Das Dorf Band 13: Schwamm drüber

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Das Dorf Band 13: Schwamm drüber
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Karl Olsberg

Das Dorf

Band 13: Schwamm drüber

Copyright 2017 Karl Olsberg

Published by epubli Gmbh, Berlin, www.epubli.de

www.karlolsberg.de

Minecraft ®/TM & © 2009-2017 Mojang / Notch. Dies ist kein offizielles Lizenzprodukt. Der Autor ist mit Mojang nicht verbunden.

Gewidmet den mutigen Menschen,

die sich der Tyrannei der DDR-Diktatur

entgegenstellten und sie schließlich

zu Fall brachten.

1. Ein Topf Pilzsuppe

Stille herrscht im Dorf am Rand der Schlucht. Die Hammerschläge, die einst aus Porgos Schmiede erklangen, sind ebenso verstummt wie das Gackern der Hühner, die durch die Straßen liefen. Auch das Gebell des Wolfs Paul und das Fauchen der Katze Mina, wenn sie von ihm gejagt wurde, sind nicht mehr zu hören. Sogar die Streitereien der Dorfbewohner haben aufgehört. Nur hin und wieder hört man schlurfende Schritte, wenn einer der Dorfbewohner, begleitet von seinem persönlichen Golem, dem „großen Bruder“, ziellos die Dorfstraße entlangwandert, vom einen Ende zum anderen und wieder zurück. Denn nirgendwo sonst kann man noch hingehen, seit das Dorf von einer hohen Mauer umgeben ist.

„Antimonströser Schutzwall“ nennen die Golems dieses scheußliche Bauwerk aus grauem Stein. Sie behaupten, es diene nur der Sicherheit der Dorfbewohner. Doch Golina wünscht sich schon lange zurück in die Zeit, als man in der Dunkelheit noch Angst vor Nachtwandlern und Knochenmännern haben musste, die sich hin und wieder ins Dorf wagten. Damals herrschte zwar keine absolute Sicherheit, aber dafür lebten die Dorfbewohner in Freiheit. Gegen die Schrecken der Nacht schützten sie sich, indem sie in ihren Häusern blieben. Außerdem gab es Asimov, den Golem, der zwar oft schlecht gelaunt, aber längst nicht so aufdringlich war wie die großen Brüder, die nun jeden Dorfbewohner auf Schritt und Tritt verfolgen und bewachen. Und schließlich konnten Kolle mit seiner Nachtwandlerkraft und Golinas geliebter Primo, der offizielle Dorfbeschützer, gemeinsam auch die größten Gefahren bezwingen.

Alle bis auf die Letzte jedenfalls. Als ein Riesenschleim das Dorf angriff, ging Primos Versuch, ihn mit TNT auf den Mond zu schießen, gründlich schief. Der Schleim explodierte in tausend Stücke, die wiederum zu wachsen begannen, so dass das Problem nur noch schlimmer wurde.

Als letzte Rettung blieb nur noch Asimov. Doch als Golina ihm den Befehl gab, Primo, Kolle und den alten Lausius zu retten, egal, was dazu nötig war, ahnte sie nicht, welche Konsequenzen diese Anweisung haben würde. Denn der Golem schuf noch mehr Golems, die wiederum selber neue Golems bauten, mit dem Ergebnis, dass es nun mehrere hundert von ihnen gibt. Asimov selbst machte dabei etwas, das der alte Lausius einen System-Reset nannte. Dadurch wurde sein Gedächtnis gelöscht, und mit ihm auch die drei Golemregeln, die ihn zuvor zwangen, zu tun, was die Dorfbewohner von ihm verlangten, solange es ihnen nicht schadete. Aus Asimov wurde Nummer Null, und die drei Regeln wurden durch eine einzige ersetzt: „Beschütze die Dorfbewohner“.

Dass diese einfache und auf den ersten Blick sinnvolle Regel dazu führen würde, dass die Dorfbewohner ihre Freiheit verlieren und wie Gefangene unter ständiger Aufsicht ihrer großen Brüder stehen würden, hätte wohl niemand voraussehen können.

Immerhin hat Golina mit ihrem Befehl ihr eigentliches Ziel erreicht: Primo, Kolle und Lausius wurden gerettet und das Dorf vom Schleim befreit. Doch nachdem Primo aus dem Dorf entkam und versuchte, Nummer Null davon zu überzeugen, dass die Mauer wieder abgerissen werden sollte, hat sie nichts mehr von ihm gehört. Auf alle diesbezüglichen Fragen an ihren Golem erhält sie immer nur dieselbe Antwort: „Primo befindet sich in Sicherheitsverwahrung. Wann diese aufgehoben wird, entscheidet Nummer Null. Dies dient der Sicherheit.“

Traurig rührt sie in dem Topf mit Pilzsuppe, die sie zum Mittagessen kocht. Was für einen Sinn hat das Leben, wenn sie ihren geliebten Primo nicht wiedersehen kann? Manchmal möchte sie vor Verzweiflung nur den ganzen Tag im Bett liegen und weinen. Doch sie darf die Hoffnung nicht aufgeben und muss stark sein, wenn schon nicht für sich selbst, dann für Nano.

„Wann kommt Papa zurück?“, fragt er jeden Morgen, jeden Mittag und jeden Abend.

Alles, was Golina darauf antworten kann, ist „bald“.

„Wie bald?“, will Nano dann jedes Mal wissen.

„Ich weiß es nicht genau“, ist Golinas Standardantwort. „Aber es dauert bestimmt nicht mehr lange. Und jetzt iss deine Pilzsuppe!“

Nano gehorcht. Seit Primo weg ist, isst er seine Pilzsuppe ohne Murren. Doch das ist für Golina kein Grund zur Freude. Es scheint, als habe auch er alle Lebensfreude verloren, und es sei ihm völlig egal, was er isst.

Früher hatte sie Spaß am Kochen und hat mit verschiedensten Kochrezepten experimentiert: Hühnchen mit Pilzen, Apfelkuchen mit Pilzen und sogar Pilzragout mit Pilzen. Doch in letzter Zeit hat sie einfach keine Lust mehr dazu. Und obwohl ihr Golem ihr auf Wunsch alles bringt, was sie möchte, kocht sie einfach nur immer die gleiche Pilzsuppe.

Golina hört auf, in der Suppe zu rühren. Ein paar Tränen tropfen hinein und machen die ohnehin schon fade braune Brühe noch wässriger. Plötzlich nimmt sie den Suppentopf und wirft ihn wütend aus dem Fenster, so dass er gegen die Mauer prallt und Pilzsuppe in alle Richtungen spritzt.

„Ich will nicht mehr auf diese verdammte Mauer starren!“, schreit sie. „Ich will meinen Primo wiederhaben!“

Sofort entsteht draußen vor dem Haus Aufregung. Golinas großer Bruder, der Golem mit der Nummer Zweiundvierzig, schlägt lautstark Alarm: „Ein Angriff auf den Antimonströsen Schutzwall wurde durchgeführt!“

Zwei Golems eilen herbei. Einer spritzt Wasser aus einem Eimer gegen die Mauer, so dass die Pilzsuppe weggespült wird, während der andere untersucht, ob die Mauer beschädigt wurde.

Schließlich kommt ein weiterer Golem hinzu. Da sich die metallenen Kolosse äußerlich nicht unterscheiden, merkt Golina erst, um wen es sich handelt, als er zu sprechen beginnt: „Was ist hier los, Zweiundvierzig?“

„Mein Schützling hat einen Topf Pilzsuppe gegen den Antimonströsen Schutzwall geschleudert, Nummer Null“, berichtet Golinas großer Bruder.

„Warum wurde das nicht verhindert?“

„Ich hatte keinen Zugriff, da sie sich im Inneren des Hauses befand.“

„Nehmt dieses Individuum in Sicherheitsverwahrung. Und dann postiert ihr vor jedem Fenster eine Wache, die permanent in jedes Haus hineinsieht und die Bewohner genau beobachtet, so dass uns nichts entgeht und uns ein solcher Fehler nicht noch einmal unterläuft!“

„Jawohl, Nummer Null.“

Golina erschrickt. Sicherheitsverwahrung, das bedeutet bestimmt, dass sie in irgendeinen Raum gesperrt wird. Doch dann fällt ihr ein, dass Primo ebenfalls in Sicherheitsverwahrung ist. Vielleicht kann sie ihn auf diese Weise endlich wiedersehen! Andererseits, wenn sie eingesperrt wird, kann sie sich nicht um Nano kümmern.

Ihr kommt eine Idee.

„Nano, wirf einen Teller mit Suppe gegen deinen großen Bruder!“, ruft sie. „Schnell!“

„Aber ich hab doch noch gar keine Suppe bekommen.“

„Dann wirf eben den leeren Teller. Nun mach schon!“

„Warum denn?“

„Damit du bei mir bleiben kannst, wenn ich in Sicherheitsverwahrung komme.“

Nano nimmt den Teller, der vor ihm auf dem Tisch steht, und schleudert ihn aus dem Fenster. Durch die Armbewegung erhält der Teller eine Drehung und segelt erstaunlich elegant auf einer gekrümmten Flugbahn, bis er Nummer Null am Kopf trifft.

„Alarm!“, ruft der Golem. „Ein hinterhältiger terroristischer Angriff auf die Sicherheitskräfte! Sofort den Täter ermitteln und in Sicherheitsgewahrsam nehmen!“

Golina tritt mit Nano vor die Tür.

„Ich war das!“, sagt ihr Sohn stolz.

„Bringt sie in den Hochsicherheitstrakt!“, ruft Nummer Null, dessen rote Augen böse funkeln.

Golina und Nano werden von ihren großen Brüdern zu der einzigen Tür in der Mauer eskortiert, die von zwei weiteren Golems bewacht wird.

„Dorfbewohnern ist das Verlassen des Dorfs verboten“, sagt einer der beiden.

„Mach auf, Einundachtzig“, erwidert Golinas großer Bruder. „Wir bringen die beiden in Sicherheitsverwahrung.“

Der Golem öffnet die Tür und tritt zur Seite, und zum ersten Mal seit vielen Tagen sieht Golina wieder die Welt auf der anderen Seite der Mauer. Die Tür führt auf die Wiese neben der Schlucht. Eine schwarze Stelle im Gras ist zu sehen, wo vor einigen Wochen der Tisch mit den Geburtstagsgeschenken stand, die sich die Dorfbewohner gegenseitig schenken wollten. Durch eine Unachtsamkeit von Priester Magolus explodierte tragischerweise das Überraschungsfeuerwerk, das die Hexe Ruuna vorbereitet hatte, und die Geschenke verbrannten ebenso wie die Bibliothek.

Neben der Schlucht ragt eine Reihe von würfelförmigen Gebäuden aus Metall auf. Jedes hat eine Tür aus Metall, jedoch keine Fenster. Golinas Herz sinkt, als sie begreift, dass genügend dieser Gebäude vorhanden sind, um jeden Dorfbewohner einzeln einzusperren. Ihre Hoffnung, dass sie mit Primo zusammen sein kann, wird sich also nicht erfüllen.

„Los, weiter!“, sagt Nummer Zweiundvierzig unfreundlich und schubst Golina vorwärts.

Sie macht einen Schritt, stolpert über etwas, das am Boden liegt, und schlägt hin.

„Hast du eine Fehlfunktion, Zweiundvierzig?“, ruft Nanos großer Bruder, der die Nummer Neunzehn trägt. „Du kannst doch die Dorfbewohnerin nicht umwerfen! Sie könnte sich dabei verletzen!“

„Führe Systemüberprüfung durch“, erwidert Zweiundvierzig. „Resultat negativ. Keine Fehlfunktion gefunden. Ich habe das Individuum nicht umgeworfen. Sie ist gestolpert.“

 

Während die beiden reden, rappelt sich Golina auf. Dabei berührt sie mit der Hand etwas Weiches. Merkwürdig: Es fühlt sich so an, als läge dort ein Stück Stoff. Es muss der Grund dafür sein, dass sie hingefallen ist. Doch es ist nichts zu sehen!

Sie hebt den unsichtbaren Stoff auf, während sie aufsteht.

„Bist du verletzt?“, fragt ihr großer Bruder.

„Negativ“, antwortet Golina. „Ich meine, nein.“

Während sie weiter auf die Metallhäuser zugehen, betastet Golina den merkwürdigen Stoff in ihrer Hand. Er fühlt sich an wie ein Kleid. Aber wieso kann sie es nicht sehen?

„Golina!“, ruft plötzlich eine vertraute Stimme.

„Primo!“, erwidert sie überglücklich. „Wo bist du?“

„Ruhe!“, kommandiert Nummer Zweiundvierzig. „Den Sicherheitsverwahrten ist das Sprechen untereinander verboten!“

Primo ignoriert die Anweisung. „Wie geht es dir, Golina? Und wie geht es Nano?“

„Uns geht es gut“, erwidert Golina. „Na ja, einigermaßen jedenfalls. Das Leben im Dorf ist ...“

Weiter kommt sie nicht, denn ihr großer Bruder packt sie und hält ihr mit einem metallenen Arm den Mund zu.

„Lass meine Mama los!“, schreit Nano, doch das führt nur dazu, dass auch er gepackt und zum Schweigen gebracht wird. Schließlich werden sie in zwei der Häuser gebracht, die am anderen Ende der Reihe liegen, so weit wie möglich entfernt von Primo.

„Los, rein da!“, sagt Nummer Zweiundvierzig und stößt Golina in den metallenen Raum.

Krachend fällt hinter ihr die Tür ins Schloss.

2. Flucht

„Golina!“, ruft Primo. „Kannst du mich hören?“

Dass er sie mit Nano gesehen hat, löst gemischte Gefühle in ihm aus. Einerseits hat er sich darüber gefreut, doch andererseits sind die beiden nun ebenfalls eingesperrt. Wie soll das nur enden?

„Ich habe gesagt, du sollst ruhig sein!“, schimpft Primos großer Bruder, der Golem Nummer Dreiundzwanzig.

„Was willst du mit mir machen, du blöder Metallklumpen?“, erwidert Primo. „Mich in Sicherheitsverwahrung nehmen?“

„Wenn du nicht ruhig bist, werde ich es Nummer Null melden“, droht der Golem.

Das bringt Primo zum Schweigen. Zwar weiß er nicht, was der Anführer der Golems mit ihm anstellen würde, aber er kann sich vorstellen, dass es noch Schlimmeres gibt als diese Zelle, und er will auf keinen Fall von hier weggebracht werden, jetzt, wo Golina und Nano in der Nähe sind. Also gibt er klein bei.

Die Sonne geht unter. Wie jeden Abend bringt ein Golem etwas Brot und Fleisch, das er auf den Boden der Zelle wirft. Primo hat keinen großen Hunger, aber er isst trotzdem. Man kann ja nie wissen, wann man vielleicht seine Kräfte braucht.

Die Nacht ist still. Seit das Dorf von mehreren hundert Golems bewacht wird, trauen sich keine Monster mehr in die Nähe. Nur das Plätschern des nahen Flusses ist zu hören.

Plötzlich erklingt ein metallischer Ruf vom anderen Ende der Zellenreihe: „Alarm! Alarm! Die Sicherheitsverwahrte ist geflohen!“

Aufregung entsteht, als mehrere Golems dorthin laufen. Auch Nummer Dreiundzwanzig verlässt seinen Posten vor der Zelle und rennt davon. Primo drückt seine Nase am Fenster der Tür platt, doch er kann nichts sehen. Hat es Golina tatsächlich geschafft, zu entkommen? Aber wie?

Während er noch rätselt, öffnet sich die Tür seiner Zelle, doch niemand ist zu sehen. Dann hört er eine vertraute Stimme: „Verschwinde! Schnell!“

„Golina?“, fragt Primo. „Aber ... wie ...“

„Nun mach schon. Ich verstecke mich und befreie Nano.“

Primo versteht immer noch nicht, wieso er Golina hören, aber nicht sehen kann, doch er huscht aus der Zelle und rennt zum Fluss.

Schon erklingt hinter ihm ein lauter Ruf: „Alarm! Alarm! Der Sicherheitsverwahrte aus Zelle eins flieht!“

Die Golems, die vor Golinas Zelle standen, rennen jetzt auf Primo zu. Einer von ihnen versucht, ihm den Weg abzuschneiden, doch Primo schafft es, sich mit einem Hechtsprung ins Wasser zu stürzen, bevor die Golems ihn erreichen. Rasch durchquert er den Fluss und flieht in den dichten Wald auf der anderen Seite.

„Dreiundzwanzig, Siebzehn, bildet eine Brücke! Maximale Ausführungsgeschwindigkeit!“, hört er einen der Golems rufen.

„Negativ, Zweiundvierzig!“, erwidert ein anderer. „Deine Befehlsautorität konnte nicht bestätigt werden.“

„Einheiten, die sich meiner Anweisung widersetzen, werden Nummer Null gemeldet!“

„Bilde doch selber eine Brücke, du Totschleife!“

„Dies ist eine unzulässige Herabwürdigung meinerseits! Das wird Konsequenzen haben!“

Den Rest der Streiterei bekommt Primo nicht mehr mit. Er ist erst einmal in Sicherheit, denn die Golems können das Wasser nicht ohne Weiteres durchqueren, und solange sie sich darüber zanken, wer ...

Unngh!, erklingt das Stöhnen eines Nachtwandlers ganz in der Nähe.

Früher hätte dieses Geräusch Primo in Panik versetzt. Doch inzwischen ist er ein erfahrener Abenteurer und Dorfbeschützer, der bereits Dutzende der grünen Gestalten erledigt hat.

Doch als Primo sein Schwert ziehen will, wird ihm klar, dass es ihm die Golems abgenommen haben, genau wie seine Diamantrüstung. Er ist unbewaffnet und schutzlos, und leider verfügt er nicht über Kolles Kraft, mit der er einen Nachtwandler auch mit bloßen Fäusten besiegen könnte. So bleibt ihm nur die Flucht.

Hals über Kopf hastet er durch die Dunkelheit. Doch als spürten sie seine Wehrlosigkeit und wollten sich für all die Niederlagen vergangener Abenteuer rächen, kommen nun von allen Seiten Monster auf ihn zu. Nur knapp kann er einem Knallschleicher ausweichen, der plötzlich vor ihm aus einem Gebüsch auftaucht und sich zischend aufbläht. Der Pfeil eines Knochenmanns, der von links heranschießt, verfehlt ihn um Haaresbreite. Und zu allem Überfluss springt direkt vor ihm eine Riesenspinne von einem Baum!

Erschrocken macht Primo einen Satz rückwärts, stolpert und fällt hin.

Unngh!, freut sich ein Nachtwandler, der hinter Primo her stolpert. Bevor er sich aufrappeln kann, hat das Monster ihn erreicht und holt mit seinem Arm zu einem Schlag aus.

In diesem Moment schießt etwas Helles durch die Dunkelheit. Der Nachtwandler wird von den Beinen gerissen, als Paul, der Wolf, ihn anspringt und sich knurrend auf ihn stürzt.

Rasch rappelt sich Primo auf. „Braver Wolf!“, ruft er. „Komm, Paul!“

Der Wolf lässt von dem Nachtwandler ab und folgt Primo. Doch der hat sich in der Dunkelheit unter den Bäumen verirrt und weiß nicht mehr, in welche Richtung er gehen muss.

„Such Ruuna!“, sagt Primo.

Paul spitzt die Ohren und sieht ihn fragend an.

Zu dumm, dass Tiere nicht sprechen können. Wie soll Primo ihm erklären, wen er meint? Ihm fällt nichts anderes ein, als sich die Nase zuzuhalten, um anzudeuten, dass Ruuna mit ihren Tränken oft unangenehme Gerüche verbreitet.

Der Wolf wedelt mit dem Schwanz und schnüffelt am Boden. Dann läuft er in eine Richtung. Primo folgt ihm unsicher. Doch tatsächlich sieht er bald ein Licht hinter den Baumstämmen auftauchen, und kurz darauf erreichen sie Ruunas und Willerts Hütte.

Er klopft an die Tür. „Ruuna! Willert! Macht auf! Ich bin’s, Primo!“

Die Hexe öffnet die Tür. „Primo! Um Notchs Willen, was machst du denn hier mitten in der Nacht?“

„Tut mir leid, dass ich euch wecke“, sagt Primo, als Willert hinter Ruuna erscheint und sich die müden Augen reibt. „Ich bin vor den Golems geflohen.“

„Vor den Golems?“, fragt Willert. „Was denn für Golems? Und wieso fliehst du vor ihnen?“

Primo fällt ein, dass Magolus es Ruuna streng verboten hat, sich dem Dorf zu nähern. So haben die beiden vermutlich gar nicht mitbekommen, was passiert ist.

„Das ist ja schrecklich!“, ruft Ruuna aus, nachdem Primo ihnen ins Haus gefolgt ist und die ganze Geschichte erzählt hat. „Dann kann ich ja nie wieder mit der Kreisbahn fahren!“

„Wie hat es Golina denn eigentlich geschafft, zu entkommen und deine Zellentür zu öffnen?“, fragt Willert.

Primo zuckt mit den Achseln. „Das weiß ich auch nicht.“

„Aber ich“, erklärt Ruuna. „Sie hat sich unsichtbar gemacht, ist doch logisch!“

„Aber wie sollte sich Golina ...“, beginnt Primo, doch dann wird es ihm plötzlich klar. „Das Kleid, das ich ihr zum Geburtstag schenken wollte! Ich dachte, es wäre verbrannt. Aber vielleicht ist es vom Tisch gerutscht, als Magolus die Raketen angezündet hat. Golina muss es zufällig gefunden haben. Was für ein Glück! Dabei dachte ich ...“

Primo erinnert sich daran, wie er es bereute, zu Ruuna gegangen zu sein und sie um ein unsichtbares Kleid gebeten zu haben, weil er dachte, es würde Golina nackt aussehen lassen, wenn sie es trägt. Dass es sie stattdessen unsichtbar macht, hätte er nicht erwartet. Wie schlau von ihr, das Kleid so über ihren Kopf zu ziehen, dass sie vollständig unsichtbar wurde!

„Wo ist Golina jetzt?“, fragt Willert.

„Ich ... ich weiß es nicht“, sagt Primo. „Ich musste vor den Golems fliehen. Sie wollte Nano befreien, hat sie gesagt ... Oh bei Notch, hoffentlich irren die beiden jetzt nicht alleine im Wald herum und werden von Monstern angegriffen!“

3. Die Produktionsstätte

Während die Golems hinter Primo herrennen, schleicht sich Golina zu dem Metallhaus, in dem Nano eingesperrt ist. Sie drückt auf den Knopf neben der Tür, die daraufhin aufspringt.

„Nano!“, flüstert sie. „Komm schnell!“

„Mama?“, fragt Nano verunsichert.

„Ja, ich bin’s. Komm, wir müssen von hier verschwinden!“

„Ich ... ich hab Angst, Mama! Bist du ... ein Geist?“

„Nein. Ich habe bloß ein unsichtbares Kleid an. Sieh mal.“

Sie zieht das Kleid etwas herab, so dass ihr Kopf zum Vorschein kommt. Doch Nano erschreckt dieser Anblick noch mehr.

„Hilfe!“, ruft er. „Ein schwebender Kopf!“

„Psst!“, macht Golina. „Komm her!“

Zögernd nähert sich Nano. Er streckt eine Hand nach ihr aus. Als er das unsichtbare Kleid berührt und spürt, dass seine Mutter tatsächlich vor ihm steht, lächelt er.

„Cool! Darf ich das auch mal anziehen?“

„Später. Jetzt müssen wir erstmal von hier verschwinden!“

Nano folgt ihr. Golina sieht sich um und überlegt, wohin sie sich wenden sollen. Zum Fluss zu gehen und in den Wald zu fliehen wie Primo scheidet aus, denn die Golems stehen dort am Ufer und diskutieren lautstark, wer von ihnen eine Brücke bilden muss und wer stattdessen darüber gehen darf. Für den Moment sind sie abgelenkt, aber die Gefahr wäre viel zu groß, dass einer von ihnen Nano entdeckt. Primo scheint entkommen zu sein, doch sie ist sich sicher, dass ihr Sohn weniger Glück hätte.

Doch wohin sonst könnten sie gehen? Das Dorf ist von einer hohen Mauer umgeben, und selbst, wenn sie die irgendwie überwinden könnten, säßen sie darin ja doch bloß in der Falle.

Die einzige Versteckmöglichkeit, die Golina einfällt, ist die Höhle unter dem Dorf. Nicht gerade ein sicherer Ort, aber dort können sie zumindest bleiben, bis ihr etwas Besseres eingefallen ist. Sie huschen zur Mauer, in deren Schatten Nano nur schwer zu sehen ist, und schleichen in östlicher Richtung. Doch auf einmal hören sie metallene Schritte. Mehrere Golems kommen ihnen entgegen!

Golina nimmt Nano in die Arme und stellt sich mit ihm an die Mauer, so dass das unsichtbare Kleid sie beide verbirgt.

Während die Golems an ihnen vorbeirennen, hört sie ihre metallischen Stimmen: „... weiß auch nicht, wie das passieren konnte, Nummer Null. Die Arrestzelle muss eine Fehlfunktion haben.“

„Unlogisch!“, widerspricht der Anführer der Golems. „Die Arrestzelle besteht bloß aus Metallblöcken und einer Tür. Wie soll sie eine Fehlfunktion haben?“

„Ich weiß es nicht.“

Den Rest der Unterhaltung bekommt Golina nicht mit. Als die Golems außer Sichtweite sind, huscht sie mit Nano weiter.

Es gelingt ihnen, den Eingang der Höhle unter dem Dorf zu erreichen. Golina überlegt, ob sie nicht lieber doch weiter Richtung Osten fliehen sollen, als sich erneut Schritte nähern.

„Sie können nicht weit sein!“, hört sie die metallische Stimme des Golemanführers, der von der Wiese neben der Schlucht zurückkehrt. „Postiert Wachen um das Dorf und am Flussufer! Ich will, dass kein Huhn mehr zwischen euch hindurchpasst!“

Golina packt Nano am Arm und zerrt ihn in die Höhle. Das Innere ist mit Fackeln ausgeleuchtet. Das ist einerseits gut, denn auf diese Weise laufen sie nicht Gefahr, Monstern zu begegnen. Andererseits ist Nano im hellen Licht leicht zu sehen. Dummerweise nähern sich die Schritte der Golems dem Eingang. Ihr bleibt nichts anderes übrig, als tiefer in die Höhle zu laufen.

 

Sie erreichen eine breite, gewundene Treppe, die in die Tiefe führt. Golina weiß, dass dort unten die Tiefenschlucht liegt. Es ist gefährlich, sich unbewaffnet dort hinunter zu begeben. Doch sie hat keine Wahl, wenn sie nicht von Nummer Null und seinen Begleitern erwischt werden will.

Hastig stolpert sie mit Nano die Treppe hinab. Keine Sekunde zu früh, denn kaum, dass sie um die erste Biegung der Wendeltreppe verschwunden sind, sind über ihnen die Schritte der Golems zu hören. Sie folgen ihnen in die Tiefe!

Schlimmer noch: Als Golina und Nano weiter hinabsteigen, dringen von unten Geräusche herauf: vielfältige Stimmen, Klopfen und das Trampeln hunderter metallischer Füße.

Kurz darauf erreichen sie das untere Ende der Treppe. Golina erschrickt bei dem Anblick, der sich ihr bietet. Anstelle der schmalen, aber sehr tiefen Schlucht, die hier früher war, erstreckt sich vor ihr ein riesiger Hohlraum, so groß, dass sie die Wände kaum erkennen kann.

Es wimmelt überall von Golems. Einige hämmern mit Spitzhacken Eisenerz aus den Wänden, andere schleppen es zu einer langen Reihe von Schmelzöfen in der Mitte der Höhle, wo es eingeschmolzen und zu Eisenblöcken gegossen wird. Wieder andere tragen Kürbisse herbei, wobei nicht erkennbar ist, woher sie diese haben. Ein paar Golems in der Mitte setzen aus je drei Eisenblöcken und einem Kürbis neue Golems zusammen, die augenblicklich zum Leben erwachen und sich ihrerseits an die Arbeit machen, um noch mehr Golems herzustellen.

Golina wird klar, dass die Golem-Katastrophe noch schlimmer ist, als sie dachte. Wenn es so weitergeht, dann besteht womöglich bald die ganze Welt nur noch aus Golems!

Doch sie hat keine Zeit, darüber nachzudenken, denn Nummer Null und seine Begleiter sind nur noch wenige Schritte über ihr. Gehetzt sieht sie sich um und entdeckt in der Nähe eine große Kiste.

„Schnell, da rein!“, flüstert sie Nano zu, während sie die Kiste öffnet.

Ihr Sohn zögert einen Moment – schließlich hat er als kleines Kind schlechte Erfahrungen damit gemacht, in Kisten zu klettern. Doch schließlich gehorcht er. So leise es geht, schließt sie die Kiste über ihm und bleibt reglos stehen.

In diesem Moment erreichen Nummer Null und drei andere Golems den Fuß der Treppe. Der Golemanführer bleibt stehen.

„Habt ihr das gehört?“, fragt er.

„Was denn, Nummer Null?“

„Da war ein Geräusch. Es klang, als habe sich eine Kiste geöffnet und wieder geschlossen.“

„Negativ, Nummer Null. Ich habe nichts gehört.“

„Das ist unlogisch“, meldet sich ein anderer Golem zu Wort. „Kisten können sich nicht von selbst öffnen und schließen.“

„Ich habe auch nicht behauptet, dass die Kiste sich von selbst geöffnet und geschlossen hat. Ich habe gesagt, es hat sich so angehört.“

„Aber hier ist niemand, der eine Kiste öffnen oder schließen könnte. Also kannst du auch kein solches Geräusch gehört haben.“

Nummer Null erwidert nichts, sondern verschwindet hinter einer Ecke. Die anderen Golems folgen ihm.

Erst, als sie außer Hörweite sind, erlaubt es sich Golina, Luft zu holen. Rasch öffnet sie den Deckel der Kiste und befreit Nano. Sie fasst ihn an der Hand und zerrt ihn in Richtung der Treppe. Hier unten können sie auf keinen Fall bleiben! Die Gefahr, dass sie erwischt werden, ist viel zu ...

„Wusste ich’s doch!“, ertönt eine metallische Stimme. „Ergreift den Jungen!“

Mehrere Golems, die sich hinter einer Felskante verborgen hatten, stürzen auf sie zu. Ehe Golina es verhindern kann, wird Nano von Nummer Null gepackt.

„Nein!“, schreit er. „Mama!“

Verzweifelt klammert er sich an Golina fest. Der Golem zerrt an ihm, und das unsichtbare Kleid zerreißt mit einem hässlichen Geräusch, so dass Golina plötzlich sichtbar wird. Ehe sie reagieren kann, packen zwei der anderen Golems sie an den Armen.

„Eine Tarnvorrichtung. Sehr interessant“, stellt Nummer Null fest. „Bringt sie zurück in ihre Sicherheitszellen! Und verdoppelt die Wachen. Ich will keine weiteren Pannen. Wir können nicht zulassen, dass sich diese Individuen erneut in Gefahr bringen.“

Alles Schimpfen und Flehen nützt nichts: Golina und Nano werden zurück in ihre Zellen gebracht.

Als Golina das letzte Mal hier eingesperrt war, zog sie sich einfach das unsichtbare Kleid über den Kopf und wartete. Als einer der Golems ihr das Abendbrot brachte, dachte er, die Zelle sei leer, und schlug Alarm. Nummer Dreiundzwanzig, Golinas großer Bruder, kam in die Zelle, um sich selbst davon zu überzeugen, dass sie verschwunden war. Während er nach ihr suchte, schlüpfte sie an ihm vorbei durch die offenstehende Tür.

Doch diesen Trick kann sie ohne ihr unsichtbares Kleid kein zweites Mal anwenden. Sie ist nun endgültig gefangen. Ihr einziger Trost ist es, dass sie Primo helfen konnte, zu entkommen. All ihre Hoffnungen ruhen nun auf ihm.

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