Gommer Winter

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Aus der Reihe: Ein Fall für Kauz #2
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Jaja, die Gommer Luft, dachte sie. Vielleicht war sie wirklich so heilsam, wie viele sagten. Deswegen war sie ja ins Goms gekommen: um Geist und Seele zu kurieren, um ein neues Leben anzufangen. Frei von dieser Seelenmarter. Wenn es nur schon so weit wäre!, dachte sie. Aber erst muss ich da durch.

Seit Antonio nicht mehr lebte, war ihr Leben nicht mehr, was es einmal war. »Sein Tod war ein Trauma«, hatte Manconi gesagt. Trotz der schwierigen Beziehung, die sie geführt hatten. Allerdings! Es war wie ein Erdbeben gewesen, kein Stein war auf dem andern geblieben. Sie hatte ihre Stelle bei der Staatsanwaltschaft schon im Jahr davor gekündigt – nicht ganz freiwillig zwar – und arbeitete zuerst bei einem Bewachungsdienst, dann als Sportlehrerin, an einer Privatschule, die nicht auf dem Lehramtsdiplom bestand. Nach einem halben Jahr hatte sie die Nase voll. Sie hatte daran gedacht, einen Winter lang als Tauchlehrerin am Roten Meer zu jobben. Doch dann sah sie im vorletzten Herbst auf dem Portal für Touristikjobs diese Ausschreibung: »Lust auf Gommer Winter?«

Lust nicht gerade, hatte sie gedacht. Sie kannte das Goms ja kaum. Aber sie nahm die Anzeige als einen Wink des Schicksals und bewarb sich. Carlo Steffen stellte sie sofort ein, aber nicht als Langlauflehrerin – obschon sie das Zeug dazu bestimmt hätte! –, sondern als Mitarbeiterin in der Administration und im Verkauf. Als seine rechte Hand, hatte er gesagt, und damit hatte er sie natürlich um den Finger gewickelt.

Ob der komische Kauz heute Abend wohl wirklich kommt?, fragte sie sich, als sie sich die Haare trockenrieb. Versprochen hat er es ja. Ausnahmsweise benützte sie noch den Fön, denn sie wollte nicht mit feuchtem Haar in die Kälte hinaus.

Vor zwei Tagen hatte dieser Walpen an der Theke des Kursbüros gestanden und doch tatsächlich mit ihr geflirtet! Ziemlich unbeholfen zwar, er war nicht gerade ein Don Juan. Trotzdem, so etwas war schon lange nicht mehr vorgekommen.

Sie warf einen weiteren prüfenden Blick in den Spiegel.

»Zara, Zara!«, sagte sie laut und schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn, als ob sie sich wachrütteln müsse.

Wieso nistete sich ausgerechnet dieser Mensch in ihrem Kopf ein? Weil er, auch wenn er kein Don Juan war, Selbstsicherheit ausstrahlte? Zugegeben, sie hatte eine Schwäche für selbstsichere Männer. Für solche, die wussten, was sie wollten. Nicht immer war das gut ausgegangen.

Was soll das?, dachte sie und schlug sich nochmals auf die Stirn, vergiss es! Sie beschloss, den Kauz, wenn er überhaupt kam, während des Apéros nicht zu beachten. In ihrem verwundeten Herzen war sowieso kein Platz für einen anderen Mann.

Seit sie ihren Entschluss gefasst hatte und wieder im Goms arbeitete, seit Oktober, war sie innerlich ruhiger geworden. Und durch die Beschäftigung mit den Kursen und den Kursteilnehmern – sie kannte den Job vom letzten Winter her – ging es ihr schon deutlich besser. So etwas wie Seelenruhe schien auf einmal in Reichweite. Oder war es bloß eine Ruhe vor dem Sturm?

*

Kauz stand im kleinen Saal des Sporthotels Galenblick, inmitten der Teilnehmer, die morgen mit ihm den Kurs begannen. Er schaute um sich. Zu mehr als einem Salü hier oder einem Händedruck dort fühlte er sich nicht verpflichtet. Salznüsschen und trockene Häppchen – Käsebissen auf Roggenbrot – standen herum, Fendant und Dôle wurde ausgeschenkt.

So freundlich und unkompliziert wie er Kauz im Laden bedient hatte, so locker begrüßte Carlo Steffen jetzt die Anwesenden. Mit ein paar witzigen Bemerkungen sorgte er sofort für eine entspannte Atmosphäre. Ohne dick aufzutragen, stellte er seine Schule und deren Kursprogramm vor. Dann erkundigte er sich, ob alle mit der Unterkunft zufrieden waren.

»Für den Fall, dass es Wünsche oder Fragen an die Adresse des Hotels gibt, hole ich jetzt den Hoteldirektor«, kündigte Carlo an und verschwand aus dem Saal. Gleich kam er wieder herein und fragte im Ton eines Hoteldirektors händereibend: »Alles zu Ihrer Zufriedenheit, meine Damen und Herren? Irgendwelche Wünsche, Klagen oder Fragen?«

Es gab ein Schmunzeln und leichtes Kopfschütteln. Die Insider kannten den Gag schon.

Aha, dachte Kauz, vermutlich ist der Hoteldirektor gerade nicht da, Carlo schlüpft zum Schein in seine Rolle und macht ein bisschen auf Hotelier.

Da kam ein zweiter Carlo herein, der dem ersten glich wie ein Ei dem andern: die gleiche athletische Statur, das gleiche gesunde Gesicht, den gleichen südländischen Einschlag. Und, das war natürlich der Clou des Abends, das exakt gleiche schicke Sportoutfit. Der zweite Carlo, der in Wirklichkeit der erste war, sagte lachend ins Publikum: »Darf ich euch meinen Bruder vorstellen? Für die, die ihn noch nicht kennen: Matteo, der Direktor des Galenblick.«

Alle lachten. Die, die wie Kauz nichts von den Zwillingsbrüdern gewusst hatten, staunten.

»Im Übrigen«, ergänzte Carlo, »ist Matteo Bergsteiger und Bergführer. Einer der besten.«

Matteo winkte bescheiden ab.

»Er war auf dem Everest«, flüsterte einer der Teilnehmer, der in Kauz’ Nähe stand.

Der einzige erkennbare Unterschied zwischen den Zwillingen war die Frisur. Carlo hatte eine nicht übermäßig lange, aber immer noch wilde, struppige Berglermähne. Matteo trug sein Haar, wie es sich für einen Hoteldirektor gehörte, kürzer geschnitten. Für seinen Auftritt hatte er sich, damit die Täuschung gelang, wild verstrubbelt, jetzt strich er die Haare mit den Händen wieder glatt.

Da es nichts zu meckern gab und nichts zu wünschen übrigblieb, verabschiedete sich Matteo wieder. Es gab freundlichen Applaus für die kleine Show.

Carlo stellte nun seine Mitarbeiter vor. Zuerst einen älteren Sportartikelverkäufer mit Namen Noldi. Er hatte schütteres graues Haar und einen ebenso schütteren Schnurrbart. Noldi arbeite auch in der Werkstatt, sagte Carlo, und sei dort für das Wachsen und Präparieren der Skier zuständig. Auch die meisten Reparaturen führe er im Handumdrehen aus.

Dann winkte Carlo Zara nach vorne. Sie sei im Laden und im Büro seine rechte Hand und für die Administration der Kurse zuständig, erklärte er.

»Än Üsserschwiizeri«, lautete sein Kommentar, »aber keine Sorge, sie hat alles im Griff«, lachte er. Sie sei jetzt den zweiten Winter dabei und habe sich prima eingearbeitet. Viele wüssten ja, dass sie eine ausgezeichnete Langläuferin sei. Wann immer sie eine freie Stunde habe, sei sie auf der Loipe anzutreffen.

Die Skilehrer-Mannschaft trat auf. Neun Sportler, Frauen und Männer, junge und auch reifere, stellten sich neben Carlo auf. Der wollte eben anfangen, sie einzeln vorzustellen, da flüsterte Zara ihm etwas ins Ohr.

»Wirklich?«, fragte er und zählte wie zum Scherz die in einer Reihe dastehenden Skilehrer mit dem Finger ab. »Eins, zwei, drei, vier …«, lachte er dann, »da fehlt noch einer. Wo bleibt der denn?«

Wieder sagte ihm Zara etwas ins Ohr.

»Das darfst du laut sagen«, lachte Carlo erneut. Und zu den Teilnehmern gewandt, meinte er locker: »Eine fehlt, nicht einer. Wo ist sie, Björn?«, fragte Carlo jetzt.

Dieser, ein athletischer großgewachsener Mann, zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht«, sagte er und blickte um sich, »sie müsste längst hier sein.«

»Allerdings«, bestätigte Carlo. »Sorry, Sportsfreunde«, wandte er sich wieder an die Kursteilnehmer. »Eine unserer Skilehrerinnen, Fabienne, ist noch nicht da. Kein Problem, dann werde ich sie euch eben morgen früh vorstellen.«

Nach dem Apéro machte sich Kauz wieder auf den Weg zum Bahnhof. Es hatte erneut zu schneien begonnen, ein kalter Wind blies. Kauz zog sich die neu erstandene Skimütze über die Ohren. Er näherte sich der gedeckten Rottenbrücke, da hörte er plötzlich etwas Unerwartetes: Kuhglocken! Es klang wie ein Alpaufzug. Doch halt, das war kein normales Kuhglockengeläut! Was war das?

Treicheln! Da wurden Treicheln, nicht Glocken geschwungen, von Menschenhand. Rhythmisch und kraftvoll. Feierliche Töne mit einem fast unheimlichen Beiklang.

Es war acht Uhr abends vorbei und stockdunkel. Kauz stand jetzt auf der alten Holzbrücke und blickte dorfaufwärts, dorthin, woher die Treicheln tönten, in Richtung Kirche. Das Treicheln kam näher, doch noch war nichts zu sehen. Kauz ging weiter. Ein paar Neugierige, die wie er der Dinge harrten, säumten die Dorfstraße.

Auf einmal war Bewegung im Unterdorf. Die Speicher, die Stadel und Ställe wurden flüchtig erleuchtet, Schatten flackerten über die Holzwände. Und jetzt kam sie um die Biegung, beim großen, dreihundertjährigen Stadel: eine Art Prozession. Eine Schar von vielleicht drei Dutzend Männern, mehrheitlich jungen, in schwarzen Hosen und blauen Kutten, schwarze Zipfelmützen auf dem Kopf. Sie gingen, von der Kirche herkommend, im Gleichschritt unterdorfabwärts, auf die Brücke zu. Jeder trug an seinem Hüftriemen eine große Treichel vor sich her. Mit jedem Schritt ertönte der Treichelklang. Fackelträger in weißen Kutten begleiteten den Zug. An der Spitze schritt ein strenger Mann, wie ein Bischof gekleidet. Ein hölzernes Gerät in der Hand, das er in der Luft auf- und niederschlug, gab er den Takt vor. Die Männer blickten, ganz aufs Treicheln konzentriert, vor sich auf den Boden.

Keine Menschenstimme war zu hören.

Kauz lief ein Schauer über den Rücken. Das Ganze wirkte auf ihn feierlich, ja fast mystisch.

»Was ist das?«, fragte er flüsternd eine alte Frau, die wie er auf der Brücke stehen geblieben war.

»Was das ischt? He, deich Santigleistrichjiär«, gab sie zurück.

Es dauerte einen Augenblick, bis Kauz verstand: Santigleis musste so viel wie Sankt Nikolaus heißen, Trichjiä, das waren natürlich die Treicheln, das Treichelschwingen. Und Trichjiär waren die Männer mit den Treicheln, die Treichelträger. »Aber heute ist doch der fünfte, nicht der sechste Dezember«, wandte er ein. »Der Sankt Nikolaustag ist erst morgen.«

 

»Bi insch nit«, sagte die Frau kurz. Hier im Goms werde der Heilige Nikolaus eben am fünften gefeiert.

Er erfuhr, dass der Umzug durchs ganze Dorf führte, auch nach Gluringen, und dass er mehrere Stunden dauerte. Dafür wurden die Männer unterwegs mit warmem Wein und zum Abschluss des feierlichen Umzugs um Mitternacht mit einer herzhaften Suppe verköstigt. Die Frau wurde langsam warm mit ihm. Sie sagte, dass am Nachmittag das Santigleistrichjiä der Kinder stattgefunden habe, wie in den anderen Dörfern des Goms auch. Aber in keinem der umliegenden Dörfer, außer in der Grafschaft, gebe es nachts diesen Umzug der Männer.

»Nummä bi insch, z Reckigä«, sagte sie stolz.

Kauz sah den Treichlern und Fackelträgern nach, bis sie hinter dem Galenblick in der Dunkelheit verschwanden und weiter Richtung Stalenkapelle zogen. Die Trichjiär waren noch lange zu hören.

Donnerstag, 6. Dezember

Der Langlaufunterricht sollte punkt zehn Uhr beginnen. Kauz war eine Viertelstunde früher erschienen – Hund Max hatte er im Speicher zurückgelassen – und reihte sich aufgrund seiner Selbsteinschätzung bei den Anfängern des klassischen Stils ein.

Carlo Steffen stand draußen vor der Schule und gab, Zara an seiner Seite, den Langlauflehrern letzte Anweisungen. Kauz’ Klasse stand am nächsten bei der Gruppe.

»Nein«, hörte Kauz eine Stimme, »sie ist nicht da.«

Er sah auf: Björn, der Skilehrer, den Carlo gestern angesprochen hatte, schüttelte besorgt den Kopf. Er sah übernächtigt aus.

»Zara, was machen wir jetzt?«, fragte Carlo.

Zara gab im Flüsterton Antwort.

Carlo sah sie einen Augenblick überrascht an. Dann sagte er: »Gut gemacht. Danke.«

Jetzt wandte er sich den wartenden Kursteilnehmern zu.

»Güätä Tag!«, rief er über das Schneefeld neben der Loipe, auf dem sich die Kursteilnehmer aufgestellt hatten. »Gut geschlafen?«

Ein beifälliges Raunen war die Antwort.

»Seht euch den Neuschnee an! Ist das nicht ein Geschenk?!«, rief er weiter, machte eine weitausholende Geste und blickte nach oben. »Und blauer Himmel. In einer Stunde haben wir Sonnenschein! Ähm«, machte er und räusperte sich, »es gibt eine kleine Änderung bei den Instruktoren, die euch unterrichten. Fabienne, die die Klassisch-Anfänger betreut, fällt leider aus. Aber wir haben vollwertigen Ersatz: Nik springt ein, einer unserer, ähm«, an dieser Stelle räusperte sich Carlo, »einer unserer ehemaligen Instruktoren. Einige kennen ihn vielleicht von früher. Er wird gleich hier sein. Also dann, Sportsfreunde, einen schönen Tag wünsch ich euch!«

Die Skilehrer gingen zu ihren Klassen. Zara, die draußen stehen geblieben war, trat zur Anfängerklasse und sagte, in wenigen Augenblicken werde ihr Instruktor eintreffen.

»Bin schon da!«, rief da jemand. Ein jüngerer Mann, Typ Naturbursche und etwas außer Atem, gesellte sich zur Anfängerklasse.

»Ich bin Nik«, stellte er sich vor und drückte jedem die Hand. Er roch nach Stall.

Als der Unterricht am Mittag zu Ende war, nahm er Kauz beiseite. Er sei bei den Anfängern eigentlich falsch, meinte er. Seine Technik stamme zwar aus dem letzten Jahrhundert. Skiwandern nenne er so was, nicht Langlaufen.

»Aber du stehst sicher auf den Brettern und kommst zügig voran. Geh besser in die Mittelstufe. Dort machen sie in kurzer Zeit einen guten Langläufer aus dir.«

Kauz sah ihn zweifelnd an.

»Doch, doch, glaub mir. Das sehe ich.«

»Wenn du es sagst«, sagte Kauz und drückte Nik die Hand, »dann wechsle ich die Klasse. Schade, ich wäre gern bei dir geblieben. Danke für deine Tipps.«

»Ich behalte dich im Auge«, lachte Nik und verabschiedete ihn mit einer aufmunternden Handbewegung.

Mit ein paar wenigen Schlittschuhschritten war Nik bei den anderen Skilehrern, die jetzt Instruktoren hießen, wie Kauz schon gelernt hatte. Sie hatten sich vor der Schule versammelt und fragten gerade Björn aus. Der stand da, zuckte die Schultern und schüttelte nur immer wieder den Kopf.

Fabienne, die Skilehrerin, die gestern den Apéro verpasst hat, ist wohl krank, dachte Kauz. Oder verunfallt. Den Gesichtern nach zu schließen ging es um etwas Ernstes.

Kauz stieg aus der Bindung und schulterte die Skier. Er ging an den Skilehrern vorbei.

»Vermisst? Seit wann?«, fragte jemand.

»Seit gestern Nachmittag«, murmelte Björn.

Den Nachmittag verbrachte Kauz mit Max auf der Hundeloipe. Max hatte bald begriffen, dass er ihm nicht in die Quere kommen durfte. Der schwarze Hund tollte in angemessenem Abstand zur Spur durch den Schnee, preschte übermütig voraus und kam wieder zurückgerannt. Kauz versuchte indessen hartnäckig, Niks Anweisungen umzusetzen: Abstoßen!, hatte der gesagt, nicht die Füße vorwärtsschieben! In die Knie! Und wieder hoch! Oberkörper nach vorne! Aber das war einfacher gesagt als getan.

In regelmäßigen Abständen blieb er stehen und warf einen Schneeball, sodass Max etwas zu schnappen hatte. Der duckte sich jedes Mal sprungbereit und kläffte, bis der Schneeball flog, dann stob er hinterher und überschlug sich im Schnee, wenn er den zerberstenden Ball zu fassen kriegte.

Gegen Ende des Nachmittags waren beide ziemlich erschöpft. Da Kauz, wenn er Max dabeihatte, die normale Loipe meiden musste, nahm er mit ihm den Zug nach Münster. Vom Bahnhof ging er durchs Dorf, Richtung Lange Gasse.

»Kaffemili« – Kaffeemühle –, so war ein kleines Lokal angeschrieben, das Kauz bisher noch nie gesehen hatte. Das Café befand sich in einem alten Holzhaus, mitten im Dorf, nicht weit von der Margarethenkapelle. Ein Café in Münster, das ist ja was Neues!, staunte Kauz. Das hat bisher gefehlt. Gepflegt dinieren konnte man in der Auberge – Relais et Auberge du Sauvage lautete der volle Name des noblen Hauses –, und selbstverständlich wurde dort nach dem Essen Kaffee und Kuchen serviert. Aber wer bloß eine Tasse Kaffee trinken wollte, der suchte den Gommereggä, eine andere Dorfbeiz oder eines der Hotels am Dorfrand auf. Dort musste er sich wohl oder übel mit den Biertrinkern abfinden. Kaffee und Kuchen, das war in Münster ein bisher unbekanntes Angebot. Kauz wollte gerade das Lokal betreten, da tippte ihn jemand auf die Schulter.

»Bischäs dü, Chüzz?«

Er wandte sich um. Ria Ritz stand in voller Polizeimontur da, das Haar unter der Uniformmütze wie gewohnt zum Pferdeschwanz gebunden. Sie lachte ihn breit an.

»Du bist also wieder hier. Und treibst Sport?«, spöttelte sie. »Wusste ich gar nicht.«

Sie begrüßten sich herzlich. Die Art, wie sie im Sommer beim Mordfall Imfang zusammengearbeitet hatten, war der Beginn einer echten Freundschaft gewesen.

»Und du?«, fragte Kauz. »Dienstlich hier?«

»Richtig«, bestätigte sie, »ich muss einer Vermisstmeldung nachgehen.«

»Die Skilehrerin? Fabienne, oder? Die wird wohl seit gestern Nachmittag vermisst …«

»Woher weißt du das?«, fragte Ria.

»Ich habe da was aufgeschnappt. Ich mache nämlich einen Langlaufkurs.«

»Bei Carlo Steffen?«

»Genau.«

»Ach so. Na gut, wenn du es schon weißt: Ja, Fabienne Bacher wird vermisst. Seit gestern Abend spurlos verschwunden. Ihr Mann …«

»Björn?«

»Donnerwetter, Chüzz. Ja, Björn hat sie gestern Nacht als vermisst gemeldet. Zuerst dachte er, sie sei ins Unterland gefahren. Dachten wir auch, es war das Naheliegendste. Das Paar hatte einen Streit. Aber das behältst du für dich, klar?«

»Klar.«

»Dort war sie aber nicht. Auch bei ihren Eltern, bei Freunden und Bekannten nicht. Also haben wir noch in der Nacht eine Rettungskolonne losgeschickt – ohne genau zu wissen, wo suchen. Wir fürchten das Schlimmste: dass sie vielleicht verunfallt ist und irgendwo im Schnee liegt …«

»Dann wäre sie erfroren. Es war sehr kalt in der letzten Nacht.«

»Eben«, sagte Ria mit besorgtem Gesicht. »Jetzt muss ich noch mal mit diesem Björn reden. – Aber wir sehen uns, nicht wahr? Wie lang bleibst du im Goms?«

»Bis Ende Jahr.«

»Wunderbar! Da liegt mehr als ein Treffen drin.«

»Grüß mir Thomas.«

»Klar. Er wird sich freuen.«

»Und die kleine Emma.«

Kauz war im Sommer bei der Familie Ritz-Abgottspon ein und aus gegangen.

»Tschau«, sagte Ria herzlich und ging.

Kauz betrat die Kaffemili. Es war erst vier Uhr nachmittags, zu früh für ein Feierabendbier, gerade richtig für Kaffee und Kuchen. Kaffemili, das klang nach frisch gebrühtem Filterkaffee. Er zog die Tür hinter sich zu und schaute sich um: ein schnuckeliges, altmodisch eingerichtetes Lokal mit ein paar kleineren Tischchen, darauf gehäkelte Tischdecken. In einem Erker stand ein runder Tisch, an dem fünf Gäste Platz hatten. Kauz staunte nicht schlecht, als er die Frau hinter der Theke an einer riesigen modernen Kolbenmaschine hantieren sah.

Italienisches Modell vom Feinsten, staunte er, das Ding könnte in einer italienischen Bar stehen. Espresso aus einer solchen Maschine, das dürfte im Goms einmalig sein.

»Darf ich den Hund reinnehmen?«, fragte Kauz.

Die Frau wandte sich um. Eine kleine Person mit kurzen braunen Haaren, die er in Münster noch nie gesehen hatte. Sie war hochschwanger, ihr Bauch kugelrund.

»Lieber nicht«, sagte sie. »Nasse Hunde stinken.« Doch dann schien sie es sich anders zu überlegen, es waren ja noch kaum Gäste da. »Ach, egal«, sagte sie. »Kommt herein. Wenn jemand reklamiert …«

»… dann gehen wir wieder«, kam ihr Kauz zuvor. »Da gibt’s ja richtigen Espresso!«, sagte er und zeigte anerkennend auf die Maschine.

Die Frau strahlte. Die Maschine war offensichtlich ihr ganzer Stolz. »Nicht nur das«, sagte sie. »Auch Ristretto, Macchiato, Cappuccino, Lungo, alles, was du willst.« Damit war klar, dass die Frau ihre Gäste duzte. »Und hausgemachten Kuchen haben wir auch«, fuhr sie fort. Sie zeigte auf die Theke, auf der ein halbes Dutzend Kuchen und Torten standen. Sie waren angeschnitten, sodass man ihr Innenleben sehen konnte, und mit einer durchsichtigen Haube abgedeckt.

»Einen Ristretto, bitte. Und ein Stück von dem da«, er zeigte auf einen flachen, gelblichen Kuchen auf der Theke.

»Zitronentarte? Gern. Die wird dir garantiert schmecken.«

»Seit wann gibt’s denn das Lokal?«, fragte Kauz, als die Frau die Sachen auftischte.

»Das zweite Jahr.«

»Wirklich? Das habe ich gar nicht mitbekommen.«

»Warst du im letzten Winter nicht hier?«

»Nein, nur im Sommer und Herbst.«

»Aha, darum. Wir haben nur im Winter offen. Von Dezember bis März. In der übrigen Zeit würde das Geschäft kaum gehen. Wenn es einmal richtig angelaufen ist, öffnen wir vielleicht auch während der Sommer- und der Herbstferien.«

»Die Gommer haben wohl keine Zeit für Kaffee und Kuchen? Nur die Touristen.«

»So ist es«, lachte die Frau. »Und zu denen gehörst du doch, oder? Er stinkt gar nicht so schlimm«, fuhr sie fort und zeigte auf Max, der sich unter Kauz’ Tischchen gelegt hatte.

»Du bist ja auch keine Gommerin«, erwiderte Kauz, denn die Frau sprach nur gebrochen Wallissertitsch. »Kommst du aus Österreich?«

»Nein, aus dem Südtirol. Aber ich lebe seit drei Jahren im Goms.«

»Ach so! Aus Italien, jetzt ist alles klar. Ich habe mich schon über die tolle Espressomaschine gewundert.«

Kauz plauderte noch eine Weile mit der jungen Frau. Sie hieß Mimi und war seit drei Jahren mit einem Bauern aus Reckingen verheiratet. Als gelernte Konditorin arbeitete sie zwar von Frühjahr bis Herbst auf dessen Hof, im Winter, wenn in Münster die meisten Gäste da waren, betrieb sie aber nachmittags die Kaffemili. Nachdem er den feinen Ristretto geschlürft und die köstliche Zitronentarte verdrückt hatte, ging er in die Lange Gasse und blieb vor seinem kleinen Speicher stehen. Meistens dachte er – und manchmal sagte er tatsächlich – mein Speicher, obwohl es doch der Speicher seines Freundes Wendel Imfang gewesen und jetzt, wo er tot war, der seiner Mutter war. Wendels Vater war im Herbst, nicht lange nach dem Tod des Sohnes, ebenfalls gestorben.

Er stand vor einem wahren Postkartensujet: Der Oberbau des Speichers ruhte auf acht Steinplatten, die ihrerseits auf hölzernen, auf den Unterbau gesetzten Stadelbeinen standen. Durch den freien Raum zwischen Ober- und Unterbau hindurch sah Kauz direkt aufs Weisshorn. Der Berg war auch am heutigen Abend dunkel umwölkt.

 

Wenn die Suchtrupps die vermisste Fabienne noch nicht gefunden haben, dachte Kauz, dann besteht keine große Hoffnung, dass sie noch am Leben ist. Es sei denn, sie liegt gar nicht draußen im Wald oder neben der Loipe, sondern sitzt im Unterwallis oder sonst irgendwo gemütlich bei einer Tasse Kaffee oder einem Glas Wein. Oder sie liegt in einem fremden Bett unter der warmen Decke. Als Kriminalpolizist hatte er schon die kuriosesten Auflösungen einer Vermisstmeldung erlebt.

Max hockte sich geduldig auf den Küchenboden, bis Kauz den Napf füllte. Dann machte er sich über sein Futter her.

»Nicht so gierig!«, brummte Kauz.

Er holte die Sachen, die er fürs Abendessen vorgesehen hatte, und legte sie auf den Küchentisch: Polenta vom Vortag, eine Birne, ein Stück Gorgonzola, Crème fraîche und die passenden Gewürze. Nur wenn er schlecht drauf war, ließ er sich gehen und verdrückte eine Fertigmahlzeit oder ein Schinkenbrot. Normalerweise kochte er sich etwas Anständiges, das war eine Frage der Selbstachtung. Nichts Aufwendiges, überkandidelte und exotische Gerichte waren nicht sein Ding. Er war ein Freund der einheimischen und italienischen Küche, von einfachen, mit Liebe zubereiteten Gerichten. Er öffnete die Flasche Amigne, die er kühl gestellt hatte, und goss sich ein Glas ein.

Hund Max scheuerte sich im leeren Napf fast die Zunge wund, um Kauz zu demonstrieren, dass er noch immer hungrig war.

»Nichts da! Mehr gibt’s nicht«, sagte Kauz und streckte ihm ein Hundebiskuit hin. Max schnappte sich den Bissen und schlang ihn hinunter.

»He!«, rief Kauz. »Nicht so gierig. Das war eine Delikatesse! Was glaubst du denn?«

Max leckte sich das Maul, hockte sich hin und schaute Kauz mit schräg gelegtem Kopf erwartungsvoll an.

»Jetzt ist aber Schluss«, sagte Kauz, gab ihm aber doch noch ein Biskuit. Er wusch sich die Hände, schälte die Birne, schnitt sie klein, karamellisierte die Stücke in einem Pfännchen auf dem Campinggaskocher neben dem Schüttstein, löschte mit einem Schluck Weißwein ab und ließ alles ein Weilchen köcheln. Dann drückte er die Reste der Polenta vom Vortag flach und schnitt sie in quadratische Stücke. Die gab er in eine feuerfeste Schüssel, legte den in Würfel geschnittenen Gorgonzola darauf, streute Thymian darüber und pfefferte kräftig. Dann platzierte er auf jeder Polentaschnitte eine Portion Birnenkompott und einen Klacks Crème fraîche und schob alles in das Backfach des Ofens. Darunter loderte hinter einer Glastür das Holzfeuer.

Gut geschützt in einem Windlicht stand eine Kerze auf dem Küchentisch, die zündete er an. Er schloss sein Smartphone an den kleinen Verstärker an, den er im Sommer installiert hatte, und tippte auf eines seiner Lieblingsalben.

Come Rain or Come Sunshine, sang die unforgettable Billie Holiday aus den kleinen, aber feinen Boxen. Blues und alter Jazz war das, was Kauz am Feierabend hören wollte. Anders als in seiner mit skandinavischen Möbeln eingerichteten Dreizimmerwohnung im Zürcher Stadtquartier Altstetten war in der spartanischen Küche seines Gommer Schpiichärs kein Lounge Chair, in den er sich fläzen konnte. So setzte er sich auf einen der zwei stabilen Holzstühle am Küchentisch, kippte ihn, nahe genug an der getäferten Wand, sodass er nicht rücklings umstürzen konnte, nach hinten, wippte vor und zurück und legte dann die Füße auf die Sitzfläche des zweiten Stuhls. In dieser halb sitzenden, halb liegenden Stellung, eingelullt von seiner Lieblingsmusik, schaute er in den Schein der Kerze.

Der perfekte Feierabend!, sinnierte er. Er dachte an Wendel und an die traurigen ersten Tage seiner Sommerferien zurück. Als das Essen fertig war, tischte er für sich selber auf, stellte das dampfend heiße Gericht auf den Tisch und setzte sich. Er war mit seiner Improvisation zufrieden: Die Polenta schmeckte sogar besser als am Vortag, die Birnenstücke hatten gerade noch etwas Biss und die Verbindung der Geschmacksnuancen salzig und süß, würzig und mild machte ihn geradezu glücklich. Auch der Amigne passte perfekt dazu. Nachdem er den Tisch abgeräumt hatte, lehnte er sich wieder zurück und wippte in seinem Schaukelstuhl hin und her. Die Füße, die in wollenen Socken steckten, legte er jetzt auf den Küchentisch und hörte das Billie-Holiday-Album zu Ende. Nachdem er Max kurz Gassi geführt hatte, stieg er mit dem Hund in den Oberbau hinauf.

Max legte sich in seinen Korb in der Ecke, Kauz setzte sich ans Fensterbrett seiner Schlafkammer und nahm die Kamera zur Hand. Auf seinem Winterspaziergang am Vortag hatte er einige Landschaftsbilder geschossen. Er betrachtete die Schwarz-Weiß-Bilder auf dem Kameradisplay. Mit dem Galenstock im letzten Abendlicht und mit der Nebelbank in der Rottenebene war er recht zufrieden. Die Sturmstimmung talabwärts mit dem gerade noch sichtbaren, umwölkten Weisshorn hatte er gut eingefangen. Er löschte die Bilder, die ihm nicht gefielen, und sicherte einige, die ihm besonders gelungen schienen. Er ging auf dem Display weiter zurück und schaute sich auch die Bilder von der skurrilen, sommerlichen Winterlandschaft mit dem unnatürlichen weißen Band in der Talsohle an. Diese Bilder erfreuten zwar nicht das Herz, aber sie waren eine gelungene Dokumentation der Realität.

Letzten Sommer, als er nach seiner unerwarteten Freistellung bei der Zürcher Kriminalpolizei Hals über Kopf ins Goms geflüchtet war, hatte er die fast in Vergessenheit geratene Freizeitbeschäftigung der digitalen Schwarz-Weiß-Fotografie wiederbelebt. Seither ging er im Goms kaum ohne Kamera ins Freie. Zum Langlaufen nahm er das sperrige Ding natürlich nicht mit, da begnügte er sich mit dem Fotografieren per Smartphone.