Grundlagen der Kunsttherapie

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Abb. 1: Die Sinne – Integration ihrer Reizeinwirkungen (Ayres 1984, 84)

Diese Studien orientieren sich zwar an der Entwicklungslehre Jean Piagets, aber sie argumentieren – und das ist das Neue daran – mit der nicht altersgemäßen Störung. Sie forschen der unter- oder überempfindlichen und somit potentiell pathologischen Reaktion des Kindes nach. Denn wo der grundlegende Zusammenhang von Reiz und Reflex gestört ist, ist der Weg in die geistige Behinderung oder Retardierung offen. Derartige Störungen können aber auch ein Hinweis auf eine organisch bedingte geistige Behinderung sein. Die Symptome der Wahrnehmungsstörung einerseits, der geistigen Behinderung andererseits sind keineswegs eindeutig, was die Diagnose umso schwerer macht. Da beide Phänomene jedoch von Anfang an verschiedener Behandlung bedürfen, trägt die Diagnose eine enorme Verantwortung. Denn bei einer Wahrnehmungsstörung ist eine entwicklungsanbahnende Behandlung angebracht, während im Falle einer geistigen Behinderung entwicklungskompensatorische Schritte eingeleitet werden müssen und Hoffnungen auf grundlegende Veränderungen fehl am Platz sind. Warum sich an die entwicklungsanbahnenden Maßnahmen die größeren Hoffnungen knüpfen, zeigen Abbildung 2 und 3.

Wahrnehmungsstörungen liegen immer dann vor, wenn die modalen, d. h. sinnesspezifischen Reize unangemessen aufgenommen, verarbeitet oder beantwortet werden. Eine falsche oder fehlende Verschaltung der Sinnesempfindungen sowie fehlende raum-zeitliche Orientierung lässt die Störung im Verlauf der Entwicklung umso komplexer werden. So kommt es zu modalen (sinnesspezifischen), intermodalen (sinnesverschalteten) oder serialen (sinneskontextualen) Wahrnehmungsstörungen, die auf der jeweiligen Stufe der Störung zu behandeln sind. Winfried Mall (1982) hat einen Fragebogen ausgearbeitet, der die Lücken in der sensumotorischen Wahrnehmungsentwicklung im Hinblick auf die therapeutische Förderung erfasst. Er erhebt en detail die modalen, intermodalen und serialen, die intentionalen und symbolhaften Tätigkeiten des Kindes. Mall hat darüber hinaus das Modell eines weiterführenden Entwicklungsberichts entworfen, der nicht nur die Anamnese des bisherigen kommunikativen, sozialen und emotionalen Verhaltens eines behinderten Kindes, sondern auch seine Sinnesausdrücklichkeit erfasst.


Abb. 2: Das Gehirn und seine Anpassung an neue Erfahrungen: Ein Affe, der 3 Monate lang Finger 2 und 3 (siehe c) gezielt bewegen muss, zeigt im Vergleich der entsprechenden Hirnareale (b = vorher, d = nachher), dass diejenigen, die die entsprechenden Finger repräsentieren, durch diese stimulierende Tätigkeit mehr verschaltet worden sind, geradezu ausufern (a zeigt die Gesamtansicht; Greenfields 1999, 147; Kandel/Hawkins o.J., 44).


Abb. 3:

a) Eine schlecht gelungene Integration früher Sinneswahrnehmung, die sich im Fehlen eines Körperschemas, einer integrierten Körper-Gestalt ausdrückt (René mit 6;5 Jahren).

b) Die gelungene Integration nach einer Phase der Sinnesförderung (René mit 8;11 Jahren). (Grissemann 1986, 70).

Georg Theunissen (1989, 194f.) gibt Beispiele für die praktische Anwendung eines solchen Entwicklungsfragebogens. Darin entspricht jedem Entwicklungsstand eine bestimmte Förderungsmaß-nahme. Zum Aufbau von Tast- und kinästhetischen Empfindungen schlägt er haptisch-taktile Stimulationen vor:

• Fingerspiele, Spiele mit den Händen: Hände vorsichtig öffnen und weiche oder harte Gegenstände hineinlegen;

• Fingerpuppen, hergestellt aus einfachsten Materialien wie Kartoffeln und Tüchern;

• Spiele mit selbst angefertigten Säckchen, die mit unterschiedlichen Materialien (Sand, Kieselsteine, Reis, Nudeln, Papier, Watte, Styropor, Blätter etc.) gefüllt sind, und die man tasten, knautschen, klopfen, drücken, werfen etc. kann.

Die haptisch-taktile und teilweise kinästhetische Stimulation soll die entsprechenden Empfindungsbereiche sensibilisieren und verschalten. Für das bildnerisch-ästhetische Arbeiten gelten entsprechende Vorschläge: freies Fingerfarbenmalen, zum Beispiel am Tisch, auf Tapetenbahnen am Boden, an der Wand, an großen Fensterscheiben, Fingerfarbenmalen mit Musikbegleitung, beidhändiges rhythmisches Malen, bimanuelles Malen mit dickflüssiger Farbe (Kleister-, Lehm-, Fingerfarbe), Handabdrücke herstellen, mit den Füßen malen usf. (Theunissen hat 2004 in seinem Buch „Kunst und geistige Behinderung“ seine Vorschläge erweitert.)

Die Absicht ist klar: Wir müssen das Zusammenwirken der verschiedenen Hirnbereiche in der Verarbeitung der einzelnen Sinnesreize beachten. Entsprechend müssen wir unsere Beobachtungen den verschiedenen Entwicklungsbereichen zuordnen und die Wahrnehmungsstörungen auf ihrer jeweiligen Stufe (modal-intermodal-serial) in deren Verschränktheiten beachten. Schließlich machen wir ein stimulierendes Angebot, das dem Bedarf des gestörten Kindes auf dem Stand seiner Entwicklung entspricht (Pfluger-Jakob 1994).

Aus den Beispielen Malls, Theunissens und Pfluger-Jakobs, die wir in ähnlicher Form auch in den Anweisungen zur Sinnesförderung bei Anneliese Augustin (1986, 1988) finden, lässt sich ein Gesamtkonzept für die basal-ästhetische Stimulation darstellen. Darin entspricht jedes ästhetische Material in seiner besonderen Psychodynamik einem spezifischen Entwicklungsstand des Kindes. So werden die Material- und Sinnesfunktionen in ihrer jeweiligen Form-, Farb- und Struktur -haftigkeit ins therapeutische Verhältnis gesetzt. Die Behandlung wahrnehmungsgestörter Kinder mit bildnerisch-ästhetischen Mitteln zielt darauf, die gehemmte Entwicklung im Sektor der Störung aufzugreifen und wieder in Bewegung zu bringen. Das Konzept der basalen Sinnesförderung wird inzwischen auch in der Rehabilitation von Demenzkranken eingesetzt. Wir werden ihm später wieder begegnen.

1.3 Trend im 21. Jahrhundert: mentale Repräsentation

Wir haben gesehen, wie die anfängliche philosophische Besinnung des 19. Jahrhunderts auf das, was wir uns einbilden, auf die sog. Einbildungskraft, es im 20. Jahrhundert möglich gemacht hat, über die Aneignung der Bilder nachzudenken. Wir haben gesehen, wie die Bildaneignung einerseits zu Erziehungszwecken didaktisiert wurde, wie Bilder zu erzieherischen, moralischen, religiösen Zwecken gebraucht, zuweilen missbraucht wurden. Andererseits wurde es im Gesundheitsbereich immer wichtiger, das Nichtvorhandensein oder das Gestörtsein der inneren Bilder, die Bild-Ausfälle zu analysieren, herauszufinden, warum Menschen Bildeindrücke vergessen, wahrnehmungsinadäquat verzerren, gestalthaft und symboleindrücklich verstellen. Die mentale Repräsentation oder Nicht-Repräsentation der Bilder deutet u. U. auf eine normal oder auf eine gestört abgelaufene Entwicklung hin, verweist auch auf neuronale Ausfälle, die es zu beheben, die es zu rehabilitieren gilt. Die mentale Repräsentation von Sinneseindrücken und leibhaften Gestaltmustern wurde zum großen Thema nicht nur der Entwicklungspsychologie. Sie eröffnete der Forschung der Neuropsychologie und der Neuropsychoanalyse des 21. Jahrhunderts ein Terrain, das möglicherweise die bislang eher getrennten tiefenpsychologisch-psychoanalytischen und kognitiv-psychologischen Hinsichten der inneren Bildproduktion vereinen wird (Kaplan-Solms / Solms 2005).

1.3.1 Kunsttherapie in der Rehabilitation Demenzkranker

Demenz ist ein Sammelbegriff. Er steht für Verlusterfahrungen, denen wir innerhalb und außerhalb der neurologischen Klinik begegnen. Diese Verlusterfahrungen rufen bei uns allen Ängste und Befürchtungen hervor. Der Begriff bezeichnet Konzentrations-, Aufmerksamkeits-, Gedächtnis-, Assoziations- und Affektstörungen, die sich reaktiv in Verwirrtheits-, Vergessens- und Desorientierungszuständen äußern, wobei letztere wiederum von Ängsten, Depressionen, Ohnmachtsgefühlen u. a. begleitet werden. Man unterscheidet drei Stadien der Demenz:

1. Stadium der Vergesslichkeit: Zerstreutheit, Konzentrationsstörungen, Erinnerungsprobleme, Wortfindungsprobleme, zeitliche Orientierungsprobleme, ängstliche, verzweifelte, depressive Reaktionen, die oft überspielt, verdrängt, verleugnet werden, sozialer Rückzug;

2. Stadium der Verwirrtheit: zeitliche, örtliche und situationsbezogene Orientierungsprobleme, zunehmende Erinnerungslücken, amnestische Aphasien, d. h. Wortfindungsstörungen, Sprachverstehensstörungen, Störungen der Urteilsfähigkeit, leichte bis schwere Gefühlsverunsicherungen bis zu Ausbrüchen und Panikattacken, gereizte, misstrauische, aggressive Reaktionen, zuweilen unverbindlich erscheinende Freundlichkeit;

3. Stadium der schweren Demenz: Langzeitgedächtnisstörungen, Wahrnehmungs-, Denk- und Sprachzerfall, paranoide Wahnideen, Störungen der Motorik, leicht entfachbare Erregungszustände, Verschwinden früherer Freundlichkeitsbekundungen (Theunissen 1999).

 

Ein Krankenhaus-Bericht: „Sein Denken war schwer, die hier mußten ihm etwas eingegeben haben, so daß er nicht mehr richtig denken konnte. Er wollte nach Hause gehen. Dies hier war nicht sein Zuhause. Daheim war seine Frau. Die würde ihm helfen. Mit langsamen Schritten schlurfte er aus seinem Zimmer, den Flur längs und dann die Treppe herunter. Die große Eingangstür war zu seiner Enttäuschung abgeschlossen. Er kam nicht heraus und rüttelte hilflos längere Zeit an der Türklinke. Dann stand er einige Zeit verloren in der Vorhalle und versuchte nachzudenken, was jetzt zu tun sei, bis er seinen Harndrang bemerkte. Er blickte sich nach einer Toilette um, fand aber keinen Hinweis. Was machte er eigentlich hier in diesem fremden Haus, wie war er hier hinein gekommen? Er konnte sich nicht entsinnen. Er hatte nicht nur vergessen, wo sein Zimmer war, sondern sogar, daß er hier überhaupt ein Zimmer hatte. Die Blase schmerzte, und davon angetrieben, schlurfte er in irgendeine Richtung.“ (Kasten 1999, Teil 9 / 2.2, 2)

Die dementiellen Funktionsstörungen können unterschiedlich bedingt sein: genetisch, traumatisch, infektiös, vaskulär, endokrinal oder degenerativ. Ursachen können ein durch einen Unfall erzeugtes Schädel-Hirn-Trauma (S-H-T), ein Schlaganfall (Apoplex), eine durch Transmitter-Unterversorgung erzeugte Parkinson-Erkrankung, ein von Gedächtnisschwund begleitetes Alzheimersyndrom, ein durch zu viel Alkohol bedingter Crash im Gehirn, das sog. Korsakow-Syndrom, oder Multiple Sklerose, eine degenerative Rückenmarks-Erkrankung sein.

Symptome der Demenz sind Störungen von Wiedererkennens-, Benennens-, Zuordnungs- und Funktionsleistungen: Agnosie (Bedeutungsverlust), Aphasie (Sprachstörung), Apraxie (gestörte Bewegungsplanung und -koordination) und Ataxie (Bewegungsunsicherheit), oft auch epileptische Anfälle, jene „Gewitter im Gehirn“, wie sie der Volksmund richtig nennt. Nicht zuletzt sind die Phänomene charakterisiert durch den Ausfall der sog. menschlichen Exekutivfunktionen, des Planens, Organisierens, des Reihen-Erstellens, auch des Abstrahierens u. a. m.

Das aus dem Lateinischen stammende Wort „Demenz“ bedeutet soviel wie „weg von den geistigen Fähigkeiten“. Es drückt etymologisch noch nicht aus, dass mit der Absenz der geistigen immer auch die emotionalen und die rational-synthetisierenden Fähigkeiten betroffen sind. Zellkomplexe im Neokortex (sinneshaft-motorische und planerische), im limbischen System (gedächtnis- und gefühlsorientierte) und im Zentral- und Zwischenhirn (Thalamus und Hypophyse) sind miteinander verbunden. Fällt der eine Komplex aus, ist der andere mitbetroffen. Besonders die gedächtnisfunktionalen Schläfenlappenbereiche des Gehirns sind oft tangiert: Wenn wir vergleichsweise in einer fremden Großstadt die Orientierung verloren haben, bekommen wir Angst, empfinden wir starke erregende oder den Bewegungssinn und seine Ausführung lähmende Gefühle. Sinne, Motorik, Gefühle und deren rationale Synthese sind eben aufeinander angewiesen. Das erlebt der Demenzkranke in jedem Augenblick.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO definiert Demenz als „erworbene globale Beeinträchtigung der höheren Hirnfunktionen einschließlich des Gedächtnisses, der Fähigkeit, Alltagsprobleme zu lösen, der Ausführung sensumotorischer und sozialer Fertigkeiten, der Sprache und Kommunikation sowie der Kontrolle emotionaler Reaktionen ohne ausgeprägte Bewusstseinsstörung“ (Sozialministerium B-W, 1998a, 7). Der DSM-IV (Diagnost. und Statist. Manual Psych. Störungen, 1996, 194) fügt den „multiplen kognitiven Defiziten“ die Gedächtnisbeeinträchtigungen bei, die uns besonders interessieren werden (DSM-IV 294.1).

Epidemiologische Einschätzung des Risikos, an einer Form der Demenz zu erkranken: „Epidemiologischen Studien zufolge ist der Anteil der über 65-Jährigen an der Gesamtbevölkerung Deutschlands in den vergangenen 100 Jahren von ca. 5 % auf ungefähr 15 % gestiegen. Es wird angenommen, dass im Jahre 2030 etwa ein Drittel unserer Bevölkerung über 60 Jahre alt sein wird. Dabei wird vor allem der Anteil der ‚alten Alten‘ (über 75 Jahre) zunehmen. [. . ] Mit zunehmendem Lebensalter steigt auch das Risiko für dementielle Erkrankungen. Geschätzt wird, dass 2 bis 3 % der 65-Jährigen, etwa 5 % der 70-Jährigen, 10 % der 75-Jährigen, 20 bis 24 % der 80- bis 90-Jährigen und über 30 % der über 90-Jährigen davon betroffen sind.“ (Zit. nach Theunissen 1999, 165) Andere, eher pessimistische Einschätzungen liegen weit darüber.

Die genetisch (z. B. Multiple Sklerose), traumatisch (z. B. Schädel-Hirn-Trauma), perinatal (z. B. Infantile Cerebralparese / Spastik), infektiös (z. B. Rötelembryopathie), vasculär (z. B. Schlaganfall), endokrinal (z. B. Parkinson; oder auch als Folge einer Substanz-Einnahme) oder degenerativ (z. B. Alzheimer- oder Korsakow-Syndrom) bedingten Funktionsstörungen des Gehirns werden immer mehr den kunsttherapeutischen Förder- und Behandlungsmaßnahmen zugeordnet und in deren Methodeninventar aufgeführt (vgl. Marr 1995).

Die kunsttherapeutischen Methoden sind wie die ergotherapeutischen einsetzbar, um mittels ästhetischer Materialien (Sand, Ton, Gips, Zement; Samt, Leinen, Wolle, Jute; Wasser, Kleister, Leim) die unterschiedlichsten Hirndurchblutungsmuster anzuregen. Sie haben den Anspruch, eben die Einsetzbarkeit dieser Materialien im Verlauf der künstlerischen Ausbildung besser zu beherrschen. Die kunsttherapeutischen Methoden wollen in ihrer Umsetzung durch visuelle, motorische und taktile Stimulationen neue Verschaltungen im Gehirn anbahnen, die Hirnzellaktivität anregen. In den seitlich liegenden Hirnarealen sollen besonders jene Zellen stimuliert werden, die uns an diese oder jene Materialqualität erinnern (an das weiße Hochzeitskleid, an den glitschigen Kleister bei der Wohnungsrenovierung, an die groben Jutesäcke, die ich auf dem Bauernhof schleppte). Solche erinnerungsauslösenden Potentiale sind in der Alzheimerbehandlung sehr wertvoll. Die Arbeit mit sinnes- und motorisch anregenden Materialen sind ebenfalls wichtig für die Behandlung des Schlaganfallpatienten, der z. B. die stimulative Aufforderung an Hand, Arm und Schulter braucht, um zuzupacken, sich zu bewegen – d. h. die entsprechenden Hirnzellen zu aktivieren. Wir wissen heute, dass die im Falle des Schlaganfalls unmittelbar, im Falle der Alzheimer-Erkrankung mittelbar wirkenden Hirnzell-Stimulationen Stoffwechselprozesse und neue Verschaltungen anregen (vgl. Abb. 2).

Dominique Muller (2000) vom Institut für Neuropharmakologie an der Universität Genf weist darauf hin, dass wiederholte intensive Reize Gedächtnisspuren im Gehirn erzeugen und dass diese im Falle der Erkrankung oder Verunfallung erinnert, wiederholt, reproduziert und verstärkt werden müssen.

Unser Gehirn lässt sich, das ist die Botschaft der kunsttherapeutischen Methodenlehre, mittels des ästhetischen Materials anregen und neu verschalten. Kunst- und Ergotherapie sind sich in diesem methodischen Ansatz einig und in der praktischen Umsetzung ähnlich. Die künstlerische Ausbildung verschafft allerdings einen erweiterten Zugang zum Spektrum der therapeutisch einsetzbaren Materialien und die genaue Kenntnis ihrer ästhetischen Eigenschaften.

Und entsprechend hat der KTL (Katalog der Klassifikationen Therapeutischer Leistungen, Deutsche Rentenversicherung Bund, 2006) den kunst- und ergotherapeutischen Bemühungen unterschiedliche Aufgaben in der Rehabilitation zugewiesen. Dem künstlerischen Therapeuten fallen hiernach eher die Behandlung der psychischen, dem ergotherapeutischen Bemühen eher die Behandlung der organischen Störungen zu (Menzen 2005).


Abb. 4: Neurologische Rehabilitation eines Patienten bis zu fünf Tagen nach einem chirurgischem Eingriff in prämotorische Gehirnareale, die für den Bewegungsentwurf verantwortlich sind. Lurijas (1992, 186) Beispiel kann verdeutlichen, wie wichtig die Bildarbeit mit neurologisch geschädigten Patienten ist.

Die Rehabilitation des dementen Patienten ist in der Regel durch den Ausfall von psychischen und physischen Funktionen bedingt, so dass sich in diesem Feld Überschneidungen ergo- und kunsttherapeutischen Behandelns ergeben. Die u. a. mit der Rehabilitation beauftragten Kunsttherapeuten haben in dem sog. Wiederherstellungsprozess eine Hoffnung: dass nicht-beschädigte Regionen des Gehirns die Funktionen der beschädigten übernehmen (vgl. Abb. 4) – und sich z. B. über die Sicherheit des wiedererlangten Bewegungsrepertoires die Selbstsicherheit des Patienten wiederherstellt.

Für die Methodenlehre der Kunsttherapie ist es wichtig zu wissen, welche Hirnareale betroffen sind und welche Leistungen davon tangiert werden. Tabelle 2 macht dies deutlich: Der Schlaganfall in der linken Hemisphäre wird möglicherweise das sog. semantische Alltagswissen beeinflussen (z. B. wo und wie ich auf dem Frühstückstisch die Kaffeetasse plaziere; oder in welcher Reihenfolge ich morgens meine Kleidungsstücke anlege), derjenige in der rechten das episodisch-bildhaft Abgelegte (z. B. wie ich bei meiner Hochzeit gekleidet war). In der kunsttherapeutischen Rehabilitation wird man entsprechend beispielsweise mit den Hochzeitsfotos arbeiten oder aber das Alltagsbild des gedeckten Frühstückstisches in die bildorientierten Fördermaßnahmen einbeziehen.

Tab. 2: Tätigkeitsformen verschiedener Gedächtnisareale (Markowitsch 1997, 27)


Episodisches GedächtnisWissenssystemProzedurales GedächtnisPriming/Prägung
(z. B. bildhaft erinnerte Ereignisse)(z. B. Alltags- oder semantisches Wissen)(z. B. automatische motorische Fertigkeiten und Handlungsabläufe)(z. B. eine Musik hören und dabei den Text assoziieren)
EinspeicherungLimbischesLimbischesBasalganglien/Cerebraler
KonsolidierungSystemSystem/Cerebraler CortexKleinhirnCortex
AbspeicherungCerebraler Cortex/AssoziationsgebieteCerebraler Cortex/AssoziationsgebieteBasalganglien/KleinhirnCerebraler Cortex/Primäre sensorische Felder
AbrufTemporofrontaler Cortex (rechts)Temporofrontaler Cortex (links)Basalganglien/KleinhirnCerebraler Cortex

Am Wissens-Gedächtnis ist nach unserem Schema das limbische, also das für die Gefühle zuständige System bei der Informationsaufnahme und semantisch-richtigen Einspeicherung beteiligt. Es nimmt eine emotionale Bewertung nach Wichtigkeit der eingehenden Informationen vor. Es geht um das alltägliche, das Allgemein-, Welt- oder Schulwissen, auch die richtigen semantisch-grammatikalischen Kenntnisse. Der linke Schläfenlappen, Teil des linken Stirnhirns, ist offenbar für die Ablagerung wichtig.

Das episodische Gedächtnis ist für die bewusste Reflexion unserer Beziehungen im Verlauf der vergangenen, besonders autobiographisch und emotional bedeutsamen Ereignisse wichtig: Es neu zu aktivieren heisst, verborgene Möglichkeiten des Lernens zu benutzen.

Das prozedurale Gedächtnis umfasst jenes Können, jene Fertigkeit, die unsere Bewegungs- und Handlungsabläufe bestimmen, z. B. schreiben, Rad fahren, also sensumotorische bzw. psychomotorische Abläufe.

Priming bezeichnet die Prägung / Anbahnung von Gestaltmustern in unserem Gehirn und beeinflusst das Gedächtnis. Die Zusammengehörigkeit von Gestalt-Elementen als ein Muster kann im Verlauf eines Wiedererkennens-Vorgangs, den wir mit dem Alzheimer-Patienten initiieren, wieder zugänglich gemacht werden. Was episodisch im rechten Schläfenlappen einmal als Information über meine Heirat an eben diesen Ort abgelegt wurde, das kann u. U. reanimiert werden, indem man das Priming nutzt. Vielleicht, so Markowitsch (2000), ist dieses episodische Ereignis durch ein traumatisierendes Stresserlebnis, einen schweren Unfall oder dergl. so blockiert, dass wir es beispielsweise mithilfe einer bildbiographischen Arbeit der Erinnerung wieder zuführen müssen.

 

1.3.2 Methoden in der Rehabilitation Demenzkranker: (Ästhetisch-) Basale Stimulation (ÄBS / BS), Realitäts- Orientierungs-Training (ROT), Validation, Bild- und Erinnerungsarbeit, Mäeutik

Fünf Verfahren sind gleichermaßen wichtig in der Rehabilitation des Demenz-Patienten geworden: die von Fröhlich (1983) entworfene Basale Stimulation (BS) und ihre Umsetzung mit ästhetischen Mitteln (ÄBS); das von Folsom (1968) entwickelte Realitäts-Orientierungs-Training (ROT); das von Feil (1999, 2000) entwickelte gefühls-akzeptierende Validationsverfahren, wie die von Osborn / Schweitzer / Trilling (1997) entwickelten Techniken der Erinnerung, hier besonders diejenigen mit Bildern; schließlich das seit Anfang der 1990er Jahre entwickelte mäeutische Verfahren Cora van der Kooijs (2006) und ihres niederländischen Instituts IMOZ, das in den letzten Jahren in Deutschland zunehmend bekannt wird.

Die Ästhetisch-Basale Stimulation (ÄBS). Andreas Fröhlich (1983; 1991), Bienstein / Fröhlich (1994), Winfried Mall (1987) und Nydahl / Bartoszek (1997) haben in den letzen 20 Jahren ein Konzept entwickelt, das zunächst geistig und körperlich behinderten Kindern und Jugendlichen, später Komapatienten und Patienten mit Apallischem Syndrom zugute kam. Schließlich wurden die dabei verwendeten haptisch-taktilen, vestibulären, kinästhetisch-somatischen, auditiven, olfaktorischen, gustatorischen und visuellen Reizverfahren auch auf den Schlaganfall-Patienten angewandt (Bienstein / Fröhlich 1994; Nydahl / Bartoszek 1997). Die basal stimulierenden Maßnahmen sind im Bereich der Klinik, insbesondere der Intensivmedizin (vgl. Pickenhain 1997; Linstedt 1997; Bienstein 1997), auch im Bereich der Geriatrie / Gerontologie (vgl. Brandenburg / Sowinski 1996) mit Erfolg eingesetzt worden. Wir haben das Verfahren in Kapitel 1.2 eingehend beschrieben. „Untersuchungen haben zeigen können, dass Menschen in narkotisiertem Zustand – und wahrscheinlich auch in sediertem Zustand – wahrnehmungsfähig sind.“ (Brandenburg / Menzen 1999, 56) Man kann sie also mit basal-stimulativen Methoden erreichen. Die bisherigen Untersuchungen lassen annehmen, dass beispielsweise Komapatienten im Bereich der Geriatrie angstvolle Zustände durchleben (vgl. Hannich 1994, der 200 Tiefeninterviews dazu gemacht hat) und auf basaler Ebene ansprechbar sind – ein Umstand, den sich auch die Kunsttherapie zunutze macht (Feuereissen 1998; siehe dazu auch Kap. II.1.3.3 Beispiel Schädel-Hirn-Trauma).

Die zeitlich-synchrone Verschaltung von Wahrnehmungselementen (z. B. grün-braun-groß-voluminös-rauschend = Baum), mittels derer Zusammenhänge überhaupt erst erfahren und gelernt werden (Pöppel / Edingshaus 1994), muss erinnert, rekodiert werden. Eine Erfahrung, die schon vor vielen Jahrzehnten von dem Phänomenologen Wilhelm Schapp erabeitet und schließlich von einem Künstler wie Joseph Beuys kunsttheoretisch erläutert worden ist: dass beispielsweise solchermaßen „Töne, Farben [. . .] sachlich in der Beziehung zum Raum [stehen]“, dass eben dieser nicht ohne jene zu erfahren, „dass der Raum eine Form für sie ist“ (Schapp 1910 / 1976a, 41). Schapp stellte als Phänomenologe, dem es um das Zueinander von Bedeutungen, wesentlichen und unwesentlichen, zutun war, fest, dass „gewisse Bestimmtheiten wie Farben, Töne, die Vorstellung von anderen Bestimmtheiten, Flüssig, Starr, in einer gewissen Ordnung mit sich führen“ (1910 / 1976a, 41). Er konstatierte, dass es sich bei „Qualitäten, die man in der Außenwelt vorfindet, Farbigkeit, Töne, Gerüche, vielleicht auch Schwere, Festigkeit, Starrheit [. . .] immer nur um Momente eines Ganzen handelt“ (1976b, 73). Joseph Beuys forderte dazu auf, die steinerne Plastik zu hören „und bringt uns zu der neurologischen Erkenntnis zurück, dass wir seit frühester Kindheit Merkmalsbedeutungen unterschiedlicher Art zusammenschalten, um gestalthaft wahrnehmen und erfahren zu können.

Die alten Kompetenzen, die ehemaligen Fähigkeiten, beispielsweise die des Sehens, Greifens, Zusammenfügens, müssen mühsam wiedererinnert, wiederaufgebaut werden. An diese Kompetenzen knüpft das Konzept einer ästhetisch-basalen Stimulation an. Sie will den Kode der Zusammenschaltung, eben jene früher erfolgte Gestaltleistung restituieren oder substituieren. Die Zusammenhänge, die Zusammenschaltungen aber sind in unserem Leben biographisch erfolgt und neuronal als Nervenzell-Verknüpfungen in den verschiedensten Lebenssituationen entstanden. An diese angestammten Verknüpfungen rühren wir, wenn wir beispielsweise dem Schlaganfall-Patienten helfen, alte Wahrnehmungselemente des Greifens, Sehens, Hörens, Körperempfindens in ihrem Gesamt wieder zu erinnern, d. h. deren neuronale Verknüpfung wiederherzustellen.

Das Realitätsorientierungstraining (ROT). ROT wurde 1968 von Folsom entwickelt. Es sollte den betroffenen Patienten Verhaltenshilfen geben, speziell für zeitliche und räumliche Orientierungsleistungen. Es sollte zu einer möglichst eigenständigen Bewältigung von alltäglichen Lebensaufgaben und Anforderungen, zunächst im Raum des Klinikalltags, verhelfen. Von morgens, wenn sich die Patienten in der Runde vorstellten, die Uhrzeit nannten und die anliegenden Aufgaben schilderten, bis spät nachmittags, wenn im Rückblick das Getane und Erlebte zusammengefasst wurden. Mit Hilfe von ROT sollte der Alltag strukturiert werden.

„Ziel des Trainings, das in kleinen Gruppen durchgeführt wird, ist es, die Orientierung in Bezug auf Raum, Zeit und die eigene Person zu fördern und aufrecht zu halten.“ (Sozialministerium Baden-Württemberg 1998a, 132) Ähnliche Anweisungen für Orientierungsprogramme kursieren, seitdem sie von den Psychiatern Folstein und Taulbee in den 1960er Jahren entworfen wurden. Wie in der basalen Stimulation sollen Alltagsbezüge helfen, Merkmals-, Bedeutungs- und Wahrnehmungskomplexe zu assoziieren. Zu den Zielen dieses Trainingsprogramms gehören seither „Gespräche, Vorlesen aus der Zeitung mit anschließender Diskussion, Einprägen und Wiederholen von Fakten, die mit Personen, Orten, Sachen oder Zeit in Verbindung stehen, Spiele und Spaziergänge im Haus oder in der Umgebung. Hilfsmittel sind zum Beispiel Fotos, Plakate, Symbole, gut leserliche Kalender und Uhren. In einem umfassenden Sinn beinhaltet Realitätsorientierungstraining den gesamten Stationsalltag: also zum Beispiel das Schaffen einer klaren Tagesstruktur, Orientierungshilfen auf der Station, Training und Unterstützung bei Verrichtungen des alltäglichen Lebens“ (Sozialministerium Baden-Württemberg 1998a, 132). ROT dient also der annähernd selbständigen Strukturierung des Alltags unter seinen Wahrnehmungs- und Erlebnis-, Gestaltungs- und Kommunikationsaspekten.

ROT stellt der progressiven kognitiven Verschlechterung und der gleichzeitigen Verschlechterung der psychosozialen Situation ein Gedächtnis- und Lerntraining entgegen, das auch verhaltenstherapeutische Strategien aufgreift, wie z. B. die positive Verstärkung erwünschter Verhaltensweisen oder das ständige Wiederholen und „Überlernen“ zu Behaltenseffekten (Menzen / Brandenburg 1999, 54). Und da ROT im besonderen Maße der alltäglichen Situationsbewältigung verpflichtet ist, bezieht es das Ärzte-, Therapeuten- und Pflegeteam mit ein. Im Hinblick auf die Gefahr einer erlernten Hilflosigkeit wird besonders auf die Selbständigkeit der Patienten bei der Arbeit geachtet. In der Praxis haben die ROT-Programme in der Vergangenheit aber auch Kritik hervorgerufen:

• Die unterschiedlichen Grade der Verwirrtheit der Patienten werden nicht berücksichtigt. Holden / Woods (1982) haben daher drei verschiedene Einstufungen der Patienten und Schwierigkeitsstufen (Basis-, Standard-, Fortgeschrittenengruppe) vorgeschlagen.

• Auf die am meisten Verwirrten lässt sich das Verfahren schlecht anwenden. Reisberg (1986) und Haupt (1997) plädieren deshalb für eine Herausnahme dieser Personengruppe aus den bestehenden Programmen.

• Verwirrtheit wird unterschiedlich definiert, daher forderte Müller (1994) eine Genauigkeit der praxis- und forschungsleitenden Konstrukte.

• Die Methoden- und Interventionsspezifität bei Verwirrtheit wurde nicht beachtet. Kritiker wie Rasehorn / Rasehorn (1991) warfen mit Recht Fragen auf, die die grundsätzlich geeigneten Therapieverfahren, die Auswahl und Gruppenzusammenstellung der verwirrten Patienten, die Phasenspezifität der Interventionen, auch den Einbezug des Pflegepersonals in die therapeutischen Maßnahmen u. a. m. diskutierten (Brandenburg / Menzen 1999).

Die Diskussion um ROT ist nicht verstummt. Die Anwendung von ROT aber ging trotz der Kritik weiter. Neue ROT-Stationen wurden aufgemacht. Aus den schlechten Erfahrungen wurde gelernt. ROT- und ÄBS-Maßnahmen wurden aufeinander hin koordiniert (beispielsweise an der Neurologischen Klinik Elzach / Freiburg). Und eben diese Klinikentscheidung, in kunsttherapeutischer Herangehensweise mit den genannten Methoden Lebens- und Alltagssituationen bildnerisch nachzugestalten, diese Option erhielt eine Chance im Gesamt der Therapieverfahren. Es ist zu früh, Verbindungsmöglichkeiten der beiden Ansätze ÄBS und ROT zu bewerten; zu wenige Erfahrungen sind gemacht, um sichere Aussagen zu treffen. Es wäre möglich, dass beide Verfahren zukünftig in Kombination praktiziert werden.

Validation. Naomi Feil hat Ende der 1980er Jahre ein Verfahren vorgestellt, das die Äußerungen des dementen Menschen ernst nimmt. Zunächst ging es ihr darum, die Würde der Betroffenen zu respektieren, sie nicht wie üblich durch klammheimliche Abwertung in jenen fensterlosen Gang erlernter Hilflosigkeit zu schicken, um den wir alle wissen, aber den wir dennoch immer wieder installieren. Sie wollte im Gegenteil den verwirrten Menschen erreichen, eher auf seine Gefühlsäußerungen reagieren als diese zu korrigieren. Huub Buijssen (1997, 178) berichtet folgendes Beispiel (Gespräch mit der 84-jährigen Frau R.):

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