Buch lesen: «Always Differently»
Kat v. Letters
Always Differently
Buch I
Schwanger – ja, ich will
Roman
(eine fast wahre Geschichte)
Das Buch
Katarinas sehnlichster Wunsch: Ein Baby. Doch bis dahin liegt ein steiniger Weg vor ihr.
Eben noch jung sieht sie im Spiegel plötzlich eine 35-jährige Frau und sie weiß, der Zeiger ihrer biologischen Uhr steht auf fünf vor zwölf. Die Zeit drängt, aber jegliche Bemühungen scheitern. Deshalb fasst sie den Entschluss, der Wahrheit ins Auge zu blicken, und sucht einen Gynäkologen auf. Das Ergebnis fällt anders aus als erwartet.
Im Verlauf der Schwangerschaft durchlebt sie Sorgen, Probleme und letztlich eine dramatische Entbindung.
Eine fast wahre und turbulente Geschichte.
Die Autorin
Kat v. Letters, Baujahr ’69, ist aufgewachsen im Land der Blauen Steine. Ihre Sturm- und Drangzeit hat sie später in eine sächsische Großstadt verschlagen, in der sie viele Jahre gelebt hat. Mittlerweile ist sie auf vielen interessanten Schauplätzen unterwegs.
Wesentliche Basis ihrer Schreibweise sind akkurate Recherchen und Natürlichkeit ihrer Protagonisten.
Bisherige Veröffentlichungen
Always Differently: Früchtchen an Bord, Buch II
Toxin-Killer
1. Auflage März 2022
Texte: © 2022 Copyright by Kat v. Letters
c/o Block Services, Stuttgarter Str. 106, 70736 Fellbach
Coverdesign: © 2022 Copyright by artdesign88
Illustrationen: © 2022 Copyright by artdesign88
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Inhalt
Titelseite
Das Buch
Die Autorin
Bisherige Veröffentlichungen
Träume sind Schäume
Nägel mit Köpfchen
Umstände machen glücklich, manchmal auch seltsam
Die Qual vor der Wahl
Der Tag der Geburtsstunde
24. November, 14 Tage überfällig
25. November, 15 Tage überfällig
28. November, 18 Tage überfällig
30. November, 20 Tage überfällig
02. Dezember, 22 Tage überfällig
03. Dezember, 23 Tage überfällig
04. Dezember, 24 Tage überfällig
06. Dezember, 26 Tage überfällig
07. Dezember, 27 Tage überfällig
08. Dezember, 28 Tage überfällig
Prinzessin bestellt, Prinz geliefert
Wider Erwarten Liebe
Träume sind Schäume
Katarina Hanselmann-Breuer, fünfunddreißig Jahre alt, stand in ihrer Küche und murmelte vor sich hin.
»Gott sei Dank, war das ein verrückter Tag.«
Sie drehte den Hahn auf und hielt den Kessel unter den Wasserstrahl.
»Reicht.«
Anschließend stopfte sie die Pfeife drauf, schlug mit der flachen Hand nach und drückte dann den kleinen Hebel nach unten. Schon kurz darauf brodelte der Kessel leise vor sich hin.
Der Tag auf Arbeit war heute mal wieder Stress pur. Alles ging drunter und drüber. Das blanke Chaos quasi. Katarina war Teamleiterin in dem Verlag, für den sie seit gut zwanzig Jahren arbeitete. Die Bezahlung war ziemlich jämmerlich, aber sie liebte ihre Arbeit und zuweilen auch den Stress. Er war eine Herausforderung, bei der sie zeigen konnte, was sie draufhatte. Aber für heute reichte es. Sie fühlte sich erledigt und ihre Energie war aufgebraucht. Sie musste sich erholen. Und zwar jetzt, dringend. Das beste Mittel dafür war ihrer Erfahrung nach eine gute Tasse Tee, dazu einfach den Gedanken freien Lauf lassen und alles war wieder gut.
In der Zwischenzeit holte sie ihre Lieblingstasse aus dem Küchenschrank, die größenmäßig beinah einem halbierten Fußball gleichkam, und stopfte einen Teebeutel hinein.
»Du siehst genauso aus, wie ich mich fühle«, sagte sie zu dem Panda, der sie total erschöpft, mit verdrehten Augen und alle viere von sich gestreckt, von ihrer Tasse aus anstarrte. »O ja, die Milch. Gut, dass du mich dran erinnerst.«
Sie holte die Packung aus dem Kühlschrank und stellte sie neben die Tasse. Ein Tropfen davon im Tee machte ihn schön weich und rund, ganz nach ihrem Geschmack. Diesen Trick hatte sie von den Briten stibitzt. Na ja, genau genommen kam dieses Ding mit dem Tee und der Milch ursprünglich mal von den Chinesen. Aber Katarina war es egal, wer da von wem kupferte, das Ergebnis jedenfalls war klasse.
Der Wasserkessel war so weit. Er spuckte dampfende Wolken und jagte einen gurgelnden Pfeifton durch die Küche. Sie stand davor und wartete geduldig, dass der kleine Hebel zurück nach oben hüpfte, um dem Ton den Garaus zu machen.
Die meisten Menschen waren genervt von diesem Geräusch, nicht Katarina. Der Dampf und das Pfeifen weckten in ihr Bilder von einem Bahnhof. Der Zug rollte heran und der Bahnsteig wimmelte plötzlich von hektischen Menschen. Wie die Ameisen wuselten sie durcheinander. Plötzlich sah sie hinter einem der Zugfenster ein Kind. Es winkte und schaute zu ihr herüber. Winkte es etwa ihr, kannte sie es? Sie hob die Hand und schirmte ihre Augen vor der Sonne ab, um das Kind besser zu erkennen. Im selben Moment schubste sie ein verbissener alter Herr auf dem Bahnsteig zur Seite. Doch das trübte in keiner Weise ihre Vorfreude, da zwischen all den Reisenden jemand ganz Besonderes aussteigen würde, auf den sie wartete. Doch wer? Vielleicht dieses Kind. Sie war aufgeregt. Endlich gingen die Türen auf und …
Klick. Sie nahm die Kanne und goss gedankenverloren das kochende Wasser über den Teebeutel, der sich dabei wie wild in dem Strudel drehte. Sie starrte weiter in die Tasse und sah zu, wie sie voller und voller wurde.
Katarina war in Gedanken versunken, mal wieder, und träumte vor sich hin. Wie immer, wenn sie völlig fertig war. Sie wusste, sie war ein Träumer. Aber sie fand das nicht weiter schlimm. Im Gegenteil, sie war sogar stolz darauf. All die Nichtträumer besaßen doch gar keine Fantasie. Deren Leben war nur schwarz-weiß, hatte bestenfalls etwas Grau dazwischen. Katarina dagegen mochte es so richtig bunt und lebendig. Wenn sie träumte, war aller Ärger samt Sorgen vergessen, da spielte die Musik. Ein ganzes Orchester aus tausenden Grillen, Vögel zwitscherten ganze Arien, pummelige Hummeln und zarte Schmetterlinge nahmen auf den oberen Rängen blühender Blumen Platz. Ihre Träume waren ein Leben voller Sonnenschein und sie mittendrin.
Sie kannte den Spruch, Träume sind Schäume, wusste auch, dass da was dran war, nur nicht, was sie dagegen tun sollte. Wollte sie daran überhaupt etwas ändern? Um ehrlich zu sein, nein. An diesem Ort gingen ihre Wünsche in Erfüllung, besonders einer. Und das war nicht irgendein Wunsch, sondern der Wunsch. Es war nichts Großes, was sie wollte. Es sollte nur ganz winzig sein. Zappelnde Beinchen, winzige Zehen und kleine Fingerchen. Genau das war ihr immer wiederkehrender Traum – ein Baby.
Schon in frühester Kindheit war für Katarina klar, irgendwann in ihrem Leben wollte sie ein Kind. Dieses Verlangen hatte sich in den letzten Jahren nach und nach an sie herangeschlichen. Und mit einem Mal stand es vor ihr und war immens präsent. Wann es begonnen hatte dieses Verlangen, ja, wann war das eigentlich?
»Huch!«, rief sie erschrocken und war augenblicklich hellwach. »Da hast du ja noch mal Glück gehabt, Schlafmütze«, schimpfte sie mit sich selbst. »Das hätte eine Überflutung mit bösen Verbrennungen werden können.«
Sie stellte den Wasserkessel beiseite und schöpfte anschließend mit einem Löffel etwas Flüssigkeit ab, um die Tasse gleich danach mit der Milch wieder randvoll zu machen. Langsam balancierte sie damit an den Küchentisch und setzte sich.
Sie dachte an ihren sehnlichsten Wunsch und versuchte sich zu erinnern, seit wann diese Sehnsucht die erste Geige in ihrem Leben übernommen hatte.
Vor Kurzem noch war sie für ein Kind gar nicht bereit. Da sah alles etwas anders aus. Spontan verreisen, Kino, Freunde treffen, feiern oder nur eben mal ausschlafen. All das hätte sie für eine lange Zeit nicht mehr tun können. Das war für sie genauso unvorstellbar wie eine Reise zum Mond. Doch das hatte sich inzwischen geändert. Nicht die Reise zum Mond, die eh nicht infrage kam, dafür aber ihr Bedürfnis nach einer richtigen und vollständigen Familie, denn im Grunde genommen war sie ein sehr harmoniesüchtiger Familienmensch.
Katarina schlang einen Finger um den Henkel ihrer Tasse. Der Riesennapf war bis zum Überlaufen voll und schwer. Der Tee darin dampfte noch regelrecht. Mithilfe von Daumen und Zeigefinger der anderen Hand hob sie ihn vorsichtig an die Lippen und nippte daran.
»Autsch!«, rief sie entsetzt.
Sie hatte sich die Zunge verbrannt. Hastig stellte sie die Tasse auf den Tisch, die dabei überschwappte, und presste ihre Hand an den Mund.
»Verdammt noch mal«, wetterte sie. »Das Zeug ist aber auch heiß.«
Heiß. Bei diesem Wort dachte sie unweigerlich an Felix. Immer wenn sie sich an irgendetwas die Zunge verbrannte, was nicht selten vorkam, feixte er darüber und fragte, ob sie es denn mal wieder nicht abwarten konnte.
Sie kannte ihn nun schon beinah eine Ewigkeit. Vor gut fünf Jahren hatte er ihr dann endlich einen Antrag gemacht. Sie sagte spontan ja und hatte es nie bereut.
Der Tag lag eine Weile zurück, an dem sich Felix und Katarina kennengelernt hatten, ein paar Jahre kamen da schon zusammen. Die Zeit war unbemerkt durch ihre Finger gerutscht. Dummerweise machte sie vor niemandem halt. Doch wer wünschte sich das nicht, zumindest ab einem bestimmten Alter. Vielleicht war das auch ganz gut so. Denn Katarina kam dabei sofort die Überbevölkerung in den Sinn und sie dachte an einige, die sie nicht sonderlich leiden konnte. Beate zum Beispiel, eine Kollegin ihrer Freundin Meike. Die nervte total und war noch dazu ein Schnorrer.
»Okay, das ist gehässig, ich geb’s zu«, erklärte sie dem Panda auf ihrer Tasse. »Aber der Prozess läuft, kann ich sowieso nicht ändern.«
Auch Katarina wurde aus diesem Grund immer älter. Und je älter sie wurde, umso mehr quälte sie sich. Es waren keine Schmerzen, die sie plagten, jedenfalls nicht direkt. Aber sie spürte etwas in ihrem Bauch, immerzu. Da war ein seltsames Kribbeln, wie vor einer Prüfung. Es fühlte sich beinah an wie Liebeskummer. Doch das konnte nicht sein, in ihrer Beziehung mit Felix war alles in Ordnung.
Sie grübelte nach. Manchmal waren derartige Gefühle ein Hinweis darauf, etwas Wichtiges übersehen zu haben, darüber hatte sie gelesen. Nur was sollte das sein. Ein Termin vielleicht? Nein, der stünde definitiv in ihrem Kalender. Aber was war es dann? Permanent horchte sie in sich hinein. Woher konnte das kommen, fragte sie sich. Sie fühlte sich innerlich leer und irgendwie traurig.
Ein paar Wochen später ging Katarina im Stadtpark spazieren. Plötzlich blieb sie einem Impuls folgend stehen. Auf einer Parkbank sah sie eine junge Mutter mit ihrem Baby auf dem Arm.
»Was für ein schönes Bild«, seufzte sie.
Es war eine Art Magie. Katarina ging auf die beiden zu, sie konnte nicht anders, und setzte sich daneben auf die Bank.
Das Baby war noch sehr klein, nicht älter als ein halbes Jahr. Es sah zu Katarina, und zwar nicht nur in ihre Richtung. Nein. Es blickte ihr klar und direkt in die Augen, lächelte und streckte seine kleinen Händchen nach ihr aus. Sie lächelte unsicher zurück, hob zaghaft ihre Hand und winkte dem Baby zu.
Da war es wieder, dieses Kribbeln in ihrem Bauch. Dieses Mal sehr heftig. Es durchzog ihren gesamten Körper. Sie schluckte schwer und kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen an. In diesem Moment wusste sie plötzlich, was ihr fehlte. Ein Baby.
Richtig. Genau da hatte ihr Verlangen nach einem Baby begonnen.
Mittlerweile lag diese Erkenntnis eine ewig lange Zeit zurück. So wie ihr Leben im Augenblick war, war es schön, auch ohne Kind. Ihre Beziehung zu Felix war einfach perfekt. Selbst zu zweit, und dessen war sich Katarina sicher, bliebe ihre Ehe immer ein aufregendes Abenteuer.
Und dennoch konnte sie die Sehnsucht nach einem Baby nicht verdrängen. Immer öfter, auch jetzt, spukte ihr dieser eine Spruch im Kopf herum: ›Erst ein Kind macht das große Glück perfekt.‹ Und genau das war es, was sie wollte, nämlich dieses ganz große, perfekte Glück. Sie war kein Mensch für halbe Sachen.
Katarina träumte von ihrem Baby. Ein süßes kleines Mädchen, das sie an seinem Geburtstag mit einem Rüschenkleidchen ganz in Rosa besonders herausputzte. Und aus den langen blonden Löckchen band sie zwei kleine Zöpfe, wie Pippi Langstrumpf sie hatte, die bei jeder Bewegung stetig auf und ab hüpften. Die Sonne schien, Katarina zauberte einen Schokoladenkuchen und Felix spielte mit ihrem Schatz und seinen kleinen Gästen Topfschlagen.
Genau das war sie, die Bilderbuchfamilie aus ihren Träumen. Sie seufzte und lächelte dabei vor sich hin. Doch all das war nur ein schöner Traum. Irgendwann würde diese Seifenblase zerplatzen und es wäre für immer vorbei. Davor fürchtete sie sich am meisten, schließlich wurde sie nicht jünger.
Kürzlich, vor ein paar Wochen, hatte sie ihren fünfunddreißigsten Geburtstag gefeiert und mit ihm kam der Murmeltiertag. Von da an meldete sich plötzlich ihre innere Stimme, und das jeden einzelnen Tag laut und energisch. Vor allem, wenn Katarina vor einem Spiegel stand.
›Deine biologische Uhr tickt‹, rief sie prompt in diesem Augenblick. Katarina versuchte darauf nicht zu reagieren, aber ihr Spiegelbild ließ einfach nicht locker und setzte noch eins drauf. ›Verdammt noch mal, sie rennt!‹
Über diese Worte erschrak Katarina dann doch. Sie beugte sich näher zum Spiegel hin und betrachtete sich genauer.
»Was ist das denn?«, fragte sie irritiert. Sie sah die kleinen Fältchen um ihre Augen und war sich sicher: »Die waren gestern noch nicht da. Das wäre mir doch aufgefallen.«
Sie war verzweifelt und nahe am Heulen. Jeden Tag die gleichen fiesen Sprüche ihrer inneren Stimme. Hin und wieder schaltete sich ihr Verstand dazwischen und beruhigte sie.
›Dieses Gefühl ist nur eine Torschlusspanik. Also keine ernstzunehmende Krankheit.‹
Ihre innere Stimme horchte auf und widersprach sofort. ›Was heißt hier nur?‹, kreischte sie los.
Katarina musste zugeben, sie hatte recht und sagte sich, wenn morgens mein Wecker klingelt, bleibe ich da liegen, weil ich nur zur Arbeit muss? Nein, natürlich nicht, dann ist es höchste Zeit aufzustehen!
Ruckartig sprang sie hoch. Der Stuhl knarzte laut über den Küchenboden, kippte nach hinten und krachte scheppernd auf die Dielen. Katarina achtete nicht weiter darauf. Sie bemerkte auch nicht, wie der Tee erneut über den Rand ihrer Tasse schwappte und nun in einer breiten Lache langsam über den Tisch kroch. Ihr war gerade etwas klar geworden, das sie zutiefst erschütterte. Und um ganz sicher zu sein, musste sie das mit eigenen Augen überprüfen.
Sie rannte ins Bad und starrte auf ihr Spiegelbild.
»O Gott, nein!«, keuchte sie erschrocken.
Kalter Schweiß brach aus ihren Poren. Sie hatte es verdrängt, vielleicht sogar vergessen. Aber wie in Gottes Namen war es möglich, so etwas Schwerwiegendes aus dem Gedächtnis zu verlieren? Ihre innere Stimme erinnerte sie täglich an ihr Alter. Damit hatte sie sich mittlerweile abgefunden. Doch dass seit dem Tag, an dem sie die Pille abgesetzt hatte, dreizehn Jahre vergangen waren, haute sie jetzt beinah um. Das war zu viel. Ihr Blutdruck sackte ab und sie begann zu zittern. Kraftlos ließ sie sich auf den Wannenrand sinken und vergrub ihr Gesicht in den Händen.
»Wie konnte das bloß passieren?«, flüsterte sie erstickt.
Tränen tropften in ihre Handflächen. Sie konnte sie nicht mehr zurückhalten. Das wollte sie auch gar nicht, sie wollte sich in diesem Moment einfach nur bemitleiden.
Nach ein paar Minuten war sie so weit, zumindest nicht mehr zu heulen, wenn sie versuchte, darüber nachzudenken. Seit dreizehn langen Jahren ließ sie es darauf ankommen, schwanger zu werden. Diese Feststellung war wie ein Faustschlag und sie musste tief durchatmen, um weiterzumachen. Aber sie wusste, je länger sie all das verdrängte, umso weiter rückte der Zeiger ihrer biologischen Uhr. Und der stand inzwischen auf fünf vor zwölf.
Es war jetzt vierzehn Jahre her, Katarina war damals einundzwanzig, da lernte sie Felix kennen und lieben. Drei Tage später zogen sie zusammen und sie entschloss sich, die Pille zu nehmen. Das tat sie gewissenhaft ein ganzes Jahr lang. Danach war Schluss, sie setzte die Pille von heute auf morgen ab.
Der eigentliche Grund dafür war nicht der, dass sie schwanger werden wollte, sondern die Pille selbst. Sie hatte kein so gutes Verhältnis dazu, ihren Körper mit purer Chemie zu füttern. Das war nichts Natürliches und schreckte sie ab. Also stöberte sie danach im Internet und machte sich darüber schlau. Das tat sie bei vielen anderen Dingen auch. Sie informierte sich. Im Endeffekt gelangte sie jedoch immer wieder zu einer Aussage: Die Pille erhöht das Krebsrisiko.
Katarina war geschockt. Was bastelte die Pharmaindustrie da bloß für einen riskanten Scheiß zusammen? Sie stoppte sofort jede weitere Einnahme. Lieber würde sie das Risiko eingehen, schwanger zu werden, als sich von wuchernden Krebszellen zerfressen zu lassen, um dann mit Schmerzen dahinzusiechen, bis der Tod endlich eintrat. Keinesfalls!
Der andere ausschlaggebende Punkt war: Es gab Frauen, die trotz der Pille schwanger wurden. Daran hatte sich wohl auch bis heute nichts geändert.
Mit Jubelschreien konnte Katarina selbstverständlich nicht rechnen. Schließlich gehörte es nicht gerade zu Felix’ Wunschträumen, beim Sex permanent aufzupassen und darauf zu hoffen, dass nichts passierte. Und Kondome, nein. Niemals. Die versauten total die Stimmung. Aber immerhin hatte er keine Einwände, dass sie auf die Pille verzichten wollte. Ihre Gesundheit war ihm an dieser Stelle um einiges wichtiger.
Das Ganze war natürlich eine ziemlich windige Angelegenheit, darum schlossen die beiden eine Übereinkunft.
»Wenn dabei etwas schiefläuft«, sagte Felix, »dann werden wir eben Eltern. Du Mama, ich Papa.«
Beide waren sich einig und bereit, dieses Risiko einzugehen.
»Jedenfalls bin ich mit meinen zweiundzwanzig Jahren alt genug.«
Daran glaubte Katarina damals. Und sie überlegte, welche Frauen sie kannte, die in ihrem Alter bereits Kinder hatten. Nach einigem Nachdenken fielen ihr sogar mehrere ein. Ihre Freundin Meike zum Beispiel hatte zwei Kinder. Oder die Frau Peters bei ihr auf Arbeit, die war jetzt vierzig und schon Oma. Und Sandra, die war gerade im Babyjahr und nur ein Jahr älter als sie selbst. Zwei kannte sie aus ihrer ehemaligen Schulklasse, die Simone und die Andrea. Diese beiden waren ebenfalls längst Mutter. Sie alle hatten Nachwuchs.
Dieses Wissen war zu dieser Zeit Katarinas bestes Alibi, falls sie und Felix beim Aufpassen mal abgelenkt sein sollten.
Jetzt, dreizehn Jahre später, war genau jenes windige Abenteuer der Grund, weshalb sie direkt auf eine Torschlusspanik zusteuerte.
»Ich habe den Anschluss verpasst«, jammerte sie bestürzt, »oder das Schicksal hat mich vergessen.«
Es war inzwischen einige Zeit her, dass Katarina der Mutter und ihrem Baby in diesem Park begegnet war. Seitdem hatte sie ihren Wunsch nach einem Kind stets wieder verdrängt. Sie war sich sicher, irgendwann geschähe es von selbst. Deshalb hatte sie auch alles dem Zufall überlassen. Nur was war indessen passiert? Nichts. Und nun trauerte sie den Jahren nach, die sich still und leise an ihr vorbeigeschlichen hatten.
»Niemand wird sich an mich erinnern, wenn ich tot bin«, flüsterte sie den kahlen Wänden zu. »Kein Kind, das um mich weint.«
Mit verschränkten Armen umschlang sie ihren Körper, um sich damit vor der Härte ihrer eigenen Worte zu schützen. Doch das änderte nichts an der Tatsache.
»Was, wenn mich das Schicksal tatsächlich übersehen hat?«, fragte sie in den leeren Raum.
Sie stand auf, ging hinüber zum Waschbecken und starrte erneut auf ihr Spiegelbild.
»Dann hör auf zu flennen und komm endlich raus aus deinem Trott. Tu gefälligst etwas!«, antwortete es ihr ohne jegliche Rücksicht auf ihre Gefühle.
So und nicht anders sah es aus. Das Spiegelbild, ihre innere Stimme, hatte recht. Die Heulerei brachte sie nicht weiter. Energisch wischte sie sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht. Sie brauchte eine andere Sichtweise. Doch dafür musste sie ihr Problem erst einmal ganz sachlich betrachten.
Katarina dachte an die vielen Tipps und Ratschläge ihrer Freunde und Kollegen. Davon hatte sie sich nie verrückt machen lassen und nur halbherzig zugehört. Sie wollte das alles gar nicht wissen. Außerdem war sie zur Familiengründung zu der Zeit noch nicht wirklich bereit. Deshalb wollte sie auch nichts überstürzen.
Nun kam ihr das ein oder andere wieder in den Sinn. Felix oder sie könnte unfruchtbar sein, womöglich gar sie beide, lautete ein Kommentar. Es könnte aber auch das Bier schuld sein oder der Wein. Zu viel Fleisch, zu wenig Obst und Gemüse, die falsche Diät. Zu schlecht ernähren würden sie sich sowieso, daran müsste es liegen. Noch wahrscheinlicher wären irgendwelche inneren Fehlbildungen. Ja, definitiv, daran läge es. Und nicht zu vergessen, der Ziegenpeter während der Kindheit, und das wäre erwiesen, würde später oft die Schwangerschaft verhindern. Kräuter könnten da natürlich helfen.
»Stopp!«, rief Katarina und hielt sich die Ohren zu. »Es reicht.«
Sie schüttelte den Kopf und hoffte, die lärmenden Erinnerungen an diese Gespräche so zu verscheuchen.
»Denk nach, in Ruhe«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild. »Es gibt für jedes Problem eine Lösung.« Und sie hoffte inständig, dass das auch in ihrem Fall zutraf. »Überlege, was tust du den ganzen Tag«, sprach sie weiter mit sich. »Wie läuft er ab, wie viel Zeit verbringst du davon mit Felix, worüber redet ihr? Woran denkst du von früh bis abends?«
Sie schloss ihre Augen, atmete langsam tief ein und wieder aus und ließ den Kopf sinken. Für eine Weile ging sie in sich und spulte ihren Tagesablauf ab. Doch egal welchen Tag sie vor sich sah, er war immer gleich, hektisch und komplett überlastet wie ein proppenvoller Terminkalender.
Mit einem Mal riss sie den Kopf hoch und starrte auf ihr Gegenüber.
»O mein Gott«, brach es aus ihr heraus.
Sie hatte so etwas wie eine Erleuchtung, oder genauer gesagt, des Rätsels Lösung.
»Richtig. Das ist der Grund. Ich konnte bis jetzt gar nicht schwanger werden. Das war gar nicht möglich. Es ist mein Kopf.«
Sie grinste sich an. Ihre Verzweiflung war für einen Moment wie weggeblasen. Endlich ein Lichtblick.
»Ganz genau, es liegt an meinem Kopf. Er hat mir einen Strich durch die Rechnung gemacht.«
Katarina erinnerte sich, früher mal von einem Phänomen gelesen zu haben, das ziemlich weit verbreitet sein sollte. Es hieß damals, wenn der Kopf nicht völlig frei ist, kannst du machen, was du willst, da passiert einfach nichts. Das klang plausibel und leuchtete ein, denn sie hatte permanent einen Haufen von Dingen zu erledigen. Ihre Gedanken waren pausenlos beschäftigt. Nur mit dieser einen Sache nicht, und zwar der Wichtigsten: ihrem Baby. Die Zeit für ein Kind war einfach noch nicht reif. Bis jetzt.
Die Ursache lag nun klar auf der Hand und die musste sie schnellstens angehen. Sie nickte sich zu und ging zurück in die Küche. An der Tür blieb sie verdutzt stehen und besah sich das Chaos.
»Wie sieht’s denn hier aus?«
Sie hatte noch gar nicht zu Ende gesprochen, schon hatte sie das Bild ihrer überstürzten Flucht zum Spiegel vor Augen.
»Toll.«
Katarina stellte den Stuhl auf und besah sich dann genervt die Sauerei auf und unter dem Tisch.
»Was soll’s. Der hat es eh mal wieder nötig.«
Sie holte Putzzeug, wienerte den Tisch und gleich dazu noch den kompletten Dielenboden. Anschließend holte sie etwas zu schreiben und setzte sich damit an den Küchentisch. Das Blatt vor sich teilte sie in zwei Spalten. Die linke bekam die Überschrift Kontra, die rechte Pro. Sie wollte eine Analyse über ihr Kopfproblem erstellen und dachte nun tiefgründig nach.
»Womit habe ich die letzten Jahre verbracht? Mit Arbeiten, was sonst. Und das täglich von morgens bis abends. Warum? Blöde Frage. Ganz einfach, mit meinem Alter von fünfunddreißig Jahren stehe ich voll in der Blüte des Berufslebens. Schließlich heißt es nicht alt und dynamisch, sondern jung und dynamisch.«
Das Dynamische würde sich mit dem Alter ändern, das hörte sie ständig und von allen Seiten. ›Wenn du kurz vor der Rente stehst‹, so wurde ihr versichert, ›sind für dich nur noch zwei Dinge wichtig, die Schere und dein Maßband, das du jeden Tag um einen Zentimeter kürzen darfst.‹
Katarina verstand dieses Ritual bis heute nicht. Das mit dem Maßband würde sie nie tun, auch nicht kurz vor der Rente. Sie war gar nicht der Typ für so etwas. Arbeiten war einfach toll. Sie freute sich jeden Tag darauf. Für ihren Verlag war sie wichtig. Vor allem in Stresssituationen, diese standen schon beinah an der Tagesordnung. Dabei waren Sekunden entscheidend, denn das Blatt musste pünktlich in den Druck gehen. Darin war Katarina eine wahre Meisterin, das sah zumindest ihr Chef so, und das zählte. Dumm nur, dass ausgerechnet jetzt der richtige und gleichzeitig auch letzte Zeitpunkt für ein Baby war. Und Zeit war genau das, was sie brauchte und viel zu wenig hatte.
Sie nahm den Stift zur Hand und schrieb in die linke Spalte auf dem Papier folgende Notiz:
– Sind Job und Kind zeitlich miteinander vereinbar?
Gegenwärtig war ihr nämlich gerade das ein absolutes Rätsel und möglicherweise einer der Gründe, die sie blockierten.
Sie notierte einen zweiten Punkt:
– Geld!!!
Mit drei Ausrufezeichen. Das spielte gleich neben der Zeit die zweite Hauptrolle.
»Mit Kind wird das auf jeden Fall ganz schön knapp.«
Sie schrieb weiter:
– Arbeit = Geld
– Baby = keine Arbeit
»Das erste Jahr bleibe ich auf jeden Fall mit dem kleinen Schatz zu Hause. Und daran gibt es nichts zu rütteln. Stellt sich allerdings die Frage, wer soll mich in dieser Zeit vertreten?«
Weiter zum Punkt Geld:
– keine Arbeit = kein Geld
– kein Geld = ?
»Prima. Kein Geld und wie weiter? Wovon leben wir, wenn ich nicht arbeiten gehe? Felix ist auch nicht gerade der Großverdiener. Und die paar Kröten vom Staat decken gerade mal so unsere Mietkosten. Na ja, wenigstens das, so ersparen wir uns zum Glück das Brückenleben.«
Immer wieder landete Katarina mit ihren Überlegungen in einer Sackgasse. Sie dachte an das Baby. Es würde wachsen und dabei unzählige Gläschen mit Brei verschlingen und tonnenweise Windeln verbrauchen.
»Meine Güte, Babys sind in Wirklichkeit gefräßige Raupen. Tja, nehmt euch vor den Kleinsten in Acht, das sind immer die Schlimmsten.«
Plötzlich hatte sie eine geniale Idee, von der sie sofort begeistert war.
»Jep, na wer sagt’s denn.«
Der erste Stichpunkt in der Pro-Spalte.
– Brei selber kochen
»Das spart definitiv jede Menge Geld, kostet zwar Zeit, aber schließlich bin ich auch den ganzen Tag zu Hause.«
Gleich darunter schrieb sie:
– Stoffwindeln
Eine weitere Möglichkeit, die sie in Erwägung zog. Diese müsste sie nur einmalig kaufen und konnte sie dann immer wiederverwenden.
»Guter Plan. Dafür sollte ich von den Grünen einen Orden einfordern. Wahrscheinlich halte ich damit sogar noch den Klimawandel auf, bei der Menge, die ich an Wegwerfwindeln einspare.«
Zugleich veranstalteten ihre Gedanken ein Szenario, in dem sie sich von riesigen Windelbergen umgeben sah. Auf kilometerlangen Leinen verteilte sie eine Stoffwindel nach der anderen. Die Sonne ging bereits unter, ehe sie bei der letzten angelangt war. Danach fing sie von vorn an und nahm die erste wieder ab, die inzwischen schon trocken war.
»Herrgott noch mal. Nein!«, rief sie und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Damit setzte sie dieser Horrorvision ein Ende. »Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert. Wozu sonst wurde dieser ganze moderne Kram erfunden, wenn ich mir diese Erleichterung dann nicht zunutze machen würde. Windeln waschen. Pah. Das ist ja so, als hätten wir gerade den Zweiten Weltkrieg hinter uns gebracht. Ich werde mich nicht zum Windelsklaven machen und jeden Tag Wäsche waschen. Ein bisschen Zeit für mein Baby will ich auch noch haben.«
Sie strich das letzte Wort und setzte es in die linke Spalte.
– Stoffwindeln – Stoffwindeln
Die Idee war dann wohl doch nicht so genial. Geld sparen würde an dieser Stelle ausfallen. Aber sie blieb zuversichtlich.
»Schnallen wir eben unseren Gürtel etwas enger. Es wird sich alles finden, wenn es so weit ist.«
Dieser Spruch war nicht auf ihrem Mist gewachsen, sondern nur einer der vielen guten Ratschläge, die sie sich ständig anhören durfte.
»Wenn alle das Gleiche sagen, muss doch was dran sein.«
Eine Weile starrte sie vor sich auf das Blatt Papier. Da standen sie ihre Probleme, fein säuberlich niedergeschrieben, Punkt für Punkt. Gelöst waren sie damit allerdings nicht. Im Gegenteil, Katarina hatte es bisher immer wieder geschafft, sie zu verdrängen. Doch nun schwirrten sie fragend in ihrem Kopf herum. Zum Beispiel hatte sie noch immer keine Antwort darauf, wer sie in ihrem Job vertreten sollte, wenn das Baby erst einmal da war.
»Das kann nicht funktionieren, dieser Aufgabe ist niemand sonst gewachsen.«
Ehrgeizig wie sie war, machte sie sich auch darüber Gedanken, bezweifelte aber stark, dass sich dafür jemand finden würde. Das redete sie sich nicht nur ein, sie glaubte auch daran.