Das Dorf Band 21: Primo in der Kugelwelt

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Das Dorf Band 21: Primo in der Kugelwelt
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Karl Olsberg

Das Dorf

Band 21:

Primo in der Kugelwelt

Copyright 2021 Karl Olsberg

Published by Karl Olsberg

c/o Briends GmbH, 22041 Hamburg

www.karlolsberg.de

Minecraft ®/TM & © 2009-2021 Mojang / Notch. Dies ist kein offizielles Lizenzprodukt. Der Autor ist mit Mojang nicht verbunden.

Wir sitzen alle auf einer Kugel,

und von der kann keiner runterspringen.

Ulf Merbold, Astronaut


1. Seelentausch

„Jetzt reicht es mir!“, schimpft Golina, während sie auf dem Boden kriecht und Primos Schwert unter dem Bett hervorholt. „Immer lasst ihr euren Kram überall herumliegen, Nano und du. Und Paul versteckt auch ständig irgendwelche Knochen im ganzen Haus. Aber das macht ja nichts, Golina räumt ja alles hinterher wieder auf!“

„Na eben“, meint Primo, der auf einem Stuhl am Fenster sitzt und ein Buch liest. „Wo ist das Problem?“

„Wo das Problem ist?“, faucht Golina. „Das Problem ist, dass der Herr Primo es sich auf seinem Stuhl bequem macht und sich mit Büchern amüsiert, während ich die ganze Hausarbeit allein erledigen muss!“

„Moment mal!“, protestiert Primo. „Ich amüsiere mich nicht, ich lese Korrektur! Ich muss doch überprüfen, ob Anon meine Erlebnisse wahrheitsgetreu beschrieben hat.“

„Das Buch, das du da in der Hand hast, ist aber nicht von Anon“, widerspricht Golina.

„Ist es doch!“

„Ach ja? Und wieso steht dann nicht ‚Anon‘ auf dem Umschlag, sondern ‚Karl Olsberg‘?“

„Das ist sein Künstlername als Schriftsteller.“

„Wozu braucht er denn einen Künstlernamen?“

„Weiß ich auch nicht. Und jetzt lass mich bitte in Ruhe, Linchen. Ich kann mich nicht konzentrieren, wenn du die ganze Zeit mit mir redest.“

„Ach, störe ich den Herrn etwa? Das tut mir natürlich sehr leid!“, sagt Golina in sarkastischem Tonfall.

„Schon gut“, erwidert Primo ungerührt.

„Ist es denn wenigstens schön spannend, das Buch?“

„Ja, das ist es. Ich bin gerade an der Stelle, als Kolle und ich uns im Wald verirrt haben, damals, kurz bevor ich Willert zum ersten Mal traf. Puuh, wenn ich nur daran denke ...“

„Ich erinnere mich. Wir waren noch nicht befreundet, aber ich habe mitbekommen, welche Sorgen sich alle gemacht haben, als ihr beide im Wald verschwunden wart. Du hattest schon damals nichts als Unsinn im Kopf!“

Primo antwortet nicht. Er ist so in sein Buch vertieft, dass er Golina gar nicht wahrzunehmen scheint.

Sie seufzt. Während er ein Abenteuer nach dem anderen erlebt und die Zeit dazwischen größtenteils auf der faulen Haut liegt, muss sie das Haus in Ordnung halten, Essen kochen, das Geschirr abräumen, Nano bei den Hausaufgaben helfen, den Wolf füttern und hin und wieder noch ihren Eltern auf dem Feld helfen. Und wenn Primo dann wieder mal in irgendwelchen selbstverschuldeten Schwierigkeiten steckt, ist sie es, die ihn aus dem Schlamassel holt. Aber davon steht bestimmt nichts in den Abenteuergeschichten, die Anon alias ‚Karl Olsberg‘ schreibt. Das ist einfach ungerecht!

Wenn sie doch nur einmal die Rolle mit Primo tauschen könnte! Er würde schon merken, dass es keinen Spaß macht, jeden Tag dieselben mühseligen Aufgaben zu erledigen, ohne dafür Dank oder Anerkennung zu bekommen. Vielleicht wüsste er dann mehr zu schätzen, was sie für ihn und Nano leistet.

Aber das ist natürlich ein unerfüllbarer Wunschtraum. Primo würde es nicht im Traum einfallen, an ihrer Stelle den Haushalt zu machen. Schließlich ist er ja der offizielle Dorfbeschützer und jetzt auch noch der Held in irgendwelchen Büchern. Kein Wunder, dass ihm das zu Kopf steigt!

Außerdem stellt er sich immer ziemlich ungeschickt an, wenn er versucht, ihr im Haushalt zu helfen, so dass sie hinterher die doppelte Arbeit hat. Vorgestern zum Beispiel hat sie ihn gebeten, etwas Milch von Hakun, dem Fleischer, zu holen. Er hat den vollen Eimer einfach auf den Boden gestellt statt oben auf das Regal. Daraufhin hat Paul, der Wolf, die Hälfte der Milch aufgeschlabbert und danach ist Nano über den Eimer gestolpert und hat den Rest über den ganzen Fußboden verschüttet, so dass Golina alles wieder aufwischen musste. Manchmal hat sie den Verdacht, dass Primo sich absichtlich so ungeschickt anstellt, damit sie ihn gar nicht erst um Hilfe bittet.

Vielleicht sollte sie selbst mal ein Buch schreiben, überlegt sie. Es könnte von einer tapferen Frau handeln, die sich mit einem ganzen Dorf voller Dummköpfe und Wichtigtuer herumschlagen muss. Einen Buchtitel hat sie auch schon: „Golina und der Faulpelz“.

Ein Klopfen an der Haustür reißt sie aus ihren Gedanken.

„Gehst du mal hin, Linchen?“, ruft Primo. „Ich kann gerade nicht.“

Golina holt tief Luft, um nicht vor Wut zu explodieren, geht zur Haustür und öffnet. Draußen stehen die Hexe Ruuna und ihr Freund Willert. Wie immer flattert Robinson, der Papagei, hinter ihnen in der Luft herum.

„Ich halt das nicht mehr aus!“, krächzt er. „Was soll der Quatsch?“

„Oh, hallo Ruuna, hallo Willert“, sagt Golina. „Es ist leider etwas unaufgeräumt. Ich hatte nicht mit Besuch gerechnet und so ganz allein schaffe ich es kaum, hier Ordnung zu halten.“

Den letzten Halbsatz sagt sie extra laut und blickt dabei in Primos Richtung, doch der ist immer noch in sein Buch vertieft und bekommt nichts davon mit.

„Wir wollen nicht stören“, sagt Ruuna. „Wir können gern ein anderes Mal wiederkommen.“

„Wir können nicht ein anderes Mal wiederkommen“, widerspricht Willert. „Wir wollen gern stören.“

„Aber nein, ihr stört nicht“, erwidert Golina verwirrt. „Kommt doch herein!“

Die beiden folgen ihr ins Haus.

„Hallo, Primo!“, sagt Ruuna.

„Mhm“, macht Primo, ohne aufzublicken.

„Was liest er denn da?“, fragt Willert. „Es scheint ja sehr spannend zu sein.“

„Ihr erinnert euch doch noch an Anon, den Bürgermeister?“, fragt Golina. „Er hat damit angefangen, Primos Abenteuer aufzuschreiben, und Primo sagt, er muss sie jetzt Korrektur lesen, damit er sicher ist, dass auch alles stimmt, was darinsteht.“

„Au ja!“, ruft Willert aufgeregt. „Komme ich auch darin vor? Komme ich auch darin vor?“

„Ja, ja, beruhige dich, du kommst bestimmt darin vor“, meint Ruuna.

Golina sieht die beiden verwirrt an. Irgendetwas ist merkwürdig an ihnen, aber sie kann nicht genau sagen, was es ist.

„Komme ich auch darin vor?“, krächzt Robinson.

„Na klar“, meint Willert. „Wir kommen alle darin vor. Sonst wäre es ja ein doofes Buch!“

„Ru... äh, Willert!“, ruft Ruuna. „Nimm dich mal zusammen. Wir sind hier schließlich zu Besuch!“

„Apropos Besuch“, sagt Golina. „Primo, klapp gefälligst das Buch zu und sag unseren Gästen guten Tag!“

Primo blickt auf. „Oh, hallo Ruuna. Hallo Willert. Was macht ihr denn hier?“

„Wir brauchen eure Hilfe“, sagt Ruuna. „Dringend.“

„Ach, so dringend auch wieder nicht“, widerspricht Willert. „Eigentlich ist es doch ganz lustig so, hihihi!“

„Für dich vielleicht!“, meint Ruuna.

„Was ist denn eigentlich heute mit euch beiden los?“, fragt Golina. „Ihr seid so ... anders!“

„Na ja, eigentlich sind wir nicht anders“, meint Ruuna.

„Wir sind nur sozusagen vertauscht“, ergänzt Willert und kichert.

„Vertauscht?“, wundert sich Golina. „Wie meinst du das?“

„Sie ist ich, und ich bin sie, sozusagen“, erklärt Willert.

„Was Ru... ich meine, was Willert meint, ist, dass wir einen Seelentausch gemacht haben“, fügt Ruuna hinzu.

„Was ist denn ein Seelentausch?“, will Primo wissen.

„Na, man tauscht seine Seelen, ist doch logisch“, sagt Willert. „Das geht ganz einfach. Man braucht dazu nur einen Seelentauschtrank zu trinken, dann tauscht man die Seele mit der nächsten Person.“

„Das heißt, du bist eigentlich gar nicht Willert, sondern Ruuna?“

„Sowohl als auch. Ich bin jetzt quasi Ruunert. Oder auch Willna.“

„Aha“, sagt Primo, obwohl er offensichtlich ebenso wenig verstanden hat, was das bedeutet, wie Golina.

„Ich bin Willert, aber im Körper von Ruuna“, erklärt Ruuna, oder Ruunert, oder Willna, oder wer auch immer es ist, der so aussieht wie die Hexe. „Das fühlt sich ganz schön merkwürdig an.“

„Ich finde es lustig, hihihi!“, kommentiert Willert.

„Für einen kurzen Moment ist es vielleicht lustig“, widerspricht die Hexe. „Aber das dauert jetzt schon viel zu lange. Deshalb sind wir hergekommen. Wir möchten euch bitten, uns zu helfen, wieder in unsere richtigen Körper zurückzukehren.“

„Und wie geht das?“, fragt Primo.

„Ganz einfach, wir müssen nur noch einmal einen Seelentauschtrank benutzen“, sagt Willert.

„Und warum tut ihr das dann nicht einfach?“

„Weil Ruuna ein heilloses Durcheinander angerichtet hat“, sagt Ruuna.

„Hab ich ... ich meine, hast du gar nicht“, widerspricht Willert. „Im Gegenteil, alles ist jetzt superordentlich!“

„Hab ich wohl!“, beharrt Ruuna. „Und was für eins!“

„Äh, ich kann da nicht ganz folgen“, sagt Golina.

„Dann komm am besten mit zu unserer Hütte“, meint Willert. „Folge uns einfach, dann kannst du uns besser folgen, hihihi!“

Ruuna rollt nur mit den Augen.

„Was ist mit dir?“, fragt Golina ihren Mann, der schon wieder die Nase in sein Buch gesteckt hat. „Kommst du auch mit und hilfst uns?“

„Geht ihr schon mal vor“, sagt der so genannte Dorfbeschützer. „Ich muss das hier noch kurz zu Ende lesen. Ich komme dann nach.“

 

Golina rollt nur mit den Augen.

2. Ordnung muss sein

Golina folgt Ruuna und Willert durch den Wald zu ihrer Hütte. Wie immer sitzt Budda, der Kugelwolf, reglos auf der Wiese. Ihn scheint wirklich nichts aus der Ruhe bringen zu können. Selbst, als Robinson zu ihm flattert und laut krächzt: „Klapp gefälligst das Buch zu und sag unseren Gästen guten Tag!“, rührt er sich nicht.

In der Hütte scheint alles normal zu sein. Das Chaos, das Ruuna angeblich angerichtet hat, ist auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Sogar Ruunas Labor im Keller wirkt ordentlicher als sonst. Vielleicht liegt es daran, dass alle ihre Glasflaschen nur Wasser enthalten und nicht verschiedenfarbige Flüssigkeiten wie sonst.

„Da siehst du es!“, sagt Ruuna.

„Was sehe ich?“, fragt Golina.

„Das Chaos, das Ru... das ich angerichtet habe!“

„Aber es sieht doch alles ordentlich aus.“

„Siehst du? Sie findet auch, dass es ordentlich ist“, sagt Willert.

„Es sieht vielleicht so aus“, meint Ruuna. „Aber das ist ja genau das Problem.“

„Ich verstehe das nicht“, gibt Golina zu. „Wenn etwas ordentlich aussieht, dann ist es doch auch ordentlich, oder nicht?“

„Auf den ersten Blick vielleicht. Aber wenn man etwas sucht, dann nicht unbedingt. Ich habe zum Beispiel keine Ahnung, wo der andere Seelentauschtrank ist, den Ru... den ich gebraut habe.“

„Wie sieht denn so ein Seelentauschtrank aus?“

„Violett mit einem leichten Grünstich“, erklärt Willert. „Normalerweise jedenfalls“, fügt er nach kurzem Zögern hinzu.

„Normalerweise?“, hakt Golina nach.

„Ruuna... ich meine, ich ... puuh, daran gewöhne ich mich wohl nie“, seufzt Ruuna. „Jedenfalls hatten Ruuna, also ich, und ich, ich meine Willert, Streit, weil hier unten wieder mal ein riesiges Durcheinander herrschte.“

„Gar nicht wahr“, widerspricht Willert. „Es war gar kein riesiges Durcheinander. Wenn überhaupt, dann höchstens ein mittelgroßes.“

„Ich... Ich meine, Willert, hat, äh, mir gesagt, dass ich aufräumen soll“, erzählt Ruuna. „Und da hat Ru... habe ich gedacht, es wäre eine gute Idee, wenn alle Tränke gleich aussähen, damit nicht alles immer so kunterbunt ist. Also hat sie, ich meine ich, einen Entfärbungstrank gebraut und ein bisschen davon in alle Glaskolben gefüllt. Und das Ergebnis siehst du jetzt.“

„Ordnung muss nun mal sein!“, fügt Willert hinzu.

„Was sind denn das für Tränke?“, fragt Golina.

„Zwei Stinktränke, ein Knalltrank, drei Heiltränke, ein Unsichtbarkeitstrank, ein Flugtrank, ein Lachtrank, ein Gifttrank und der Seelentauschtrank“, zählt Willert auf. „Du siehst, ich kenne mich total gut aus.“

„Ach ja?“, fragt Ruuna. „Weißt du denn auch, welcher Trank in welcher Flasche ist?“

„Also, die Stinktränke kann ich rausfinden, glaube ich“, erwidert Willert. „Und die anderen können wir ja einfach ausprobieren.“

„Moment mal“, wendet Golina ein. „Hast du nicht etwas von einem Gifttrank gesagt? Was passiert denn, wenn man den trinkt?“

„Dann stirbt man, ist doch logisch“, antwortet Willert.

„Also scheidet Ausprobieren aus“, stellt Golina fest. „Kannst du nicht einfach noch mal einen Seelentauschtrank brauen?“

„Ich?“, fragt Willert. „Ich bin doch keine Hexe! Frag Ruuna!“

„Ich weiß nicht, wie das geht“, meint Ruuna.

„Das ist doch ganz einfach“, erklärt Willert. „Du brauchst dazu nur eine Scheibe vergoldete Melone, etwas Glühsteinstaub und ein Stück Amethyst. Wasser dazu geben und auf niedrigster Stufe zehn Minuten köcheln lassen, dabei immer wieder umrühren. Am besten gekühlt genießen.“

„Wir haben aber keinen Amethyst mehr“, stellt Ruuna fest.

„Was ist denn das, Amethyst?“, fragt Golina.

„Das ist ein Kristall“, erklärt Ruuna. „Ich habe ihn neulich in einer Höhle gefunden, die ich zufällig entdeckt hatte. Eine sehr hübsche Höhle übrigens.“

„Was soll denn an Höhlen hübsch sein?“, fragt Golina.

Ruuna zuckt mit den Schultern. „Früher hab ich auch gedacht, Höhlen wären langweilig. Aber in letzter Zeit habe ich einige sehr schöne Höhlen entdeckt, manche voller Pflanzen und seltsamer Tiere, andere sehr groß, mit spitzen Steinen, die von der Decke hängen.“

„Aha“, meint Golina. „Und denkst du, du findest noch einmal so ein Stück Anarchist?“

„Amethyst“, korrigiert Ruuna. „Ich weiß nicht mehr, wo genau ich den gefunden habe. Ich wusste ja nicht, dass Ru... dass ich den für Zaubertränke gebrauchen kann, deshalb habe ich mir leider die Stelle nicht gemerkt. Es würde sicher lange dauern, noch einmal ein Stück davon zu finden.“

„Ich glaube, ich habe einen Stinktrank gefunden!“, ruft Willert dazwischen und hält stolz einen Glaskolben hoch. „Hier, wollt ihr mal riechen?“

„Nein, danke!“, erwidert Golina. „Wenn ich es richtig sehe, dann gibt es keinen anderen Ausweg, als noch einmal so ein Stück Ama... Ami... Dingsda zu suchen und einen neuen Seelentauschtrank zu brauen. Die farblosen Tränke solltet ihr besser wegschütten.“

„Wegschütten?“, fragt Willert. „Auf keinen Fall! Lieber kippe ich sie alle zusammen und gucke, was passiert.“

„Bloß nicht!“, protestiert Ruuna.

„Ich schlage vor, wir gehen zurück ins Dorf und bitten Primo, diesen Kristall für euch zu suchen“, meint Golina. „Schließlich ist er der Dorfbeschützer und auf diese Weise bekomme ich ihn endlich aus dem Haus ... ich meine, bekommt er endlich mal wieder frische Luft.“

„Gut“, meint Willert. „Aber die Tränke nehme ich sicherheitshalber mit.“

„Warum das denn?“, fragt Ruuna.

„Da ist Gift dabei, schon vergessen?“, erklärt Willert. „Und es sieht aus wie harmloses Wasser. Stell dir vor, spielende Kinder kommen in unsere Hütte, während wir nicht da sind, und trinken es. Sicher ist sicher!“

Golina nickt. Ihr Sohn Nano ist mit Margis Tochter Maffi noch bei Birta, der Priestergehilfin, zum Unterricht. Jedenfalls sollte er dort sein. Aber es wäre nicht das erste Mal, dass er den Unterricht schwänzt und stattdessen im Wald herumstreift. Willert, also eigentlich ja Ruuna, hat recht: Sicher ist sicher.

3. Der fremde Fremde

Als die drei ins Dorf zurückkehren, hören sie schon von weitem wildes Glockengebimmel.

„Was ist denn da schon wieder los?“, fragt Golina.

„Besser, wir sehen mal nach“, meint Ruuna.

„Au ja, das wird bestimmt lustig!“, fügt Willert hinzu.

Auf dem Platz vor der Kirche steht Olum, der Fischer, und läutet die Glocke.

„Was soll der Lärm?“, fragt Magolus, der gerade aus der Kirche kommt. „Wie soll ich denn bei diesem Krach schla... ich meine, beten?“

„Ein Fremder!“, ruft Olum. „Ich habe ihn genau gesehen!“

„Wo?“, fragt Golina.

„Da!“, ruft Hakun, der Fleischer, und zeigt die Dorfstraße entlang.

„Quatsch, da hinten“, widerspricht Olum und zeigt in Richtung des Flussufers.

„Nein, dort!“, entgegnet Hakun und zeigt erneut die Dorfstraße entlang.

„Woher willst du das wissen, du Dummkopf?“, empört sich Olum. „Du warst doch gar nicht dabei!“

„Selber Dummkopf!“, antwortet Hakun. „Ich weiß es, weil ich den Fremden sehen kann. Er kommt gerade die Dorfstraße entlang!“

Tatsächlich marschiert in diesem Moment ein Nasenloser mit schimmernder Rüstung auf sie zu. Im Nu bildet sich eine große Traube aus Dorfbewohnern. Ausgerechnet Primo ist jedoch nicht darunter.

„Ein Fremder!“, ruft Kaus, der Bauer.

„Ach wirklich?“, meint Hakun. „Was du nicht sagst!“

„Vielleicht kennen wir ihn ja“, spekuliert Birta, die mit Nano und Maffi herbeigeeilt ist.

„Spinnst du?“, meint Olum. „Wenn wir ihn kennen würden, wäre es doch kein Fremder!“

„Aber es waren schon mehrmals Fremde in unserem Dorf“, widerspricht Birta. „Wenn er einer von denen ist, dann kennen wir ihn und es wäre kein fremder Fremder, sondern ein bekannter Fremder.“

„Aha“, meint Olum, obwohl es nicht so aussieht, als hätte er verstanden, was Birta meint. „Aber woher sollen wir das wissen? Die Fremden sehen doch alle gleich aus.“

„Wir können ihn ja fragen“, schlägt Hakun vor.

„Aber er spricht doch unsere Sprache nicht, du Dummkopf!“, meint Olum.

„Wenn du mich noch einmal Dummkopf nennst, dann verkaufe ich dir keine Eier mehr!“

„Ha, wenn du mir keine Eier mehr verkaufst, dann verkaufe ich dir auch keine Fische!“

„Pah, wer will denn schon deine stinkenden Fische?“

„Ich geb’ dir gleich stinkende ...“

„Schluss jetzt!“, geht Golina dazwischen. „Nano, lauf schnell nach Hause und hol Papa! Sag ihm, dass ein Fremder hier ist und er sein däm..., äh, sein Buch zuklappen soll!“

„Ja, Mama.“ Nano flitzt los.

Der Fremde holt einen glitzernden Smaragd hervor und sagt etwas in seiner unverständlichen Sprache.

„Ich glaube, er will ein Stück leckeren Schweinebraten kaufen“, ruft Hakun. „Warte, Fremder, ich bin gleich zurück!“

Er rennt zu seinem Haus.

„Nein, er will bestimmt lieber einen Fisch, ganz frisch gefangen“, behauptet Olum. „Warte, Fremder, ich angele schnell einen für dich!“

Olum eilt zum Flussufer, um den vermeintlichen Wunsch des Fremden zu erfüllen. Auch die anderen Dorfbewohner rennen fort, um irgendetwas aufzutreiben, das sie dem Besucher für seinen Smaragd geben können. Der Fremde sieht ihnen verwirrt nach. Dann sagt er erneut etwas in seiner Sprache.

„Kann mir jemand einen Heiltrank verkaufen?“, krächzt Robinson, der anscheinend zuvor vom Durcheinander der Stimmen der Dorfbewohner überfordert war und die Sprache des Fremden deshalb erst jetzt übersetzt.

„Ja, ich“, ruft Willert.

Er hält dem Fremden einen Glaskolben hin.

„Das ist doch kein Heiltrank“, übersetzt Robinson die Worte des Fremden. „Das ist gewöhnliches Wasser.“

„Gar nicht wahr!“, widerspricht Willert. „Das ist ein Heiltrank. Er sieht nur anders aus.“

Golina fragt sich, woher er wissen will, dass in der Flasche tatsächlich ein Heiltrank ist und nicht ein Lachtrank oder womöglich das Gift. Aber sie hält sich aus der Diskussion lieber heraus.

Robinson krächzt die Übersetzung in Fremdensprache.

„Was ist das hier für ein seltsames Dorf?“, fragt der Besucher daraufhin. „Erst kommen alle angerannt, dann laufen sie wieder weg und jetzt habt ihr auch noch einen sprechenden Papagei! Auf was für einem seltsamen Server bin ich hier bloß gelandet?“

In diesem Moment kommen Nano und Primo hinzu, gefolgt von Kolle und Golinas bester Freundin Margi.

„Hallo Fremder!“, ruft Primo. „Ich sehe, du hast einen Smaragd. Hier, du kannst mein Buch dafür haben!“

Er hält das Buch mit seinen Abenteuern hoch. Golina rollt mit den Augen.

Der Fremde wirft einen kurzen Blick auf das Buch.

„Ich glaube, das hab’ ich schon“, übersetzt Robinson.

Primo sieht den Fremden verwirrt an. „Aber ...“, beginnt er.

„Hier, nimm lieber meinen Heiltrank!“, fordert Willert ihn auf.

„Lass den Blödsinn, Ru..., äh, Willert!“, meint Ruuna.

„Ich will kein Wasser, ich will einen Heiltrank!“, erklärt der Fremde.

„Aber das ist kein Wasser!“, behauptet Willert. „Es ist ein Heiltrank, ehrlich! Ich ... also Ruuna ... ich meine, als ich noch eine Hexe war, da hab’ ich einen Entfärbungstrank in alle Tränke gekippt. Aber das macht nichts, weil ich sie am Geruch erkennen kann. Der hier riecht nach Melone, also ist es eindeutig ein Heiltrank!“

Der Fremde sieht ihn verwirrt an. „Ihr seid die durchgeknalltesten Typen, die ich je auf einem Minecraft-Server getroffen habe“, gibt Robinson seine Worte wieder.

Er nimmt Willert den Glaskolben ab und hält ihn sich vors Gesicht. Doch da er keine Nase hat, kann er natürlich nichts riechen. Das vermutet Golina jedenfalls.

„Ach, was soll’s, ich kann ja mal probieren, ob es Wasser ist oder was anderes“, übersetzt Robinson. „Was soll schon passieren?“

Er setzt die Glasflasche an den Mund, während ihn Primo am Arm fasst.

„Willst du nicht doch lieber mein Buch kaufen?“, fragt er. „Es ist echt spannend, und selbst, wenn du schon ein Buch hast, kann ein zweites ...“

In diesem Moment trinkt der Fremde die Glasflasche aus. Dann passiert etwas sehr Merkwürdiges: Der Fremde und Primo sinken gleichzeitig ohnmächtig zu Boden.

„Uh, oh!“, meint Ruuna.

„Primo?“, ruft Golina erschrocken. „Primo!“

 

Gerade, als sie sich über ihn beugt, verschwindet der Fremde plötzlich, als hätte er sich in Luft aufgelöst.

„Primo!“, ruft Golina entsetzt, voller Angst, dass auch er verschwinden könnte. Doch das tut er zum Glück nicht. Sie rüttelt ihn an der Schulter, doch er rührt sich nicht.

„Was ... was hast du getan?“, fragt sie Willert.

Der guckt sie erschrocken an. „Ich? Gar nichts!“

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