Die großen Literaten der Welt

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Aus der Reihe: marixwissen
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Wichtige Werke:

Genji monogatari (Die Geschichte vom Prinzen Genji, um 1003–1010)

Murasaki Shikibu nikki (Tagebuch der Murasaki Shikibu, 1008–1010)

1 Auch Murasaki Shikibu verfasste Gedichte, von denen 128 in der Sammlung Murasaki Shikibu shū zu finden sind.

(ABŪ MUHAMMAD AL-QĀSIM) AL-HARĪRĪ

(1054–1122)

Wie ein Regenguss – Der sprachgewandte Schelm

Die Makāmen (al-Maqāmāt, 1101–1107) von Abū Muhammad al-Qāsim al-Harīrī gelten heute wie vor 900 Jahren als das Meisterwerk der arabischsprachigen Literatur. Und auch der Einfluss dieser sprachgewaltigen Schelmengeschichten auf die Weltliteratur kann kaum zu hoch eingeschätzt werden, wenn er auch ein eher indirekter, vermittelter gewesen sein mag.

Abū Muhammad al-Qāsim, der unter dem Beinamen al-Harīrī, ›der Seidenhändler‹, bekannt ist, war ein arabischer Dichter und Sprachgelehrter. Er verfasste philologische Werke, unter anderem ein grammatikalisches Lehrgedicht und die Abhandlung Die Perle des Tauchers über die Sprachfehler der Gebildeten (Durrat al-gawwās fī auhām al-hawāss), in der er seinen schneidenden Witz und seine messerscharfe Sprachpräzision einsetzte, um die ›Sprachdummheiten‹ bloßzulegen, mit denen die angeblich Gebildeten in Wort und Schrift – seiner Meinung nach – die klassische arabische Literatursprache verunreinigten1. Während der Sprachgelehrte al-Harīrī die Annäherung der arabischen Umgangs- und Hochsprachen nicht aufhalten konnte, machte der Dichter al-Harīrī seine ›reine Diktion‹ mit seinen Makāmen unvergänglich.

Über das Leben al-Harīrīs ist wenig überliefert. Es scheint jedenfalls nicht sonderlich ereignisreich gewesen zu sein. Der große Sprachmeister wurde geboren und starb auf der Dattelpalmenplantage seiner Familie nahe der Hafenstadt Basra, wo er vermutlich studierte. Später wurde er Vorsteher des Post- und Nachrichtendienstes von Basra, eine Aufgabe, die ihn des Öfteren nach Bagdad geführt haben dürfte. Ansonsten führte der Sohn einer reichen Familie das Leben eines freien Gelehrten. Seine Makāmen, die aus 50 Einzelgeschichten bestehen und zwischen 1101 und 1107 als geschlossenes Gesamtwerk entstanden, verfasste der Dichter wohl im Auftrag eines Wesirs (Minister); die Überlieferung erzählt allerdings, al-Harīrī sei eines Tages in einer basrischen Moschee einem zerlumpten, aber ungeheuer sprachgewandten und gebildeten alten Mann namens Abū Zaid aus der Stadt Sarūğ in Nordsyrien begegnet – den der Dichter dann zu dem pikaresken Helden seiner Makāmen machte.

Makāmen bzw. Maqāmāt sind ein spezifisch arabisches Genre, das auf die mittelalterliche Straßenunterhaltung zurückgeht (der Begriff maqāmāt wird üblicherweise mit ›Bettleransprachen‹ oder ›Straßenpredigten‹ übersetzt). Es handelt sich um Geschichten in Reimprosa und/oder lyrischem Vers, vorgetragen von einem Erzähler, der jede Makāme traditionellerweise mit der Formel »Mir berichtete …« einleitet und die Schelmereien und Gaunereien einer eulenspiegelhaften Figur wiedergibt. Der schelmische Held der Maqāmāt – zumeist Bettler, Gelehrter und Galgenvogel in einer Person1 – schwindelt sich üblicherweise durch alle Fährnisse hindurch. Nichtsdestotrotz konstituieren die Geschichten in der Regel realistische Erzählungen, die den Alltag des Volkes und vor allem auch dessen Schattenseiten thematisieren. Begründet wurde das literarische Genre der Maqāmāt von dem ›Wunder der Zeit‹ Badī as Samān al-Hamadhāni (968–1008), der neben al-Harīrī der berühmteste und bedeutendste Vertreter dieses Genres ist; üblicherweise wird al-Hamadhāni die größere Originalität und Kreativität im Umgang mit den der mündlichen Überlieferung entnommenen Stoffe zugesagt, dem ›Seidenhändler‹ dagegen die überlegene Sprachvirtuosität. Al-Harīrī kann seine Inspiration durch den großen Vorgänger nicht verleugnen (gelegentlich übernimmt er den Inhalt gewisser Episoden kurzerhand von al-Hamadhāni), doch vergleicht er selbstbewusst den ersten Maqāmāt-Dichter mit einem Tröpfeln, sich selbst dagegen mit einem Regenguss2. – Diese wenig bescheidene Analogie ist durchaus berechtigt; al-Haīrīs Makāmen sind – um den Metaphernbereich zu wechseln – ein Feuerwerk von Sprachwitz und Bildgewalt, von lyrischen Kunststücken und geistreichen Gedankenspielen. Die in eleganter, komplexer Reimprosa verfassten Erzählungen sind durchsetzt mit Gedichten, ausgeklügelten Rätseln, religiösen und sprachphilosophischen Reflexionen, einer Vielzahl von Anspielungen auf die arabische Literatur, Kultur und Geschichte und nicht zuletzt mit Formspielen und -witzen, wie sie nur in der arabischen Schrift möglich sind1. Berühmt ist etwa die sogenannte ›krebsgängerische‹ Makāme2, in der al-Harīrī 100 gereimte arabische Sprichwörter so aneinanderreiht, dass sie rückwärts gelesen genau die gegenteilige Aussage ergeben wie vorwärts; oder das Streitgespräch zwischen einer Rechnung und einem literarischen Essay, das zynisch zugunsten der Rechnung entschieden wird. Außerdem handelt es sich bei den Makāmen al-Harīrīs um ein strukturell konsequent durchkomponiertes Gesamtkunstwerk. Die in sich geschlossenen Episoden (also die einzelnen Makāmen) werden zusammengehalten durch die Figuren des schelmenhaften Helden Abū Zaid, der sich mit Sprach- und Mutterwitz durchs Leben gaukelt und gaunert, und des Erzählers al-Hārit Ibn Hammām, der als moralisch-kritische Instanz fungiert und Abū Zaid am Ende jeder Makāme von der Unlauterkeit seines Lebensweges überzeugt. Diese Bekehrung ist natürlich, wie die Gesamtheit der Makāmen zeigt, nie von sonderlicher Tiefe und Dauer. Erst die letzte Geschichte präsentiert uns einen hochbetagten Abū Zaid, der als Asket in seine von den Arabern befreite Heimatstadt, aus der er von den Kreuzrittern vertrieben worden war, zurückkehrt und somit dem Erzählwerk einen abgerundeten Abschluss gibt.

Der Einfluss der Makāmen al-Harīrīs auf die arabische Literatur ist enorm. Bis heute werden seine Reimerzählungen mit ihrer stilisierten, blumigen und teilweise durchaus abenteuerlichen Sprache als Stilideal und rhetorisches Meisterwerk angesehen. Al-Harīrī beeinflusste mit seinem Werk außerdem die hebräische und persische Literatur, und auch in Europa sind die Makāmen wohlbekannt, dank zahlreicher Übersetzungsversuche (wobei der Bildreichtum des Arabischen im Allgemeinen und al-Harīrīs Sprachwitz im Besonderen eine ganz eigene Herausforderung darstellt). Besonders hervorzuheben ist dabei die kongeniale Übertragung der Makāmen ins Deutsche durch den Orientalisten Friedrich Rückert (1826/37), dem es gelang, die Sprachspiele des ›Seidenhändlers‹ adäquat zu übertragen. Doch schon lange vor den Übersetzungsversuchen des 18. und 19. Jahrhunderts machten die Makāmen ihren Einfluss in Europa geltend: Bereits im Jahr 1108 kamen die Schelmengeschichten nach Andalusien (vermutlich von einem maurischen Dichter aus Bagdad mitgebracht, der sie von al-Harīrī selbst erzählt hörte), von wo aus sie sich in ganz Spanien verbreiteten – und so die Entwicklung des pikaresken bzw. Schelmenromans im 16. Jahrhundert entscheidend anregten, jener Gattung, die von so immenser Bedeutung für den neuzeitlichen Roman im Besonderen und die Weltliteratur im Allgemeinen werden sollte1.

Wichtige Werke:

al-Maqāmāt (Die Makāmen, 1101–1107)

Durrat al-gaww’as fī auhām al-hawāss (Die Perle des Tauchers)

1 Allerdings unterliefen al-Harīrī, so meisterhaft die Sprache der Makāmen auch ist, einige der von ihm in der Perle des Tauchers ausgemachten Fehler durchaus auch selbst.

1 Der gebildete Bettler bzw. der verarmte Gelehrte scheint zu der Entstehungszeit der Gatt ung der Maqāmāt eine alltägliche Erscheinung gewesen sein.

2 vergl.: Wiebke Walter. Kleine Geschichte der arabischen Literatur. Von der vorislamischen Zeit bis zur Gegenwart. München 2004; der Vergleich mit einem Regenguss ist im Arabischen – der Sprache der Wüste – nachvoll-ziehbarerweise rein positiv besetzt; man kann sogar soweit gehen, zu sagen, dass al-Harīrī mit dieser Analogie seiner Poesie lebensspendende Kraft zuschreibt.

1 Dies ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass al-Harīrī seine Makāmen als Leseliteratur verfasst hatte und sie so ihrem mündlichen Ursprung entrückte.

2 Die Bezeichnung geht auf den großen Orientalisten und al-Harīrī-Übersetzer Friedrich Rückert (1788–1866) zurück.

1 Bekannte deutsche ›Schelmen‹ sind etwa der Simplicissimus (1668) von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen (1622–1676) und Oskar Matzerat aus der Blechtrommel (1959) von Günter Grass‹ (*1927).

LI QINGZHAO

(UM 1084–1150)

Klarer Gedanke – Die Lieddichterin

Li Qingzhao gilt als die größte Dichterin der traditionellen chinesischen Literatur. Ihre ausdrucksstarken ci (Lieder) ließen sie aus dem Meer von Dichtern der Nördlichen Song-Dynastie herausragen und berühren ihre Leser bis auf den heutigen Tag aufs Tiefste.

 

Die Epoche der Nördlichen Song-Dynastie (960–1279) war eine Zeit der Bildung und des Schöngeistes; fast jeder kultivierte Chinese schuf poetische Kreationen. Doch es war auch eine Zeit militärischer Niederlagen und schwacher Kaiser. So scheint, wie Zhong Jian anmerkt, auf die Song-Zeit das alte chinesische Sprichwort zuzutreffen: »Wenn das Elend im Land herrscht, gedeihen die Dichter«1 – unter ihnen die große Li Qingzhao.

Das klassische Genre der Song-Zeit war das ci, das Lied, das sich während der Tang-Dynastie (618–907) zunächst als Medium der Hof- und später auch der Volksunterhaltung etablierte, sich jedoch schon in der Frühzeit der auf Diesseitigkeit und Subjektivität ausgerichtete Song zu einer ›hohen‹ literarischen Gattung entwickelte. Die Poetik des ci beinhaltet strikte Regeln – allein die obligatorische Einschränkung auf einen Kanon bereits existenter Melodien bedeutete über die Titel derselben eine Begrenzung der zu poetisierenden Themen, die die Dichter jedoch kreativ zu umgehen wussten. Nichtsdestotrotz ließ die ci-Dichtung den Poeten größere Freiheit als das formstrenge klassische shi-Gedicht, das nun eher zum Ausdruck politischer, sozialkritischer und allgemein intellektueller Thematiken verwendet wurde, während das ci besser zur Manifestation von Emotionen geeignet erschien. Li Qingzhao übte sich in beiden Gattungen, doch es waren ihre gefühlsstarken, individualistischen Lieder, die sie zu einer der überragenden Gestalten der chinesischen Poesie werden ließen2. Sie verfasste sogar ein literaturtheoretisches Fragment über das ci als eigene literarische Gattung und etablierte die heute klassische Einteilung der ci-Dichter in haofang pai (›Schule des heroischen Verzichts‹) und wanyue pai (›Schule der zartfühlenden Zurückhaltung‹), wobei die Meisterin selbst der letzteren Schule zugeordnet wird. Dies verwundert bei so intensiven Versen wie den folgenden kaum:

Sag nicht, ich könnte nicht überwältigt sein:

Wenn der Westwind den Vorhang bewegt,

Bin ich zarter als die gelbe Chrysantheme.

Selbst in einer Zeit des Schöngeists fällt Li Qingzhaos immense Bildung auf – umso mehr, da sie eine Frau war. Die Lieddichterin, deren Name ›klarer Gedanke‹ bedeutet, war die älteste Tochter einer Literatenfamilie: Ihr Vater Li Kefei war Politiker und Prosaschriftsteller, und ihre Mutter genoss als Lyrikerin großes Ansehen. Im kulturellen Zentrum der kaiserlichen Hauptstadt Kaifeng aufgewachsen, erhielt Li Qingzhao eine ausgesprochen gute Ausbildung, interessierte sich von jungen Jahren an für die alte chinesische Literatur und verfasste angeblich bereits im Alter von zehn Jahren Gedichte, denen die Kollegen ihres Vater eine ›männliche Reife‹ (das heißt Klarheit des Ausdrucks und der Form) bescheinigten. Im Jahr 1101 verheiratete sich Li Qingzhao mit dem kunstbegeisterten Würdenträger Zhao Mingcheng (1081–1129). Die Ehe erwies sich als eine kongeniale Partnerschaft. Zusammen ging das wohlhabende Paar der beiderseitigen Sammlerleidenschaft nach und häufte eine beeindruckende und viel beneidete Kollektion alter Bücher, Kalligraphien und Steininschriften an. Aus dieser entstand die Sammlung von Bronze und Steininschriften (Jinshilu), von der leider nur noch Li Qingzhaos Vor-/Nachwort erhalten ist, in dem sie in verdichteter Form das Lebenswerk ihres Mannes würdigt und ihre Autobiographie zu Papier bringt. Eine kleine Anekdote veranschaulicht die legendäre Sammlerleidenschaft des Paares: Als ein gieriger Händler für eine Kalligraphie des Meisters Wang Xizhi (307–365) noch einen Zuschlag auf die goldene Haarspange verlangte, die ihm Li Qingzhao als Entgelt anbot, zog die Dichterin kurzerhand ihr wertvolles Außengewand aus und übergab es dem Verkäufer als Dreingabe.

Die Jahre an der Seite ihres Mannes waren die glücklichste Zeit im Leben Li Qingzhaos. Sie genoss die Existenz einer wohlhabenden, gebildeten und sensualistischen Frau der Oberschicht, wie viele ihrer Verse zeigen:

Sogar der Himmel teilt unsere Freude,

lässt den vollen Mond auf deinen geschwungenen Körper scheinen.

Feiern wir mit schwerem grünen Wein in goldenen Bechern.

Ich habe nichts dagegen, berauscht zu werden,

denn diese Blüte ist unvergleichlich.

Zeilen wie diese, voller Lebenslust, Sinnlichkeit und Witz, werden traditionellerweise der glücklichen Ehefrau und ›Patrizierin‹ Li Qingzhao zugeschrieben. Der große Einschnitt im Leben der Lieddichterin erfolgte mit dem Einfall der Jurchen in Nordchina, denen auch die Hauptstadt Kaifeng in die Hände fiel, und vor allem mit dem Tod ihres Mannes. Die folgenden Jahre waren für Li Qingzhao durch Heimatlosigkeit geprägt und durch den vergeblichen Versuch, die wertvolle und geliebte Kunstsammlung zusammenzuhalten, die sie im Zuge der Kriegswirren und einer Folge von Unglücksfällen – nicht zuletzt eine zweite desaströse Ehe – nach und nach verlor. Dieser dreifache Verlust schlägt sich in Li Qingzhaos Klageliedern nieder, die dieser zweiten, unglücklichen Phase ihres Lebens zuzuordnen sind und die ihren Ruf als ideale, ihren Mann und ihr Land liebende Frau und Dichterin begründeten. Auch ihr berühmtestes und vielleicht ausdrucksstärkstes Lied zu der Melodie Sheng sheng man wird dieser Lebensphase zugeordnet. Die Verse, von denen Hans von Ess als »einem stilistischen Wagnis ohne Vorläufer« spricht1, gehören sicher zu den schönsten und wehmütigsten Gedichten der chinesischen, ja, der Weltliteratur:

Suchen, suchen, spähen, spähen,

einsam, einsam, Stille, Stille,

frieren, frieren, Kummer, Kummer, Leid, Leid.

Bald warm, dann wieder kalt zur Zeit,

wahrhaft schwer ist’s Ruh zu finden.

Drei Becher, zwei Schalen faden Weins,

wie sollt er spät noch kommen, eilig wie der Wind?

Wildgänse ziehn,

wirklich, tut weh im Herz.

Denn von früher her kannt ich sie noch.

Die Erde voll gelber Blüten, aufgetürmt,

ausgezehrt, verwelkt.

Wer wollte sie jetzt noch pflücken?

So wach ich am Fenster,

einsam und allein, wie kann es da dunkel werden?

Im Wutong-Baum hängt feinster Regen,

bis zur gelben Dämmerung fallen, fallen Tropfen um Tropfen.

Dieser Zustand

ist durch ein Wort nur zu begreifen: Gram.

Wichtige Werke:

Sheng sheng man

1 Zhong Jian. Die Dichterin Li Qingzhao. unter: China Heute, www.chinatoday.com. Juli 2004.

2 Von Li Quinzhaos Hand sind 17 shi-Gedichte und etwa 60 ci-Lieder erhalten.

1 Hans von Ess. »Die Literatur der Dynastien Song und Yaan«. in: Reinhard Emmerich (Hg.): Chinesische Literaturgeschichte. Stutt gart/Weimar: Metzler 2004. S. 187–224. hier: S. 205.

HĀFEZ (CHÂDĒ SHANSÒ D-DĪN MOHAMMAD)

(1326–1390)

Die Zunge der unsichtbaren Welt – Liebe und Wein in vollendeter Form

Hāfez gilt bis heute als der größte Lyriker, den die persische Sprache je gesehen hat. Sein Diwan1 gehört nicht nur zur Grundausstattung eines jeden iranischen Haushalts und wird – wie der Koran – zur Auslegung von Omen eingesetzt, sondern wird auch in der Türkei, in Afghanistan, Pakistan, Indien und Zentralasien hochverehrt. Die Gedichte des persischen Poeten, der etwa Johann Wolfgang Goethe (1749–1832) zutiefst beeindruckte2, feiern bildstark und formvollendet den Wein und die Liebe und gehören unzweifelhaft zu den größten Texten der Weltliteratur.

Die Lebensumstände von Châdē Shansò d-Dīn Mohammad liegen zum Großteil im Dunkeln. Die beiden Ehrentitel Châdē (in etwa ›weiser, ehrwürdiger Lehrer‹) und Hāfez (›der im Gedächtnis Bewahrende‹, ›der den Koran auswendig weiß‹) verweisen auf die große Gelehrsamkeit des Dichters und legen nahe, dass er als Koranlehrer tätig war. Hāfez, im für seine intellektuelle und künstlerische Kultur gerühmten Schiras geboren, stammte aus einfachen Verhältnissen, erhielt aber offenbar dennoch eine exzellente Ausbildung (wohl auf Betreiben der Mutter, da der Vater des Dichters früh verstarb). Bis zum Alter von mindestens dreißig Jahren arbeitete Hāfez als Berufsschreiber (einige Handschriften sind überliefert), danach war er als Professor an einer theologischen Akademie (Madrase/Medrese) tätig und verfasste vermutlich einige theologische Werke. Schließlich jedoch erlangte Hāfez, der im fruchtbaren kulturellen Klima seiner geliebten und vielbesungenen Heimatstadt in seinem Element war, die Position des Hofdichters am Hof der Mosaffariden-Herrscher in Schiras. Schnell jedoch wurde der Poet Opfer der bewegten politischen Zeit1; schon 1369 wurde Hāfez auf Verlangen des zelotischen Klerus und der mit diesem verbündeten Polizei vom Hof verbannt (der freie Moralkodex des Dichters und die offenen, scharfen Angriffe gegen die Heuchelei und Korruption der Geistlichkeit in seinen Versen machten Hāfez nicht gerade beliebt). Zwar wuchs der Ruhm des großen Lyrikers auch nach dieser Zeit und verbreitete sich über die Grenzen Persiens hinaus2, aber seine wortgewandten poetischen Klagen über sein Schicksal sowie die ebenso beredten Bitten um erneute fürstliche Gunst trafen auf taube Ohren. Erst kurz vor seinem Lebensende wurde es Hāfez, der bis dahin relativ zurückgezogen in Schiras lebte, erlaubt, an das von ihm so vermisste kulturelle Zentrum des königlichen Hofes zurückzukehren.

Seiner Position als Hofdichter entsprechend, ist ein Großteil von Hāfez’ Dichtung dem Fürstenlob gewidmet und besingt Schiras und seine ›Großen und Schönen‹. Doch Hāfez verwandelte die Panegyrik (Lobdichtung) in eine Dichtkunst ganz eigener Prägung, indem er das der erotischen, hedonistischen und Liebesdichtung vorbehaltene Ghasel zu seiner Form erkor. Das Ghasel ist ein Gedicht von beliebiger Länge, das dem Reimschema aa ba ca da etc. folgt und aus in sich abgeschlossenen Doppelversen (bayt, d. i. ›Haus‹) besteht, die in sich, oft antithetisch oder kontrapunktisch, einen bestimmten Gedanken verhandeln. Diese dialektische Struktur kommt Hāfez’ »skeptischer Beweglichkeit« (Goethe) zwischen den Gegensätzen entgegen, zwischen Gefühl und Intellekt, Diesseitigkeit und Jenseitigkeit, Hedonismus und Gelehrsamkeit, Schmerz und Glück – Dichotomien, die Hāfez in seiner wort-, gedanken- und gefühlsmächtigen Dichtung letztendlich zu einer schwebenden Synthese bringt. Über die unendliche Variation seiner beiden Zentralmotive, der Liebe und dem Wein, gibt Hāfez fundamental menschlichen Erfahrungen poetische Gestalt, von dem Sehnen nach der Verschmelzung mit dem Göttlichen bis hin zum puren Lebensgenuss – und dies oft in ein und demselben Atemzug:

Es stirbt der Durst, wenn du ihn stillst im Weine;

und Liebe, die gesättigt wird, ist keine.

Wenn du erfliegen dürftest deine Sonne,

wie sonntest du dich dann in ihrem Scheine?

Hāfez nutzt die erotischen, ja, bacchantischen Metaphern des Ghasels, um aus seinen Lobgedichten, in denen der Gelobte so zum Geliebten wird, Texte von universaler Gültigkeit und zeitloser Schönheit zu machen. Er schöpft den Bilderreichtum des Farsi (Neupersisch) – der hohen Literatursprache, die zu Hāfez’ Zeit und durch ihn zu ihrem Höhepunkt fand – und all seine vielfältigen sprachlichen Möglichkeiten1 voll aus, ja, bereicherte diese Sprache durch seine Poesie, die seit Jahrhunderten kulturelles Allgemeingut ist, noch weiter. Die Freiheit des Liebeswie des Weinrausches, die so viele von Hāfez’ Versen inhaltlich dominiert, prägt auch die Form seiner Gedichte und schlägt sich in gewagten Wortkunststücken, unorthodoxen Kombinationen poetischer Bilder, geistreichem Sprachwitz, spielerischen Zitaten aus der traditionsreichen persischen Dichtung und der antithetischen Struktur seiner Dichtung nieder. Die resultierende Vielschichtigkeit seiner Texte hat zu einigen Kontroversen bezüglich der Interpretation dieser einmaligen lyrischen Schöpfungen geführt. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Frage, ob seine sinnlichen Gedichte, die nicht selten den Geliebten und Gott gleichsetzen, mystizistisch zu deuten sind, als eine Poetisierung der sufischen Sehnsucht nach der Auflösung im Göttlichen. Während manche Forscher der Meinung sind, Hāfez’ Gedichte könnten ohne Berücksichtigung sufischen (d. i. islamisch-mystischen) Gedankenguts nicht voll verstanden werden – der Dichter war vermutlich Mitglied eines Sufi-Ordens –, verweisen andere auf die deutliche Kritik, der der Sufismus in Hāfez’ Versen nicht selten unterzogen wird, und sehen in der Gleichsetzung des Geliebten mit Gott vielmehr eine poetische Überhöhung menschlicher Liebe. Letzten Endes jedoch werden derartige Einengungen – egal, in welche Richtung sie erfolgen – der Vielschichtigkeit Hāfez’ und der so charakteristischen steten Schwebe, in der er seine Gedichte belässt, nicht gerecht. Diese Ambivalenz schließt die geschlechtliche Unbestimmtheit der/des Geliebten ein (das Persische hat nur ein unbestimmtes Pronomen für die dritte Person Singular), die aber durchaus auch ins Homoerotische umschlagen kann. Auch Gottes- und Menschenliebe erfährt keine Unterscheidung bei dem großen Perser; während die eine versinnlicht und erotisiert wird, wird die andere vergeistigt überhöht. Für Hāfez, der im Iran die ›Zunge der unsichtbaren Welt‹ genannt wird, ist letzten Endes alles Eins: Menschliches und Göttliches, Todesnähe und Lebensgenuss, Trunkenheit und Erleuchtung, Leben und Kunst.