich der Erzieherin einfach Folge leistete. Ich verließ den Raum, ohne mich von meinem Kind zu verabschieden, obwohl ich innerlich wusste, dass es weder richtig noch gut war. Draußen vor der verschlossenen Tür des Gruppenraums hörte ich meine Tochter bitterlich weinen. Das hat mir das Herz zerrissen.»
Eine Mutter über die Eingewöhnung ihrer eineinhalbjährigen Tochter
«Ich habe schon viele Kinder eingewöhnt. Aber nur wenige Eingewöhnungen waren wirklich rund und schön. Häufig fühle ich mich von den Eltern unter Druck gesetzt, da sie erwarten, dass man das Kind in sehr kurzer Zeit eingewöhnen soll. Aber das geht nicht, eine gute Eingewöhnung braucht Zeit. Nur so kann das Kind eine vertrauensvolle Beziehung aufbauen. Ich würde mir wünschen, dass die Eltern nicht so einen Zeitdruck auf uns Erzieher ausüben.»
Eine Erzieherin über die Eingewöhnung in ihrer Krippe
«Vor der Eingewöhnung unseres elf Monate alten Sohnes hatte ich große Angst. Ich war innerlich völlig zerrissen. Wegen meines Jobs hatte ich einen totalen Druck im Nacken, da ich nicht länger als zwölf Monate zu Hause bleiben konnte. Ich musste meinen elf Monate alten Sohn also in eine Krippe geben, obwohl ich gerne länger daheim geblieben wäre. Er war ja noch so klein.
Was, wenn er den ganzen Tag allein in der Krippe am Boden sitzt und niemand für ihn da ist? Die Umstände waren auch alles andere als ideal. Mal nahm ihn die eine Erzieherin morgens in Empfang, mal eine andere, die er zuvor kaum gesehen hatte. Er schrie jedes Mal, und ich musste ihn in diesem Zustand zurücklassen.»
Eine Mutter über die Eingewöhnung ihres elf Monate alten Sohnes
«Häufig habe ich das Gefühl, dass bei der Eingewöhnung die Mütter das Problem sind. Die wissen oft nicht wirklich, was sie wollen. Einerseits wollen sie das Kind in die Krippe geben, andererseits haben sie Gewissensbisse oder sind sich einfach unsicher.
Das überträgt sich natürlich auf die Kinder. Kein Wunder, dass die dann schreien. Und mich macht das jedes Mal nervös, wenn die Kinder schreien – keine Ahnung warum, aber irgendwie ist mir das unangenehm. Mit den Vätern klappt die Eingewöhnung meistens viel besser. Die können besser loslassen und sind nicht so emotional.»
Eine Erzieherin zu der Frage, wie sie die Eingewöhnung in ihrer Krippe erlebt
Schon anhand dieser vier Beispiele können wir sehen, dass die Eingewöhnung ein hoch emotionales Thema ist. Interessant wäre nun auch die Frage, wie ein Kind das Eingewöhnen denn erleben und beschreiben würde. Ich habe einmal den Versuch gemacht, mir auszumalen, was ein zwölf Monate altes Kleinkind wohl erlebt, wenn es von seiner Mama, zu der es eine sichere Bindung hat, in einer Kindertagesstätte eingewöhnt wird.
Was könnte dieses Baby empfinden, wenn es bereits am ersten oder zweiten Tag des Kita-Besuches von seiner Mutter getrennt wird?
«Heute Morgen bin ich mit Mama in so einen großen Raum gegangen, da war wirklich was los. Ganz viele Kinder waren da, und es war laut und roch ganz anders als bei uns zu Hause. Da gab es auch ganz viele Spielsachen, die ich noch nie in meinem Leben gesehen habe. Ich wusste gar nicht, wo ich zuerst hinschauen sollte.
Zum Glück war ich auf Mamas Arm. Da ist es immer so schön warm und gemütlich, und ich fühle mich da immer so sicher.
Aber dann kam plötzlich eine komische Frau, die wollte mich von Mamas Arm nehmen. Das wollte ich aber gar nicht, die kenne ich doch nicht. Die Frau hat dann ganz viele Spielsachen geholt und mit mir gesprochen. Ich glaube, sie wollte mich von Mamas Arm locken. Aber ich bin bei Mama geblieben, obwohl ich gerne mit den bunten Holzklötzen gespielt hätte.
Dann hat die Frau zu meiner Mama gesagt sie solle mich nun ihr auf den Arm geben und kurz den Raum verlassen. Ich habe gespürt, dass meine Mama mich nicht der Frau geben wollte, aber die Frau wollte mich unbedingt halten. Da hat meine Mama mich der Frau in den Arm gedrückt und ist einfach gegangen.
Ich habe dann ganz laut geschrien, damit meine Mama wieder zurückkommt. Zum Glück hat sie mich gehört und ist wieder zurückgekommen. Danach habe ich mich wieder beruhigt und aufgehört zu weinen. Aber morgen möchte ich nicht mehr zu dieser komischen Frau. Ich bleibe lieber bei Mama, wo ich mich sicher fühle.»
Solche Empfindungen und Erlebnisse hat vielleicht ein Kleinkind, wenn es bereits am ersten oder zweiten Tag in einer Krippe von seiner Mutter getrennt wird.
Schauen wir uns einmal alle Beispiele genauer an, können wir sehr schnell ablesen, dass Bindung und Beziehung bei der Eingewöhnung im Kleinkindbereich eine sehr bedeutsame Rolle spielen. Genauso wie Zeit, Geduld, Achtsamkeit, Ruhe und ganz viel Empathie und Fingerspitzengefühl. Werden diese Dinge missachtet und nicht in einen Eingewöhnungsprozess eingebettet, werden schnell Erfahrungen gemacht, wie wir sie eben in den Beispielen gesehen haben.
Was können wir also tun, damit solche Erlebnisse in Zukunft nicht mehr so häufig vorkommen und eine Eingewöhnung zu einer positiven Erfahrung für Eltern, Pädagogen und Kinder wird?
Ich werde Sie in diesem Buch auf eine kleine Reise mitnehmen. Sie lernen ein von mir entwickeltes, bindungsorientiertes Eingewöhnungskonzept kennen, das nach den Grundlagen der Waldorfpädagogik arbeitet.1 Wir werden einen kleinen Ausflug in die Bindungstheorie machen, um zu verstehen, was sie bedeutet und welche Rolle sie bei der Eingewöhnung spielt. Wir beleuchten die Rolle der Pädagogen und der Eltern bei der Eingewöhnung. Und wir wollen versuchen, uns vorzustellen, was eine Eingewöhnung wohl für ein Baby oder ein Kleinkind bedeutet.
Da ich im Folgenden die verschiedenen Aspekte der Eingewöhnung sowohl von der Rolle der Bezugserzieherin her betrachte – und hier vor allem die Erzieherinnen, aber auch die Tagesmütter anspreche – als auch aus Sicht der Eltern, den Hauptbezugspersonen des Kindes, und dabei besonders deren Fragen im Blick habe, schildere ich das Konzept der «sicheren Eingewöhnung» von zwei Blickwinkeln her. Es liegt in der Natur der Sache, dass es bei Aspekten, die für beide Lesergruppen relevant sind, zu einigen Wiederholungen kommt. Kapitel 3 wendet sich an Erzieherinnen und Tagesmütter, Kapitel 4 dagegen ist für Sie, liebe Mütter und Väter, geschrieben. Wenn Sie möchten, können Sie sich also, je nach Ihrer Rolle im Prozess der Eingewöhnung, hauptsächlich mit Kapitel 3 oder mit Kapitel 4 beschäftigen. Lesen Sie Kapitel 3 und Kapitel 4, dann werden Sie im Laufe der Lektüre auf bereits geschilderte Gesichtspunkte stoßen – was aber für ein festes Einprägen des Konzepts und seiner Grundlagen durchaus auch von Vorteil sein kann.
Wir begeben uns also gemeinsam auf den Weg, um am Ende des Buches so viel Wissen und Verständnis zu haben, dass wir sicher eingewöhnen können. Wir vereinen Kopf und Herz und geben der Theorie und unserem eigenen Bauchgefühl so viel Platz, wie notwendig ist, um ein ausgewogenes Gleichgewicht herzustellen.
Wir machen uns nun auf die Reise, um zu lernen, was «sicheres Eingewöhnen» heißt und wie es gelingen kann. Nur durch Ihre Hilfe und Ihr Mitwirken können wir dazu beitragen, die Qualität der Eingewöhnung für unsere Kinder in den Krippen zu verbessern.
Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit nehmen, dieses Buch zu lesen und sich mit dem Thema zu beschäftigen!
*Die in diesem Buch verwendeten Beispiele dienen der Verdeutlichung und Veranschaulichung der Thematik sowie der Darstellung einer möglichen Umsetzung in der Praxis und stammen aus den Erfahrungen meines beruflichen Alltags. Alle beschriebenen Personen und Namen in den Beispielen sind frei erfunden.
Bindung und Beziehung
Das Bindungsverhalten verstehen
Es ist in unserem Wesen als Menschen angelegt, dass wir ein Leben lang auf der Suche nach Geborgenheit, Zuwendung, Liebe und Sicherheit sind. Und nur ein Mensch vermag unser Verlangen nach diesen Gefühlen zu stillen. Dabei kann es zwar sein, dass dieses Verlangen, solche Gefühle zu erleben, individuell unterschiedlich stark ausgeprägt ist und jeder ein unterschiedliches Maß an Geborgenheit und Sicherheit braucht. Aber dennoch sind wir grundsätzlich alle in einem bestimmten Ausmaß von diesem Gefühl abhängig.
Das Beziehungsverhältnis, das ein Mensch zu einer anderen Person eingeht, ist sehr individuell. Manchen genügt es völlig, überwiegend oberflächliche Kontakte zu anderen Menschen zu haben. Andere hingegen haben das Verlangen, immer sehr tiefe Bindungen zu anderen Personen einzugehen, und sind an oberflächlichen Beziehungen nicht interessiert.
So schreibt etwa der bekannte Schweizer Kinderarzt und Pädagoge Remo Largo: «Wie auch immer die Beziehungen gestaltet sind, ein Grundmuster findet sich immer wieder: Menschen binden sich an andere Menschen in der Erwartung, von ihnen angenommen, umsorgt und beschützt zu werden. Menschen umsorgen und beherrschen andere Menschen, weil ihnen deren Abhängigkeit ein Gefühl von Sicherheit vermittelt.»2
Der Mensch hat ein ständig wechselndes Bindungsbedürfnis. Ein Baby braucht zum Beispiel eine ganz andere Beziehung zu seiner Mutter und hat auch ein anderes Bedürfnis, Geborgenheit, Liebe, Zuwendung und Sicherheit zu erfahren, als etwa ein Kleinkind. In jeder Entwicklungsphase macht sich beim Kind also ein anderes Bedürfnis nach Bindung bemerkbar, und es zeigt, damit einhergehend, auch immer bestimmte Verhaltensweisen, beispielsweise das sogenannte Fremdeln gegen Ende des ersten Lebensjahres. Die Eltern sind darum aufgerufen, in ihrem Bindungsverhalten gegenüber ihrem Kind stets beweglich zu bleiben und mit ihm so umzugehen, dass es sich weiterentwickeln kann. Denn das Kind soll Geborgenheit, Sicherheit und Zuwendung von den Eltern bekommen, ohne dass es daran gehindert wird, sich zu einem selbstständigen und individuellen Menschen zu entwickeln.3
Wieso aber hat die Natur es so eingerichtet, dass der Mensch ein solches Bindungsverhalten hat? Wenn man Kinder in verschiedenen Kulturkreisen betrachtet, kann man sagen, dass sie alle in den ersten zwölf Lebensjahren auf ihre Eltern oder zumindest auf Bezugspersonen angewiesen sind. Ohne die Fürsorge und den Schutz von Mutter und Vater oder anderer Bezugspersonen würden die Kinder nicht überleben. Sie müssen von ihren Eltern ernährt und beschützt werden.
Das Bindungsverhalten hilft dem Kind aber nicht nur zu überleben, sondern ist auch entscheidend dafür, dass es sich das komplexe Sozialverhalten der jeweiligen Gesellschaften zu eigen machen kann. Und um dies zu erreichen, braucht es Vorbilder, also eine Bezugsperson, an der es sich orientieren kann.
Dazu noch einmal Remo Largo: «Eine starke gegenseitige Bindung zwischen dem Kind und seinen Eltern, aber auch zu anderen Kindern und Erwachsenen ist notwendig, damit dieser jahrelange Sozialisierungs- und Bildungsprozess gelingen kann.»4
Lange Zeit ging man davon aus, dass in jedem Fall die Beziehung zur Mutter von entscheidender Bedeutung für das psychische Wohlbefinden von Babys und Kleinkindern ist. Diese Auffassung hat sich aber in den letzten Jahrzehnten etwas gewandelt. Die Forscher Lamb (1977), Field (1978) und Parke (1987) kamen in ihren Studien zu dem Schluss, dass nicht primär die Mutter-Kind-Beziehung über das psychische Wohlbefinden des Kindes entscheidet, sondern das Kind auch zu anderen Personen, beispielsweise dem Vater oder einer anderen Bezugsperson, eine ebenso starke Bindung aufbauen kann, die bei ihm ein psychisches Wohlbefinden erzeugt. Um neben der starken Bindung an die Mutter zu einer anderen Bezugsperson ebenfalls eine Beziehung eingehen zu können, muss das Baby allerdings einen genauso intensiven Kontakt zu dieser anderen Bezugsperson haben und eine Vielzahl an Interaktionserfahrungen über eine längere Zeit hinweg sammeln.5
Der Mensch, das Kind, ist also darauf angewiesen, sich an eine Bezugsperson zu binden, um sich frei entwickeln zu können und ein psychisches Wohlbefinden zu erleben. Georg von Arnim drückt es so aus: «Der Mensch ist ein soziales Wesen, und sein innerer Entwicklungsimpuls hängt von dem Aufgenommensein in einen sozialen Organismus ab.»6
Gerade im ersten Jahrsiebt, in dem das Kind von Natur aus ein nachahmendes Wesen ist, ist es besonders wichtig, dass es sich an eine feste Bezugsperson binden kann, die ihm auch als Vorbild dient, um die Welt ergreifen und mit ihr in eine Beziehung treten zu können. Denn der Mensch lernt das Menschsein nur am Menschen. Und ein Kind kann sich auch nur wirklich individuell und selbstständig entwickeln, wenn es in seiner Umgebung Sicherheit, Zuwendung, Geborgenheit, Ruhe und Geduld erlebt.
Wie bindet sich aber ein Kind an seine Eltern? Was sind die Bedingungen für ein solches Bindungsverhalten?