Buch lesen: «Das Phänomen»
Karin Szivatz
Das Phänomen
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Prolog
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Epilog
Impressum neobooks
Prolog
„Das ist nur rechtens! Wohlan, dies seiet eure Bestrafung, ihr greisen Muhmen, Metzen und Frohwen. Disputieret nichts ab, ihr nichtsnutzige Recken und Gesellen! Ihr sollt um Gunst heischen, sie nicht inkorporieren, in Aeternitas! Brandschatzen steht unter wackerer Arbet!“
1
Kühler Regen prasselte nun schon seit den frühen Abendstunden unablässig auf das Flachdach des geräumigen Hauses, als wollte er eine selbst komponierte Melodie spielen. Er änderte den Rhythmus des Liedes in unregelmäßigen Abständen und pochte zwischendurch dermaßen auf das Dach, als wollte er sich mit einer nachgeahmten Gewehrsalve gewaltsam Zutritt von oben in die liebliche Idylle des Hauses verschaffen. Dann wieder sandte er nur feine Tröpfchen herab, als würde er von einer leichten Sommerbrise erzählen, die sinnlich durch samtweiche, sattgrüne Grashalme gleitet.
In dieser Nacht regnete es nur von oben herab. Der Wind hatte in dieser Nacht beschlossen, nicht mit dem Regen um die Häuser zu ziehen und somit blieben die Fenster weitgehend trocken.
Der weitläufige Bungalow wurde vor wenigen Jahren nur wenige Meter weit weg vom feinen Sandstand errichtet. Gerade weit genug weg, dass die Zungen der Flut nicht an der Veranda aus hellem Kiefernholz lecken konnten, aber nahe genug am Wasser um den salzigen Geruch des Meeres noch im Wohnzimmer inhalieren zu können.
Rosalie lag bereits seit einer guten Stunde wach; sie wurde vom leisen Schnarchen Taylors und den arrhythmischen Klängen des Regens vom Schlafen abgehalten. Noch dazu hatte sie keinen wirklich guten Vertrag mit dem Sandmännchen abgeschlossen und auf Nachverhandlungen ließ er sich scheinbar nicht ein. Sie hasste es, Taylors Schnarchen hören zu müssen; diese Momente stellten ihre Liebe zu ihm auf eine sehr harte Probe. Mitunter fragte sie sich, ob nicht eine Affäre weitaus einfacher zu verzeihen war als das Röcheln und Zischen, das aus seinem leicht offen stehenden Mund kam. Sie hasste es und manchmal, wenn sie partout nicht mehr einschlafen konnte, hasste sie auch ihn. Und im Moment war sie gerade drauf und dran, ihn zu hassen. Obwohl sie vom Vortag noch ziemlich ausgelaugt war beschloss sie, aus dem Zimmer zu gehen. Weg von Taylor, weg von der miesen Atmosphäre, die das Ehebett dank ihrer mordlüsternen Gedanken umgab. Es hatte keinen Sinn mehr, auf den erlösenden Schlaf zu warten. Er hatte bereits seine Sachen gepackt und war abgereist. Morgen würde er hoffentlich wieder kommen, heute aber vermutlich nicht mehr.
Schwerfällig schlug sie die Decke zurück und hievte sich aus dem warmen Bett. Ihre nackte Gestalt zeigte sich nur schemenhaft im Spiegel des dunklen Zimmers. Kritisch betrachtete sie ihre Hüften, die Taille, die Oberschenkel. Dann breitete sie die Arme aus und ließ ihren Blick über die Oberarme streifen. Ein Spiegel lügt nicht, niemals, dachte sie und schlich barfuß aus dem Schlafzimmer; sie wollte Taylor nicht wecken, denn sie wollte keine Erklärungen abgeben, weshalb sie um halb zwei Uhr morgens nachts nackt im Haus herumlief.
Die Küche zeigte sich durch den Mond in fahles Licht getaucht. Die Möbel schienen einen Standaufnahme aus einem schwarz-weiß-Film aus den Neunzehnhundertzwanzigerjahren zu stammen. Ein Stummfilm aus längst vergangnen Tagen, der es geschafft hatte, sich heimlich, still und leise ins dritte Jahrtausend zu schmuggeln.
Rosalie sah sich aufmerksam in der etwas befremdlichen Küche um, drehte sich langsam im Kreis und versuchte zu eruieren, was hier nicht stimmte. Der Raum war derselbe wie seit Jahren, alles befand sich an einem Platz und dennoch schien etwas unerklärlich anders zu sein. Noch während sie sich auf die Einrichtung der Küche konzentrierte, packte sie plötzlich eine eiskalte Faust, die ihr ohnehin schon dumpfer und rascher schlagendes Herz zusammenquetschte und ein beklemmendes Gefühl in ihr auslöste. Sie schlug die Hand an die Brust, stützte sich mit der anderen am Esstisch ab und beugte sich vorn über. Sie japste nach Luft, keuchte und würgte. Todesangst kroch wie eine Eidechse an ihr hoch und zog eine heiße Welle hinter sich, die sie zu verbrennen drohte. Rosalies erster Gedanke galt einem Herzinfarkt, doch so rasch die Symptome aufgetreten waren, so rasch waren sie auch wieder abgeklungen. Die Ursache des darauf folgenden Schauers hatte nichts mit der Umgebungstemperatur zu tun. Die Hitze des Sommers hatte sich seit Tagen über der gesamten Ostküste ausgebreitet; gar so, als wollte sie zwei Wochen am Strand liegen und einfach nur da sein. Der heiß ersehnte Regen, der nach wie vor unablässig vom Himmel fiel, war deshalb eine willkommene Abkühlung für jedermann.
Rosalie lauschte noch immer ihrem Herzen, doch es schlug wieder gleichmäßig, langsam und kräftig. Ganz so, wie sie es gewohnt war. Etwas beruhigt richtete sie sich auf, atmete ein paar Mal tief durch und versprach sich selbst, gleich am Morgen ein EKG schreiben und einen Bluttest machen zu lassen. Das würde sie jedem anderen Menschen auf alle Fälle dringend nahelegen. Mit einem Herzinfarkt war schließlich nicht zu spaßen!
Während Rosalie ihren leichten Bademantel aus dem Badezimmer holte und noch immer auf ihren Herzschlag hörte, lief ganz leichter Kaffee durch die Maschine in ihren Lieblingsbecher. Obwohl er schon mehrere hundert, wenn nicht sogar tausende Wäschen in der Spülmaschine hinter sich hatte, liebte sie ihn abgöttisch. Er war das erste Geschenk, das sie von Taylor bekommen hatte. Sie waren auf dem nächtlichen Jahrmarkt gewesen und völlig verliebt. Eng umschlugen schlenderten sie zwischen den bunt beleuchteten Attraktionen durch, ließen sich von der Hexe in die Geisterbahn locken, von der Gefahr der Hochschaubahn anziehen und von der Köstlichkeit einer mit Schokolade überzogenen Riesenschaumrolle überzeugen.
Und dann war da noch der Schießstand, dessen Schausteller nur noch einen Arm hatte. Er rief unablässig ‚Schießen Sie Ihrer Liebsten doch ein weißes Einhorn!’ in die Menge und zog mit diesen einfachen Worten Scharen an jungen Männern an, die ihren Angebeteten imponieren wollten.
„Willst du das Einhorn?“, fragte Taylor so unsicher, dass Rosalie sofort darauf bestand, eines zu bekommen. Taylors Gesicht wurde schlaff. Sie sah ihm an, dass er auf gar keinen Fall das Einhorn von der Decke schießen würde, aber sie fand es echt süß, dass er es versuchte. Für sie versuchte!
Taylor kramte in der Tasche seiner Jeans und förderte einen Zehner zutage. „Ich will’s versuchen“, flüsterte er dem Schausteller zu und hoffte vermutlich insgeheim, nicht gehört zu werden. Doch der schmale Mann hinter der Theke hatte den Zehner blitzschnell gesehen und auch schon in seiner Tasche verschwinden lassen. Mit einem ziemlich linkischen Lächeln reichte er das geladene Gewehr über den Tresen und Taylor stellte sich breitbeinig in Position. Doch anstatt an die Decke zu zielen um das Einhorn zu bekommen richtete er den Lauf auf die unterste Reihe und landete gleich mit dem ersten Schuss einen Treffer. Den absoluten Glückstreffer.
Der Schausteller sah ihn aus listigen, zusammengekniffenen Augen an. Taylor erwiderte den Blick und ließ ihn lächelnd wissen, dass er ihm noch das Wechselgeld schulde. Und natürlich den Kaffeebecher, den er gerade gewonnen hatte. Taylor überreichte ihr den eigentlich ziemlich hässlichen Becher mit einer tiefen Verbeugung. „Madame, dies soll ab sofort der Kaffeebecher Ihres Lebens sein!“
Rosalie übernahm ihn mit einem höfischen Knicks und fiel ihm anschließend in die Arme. In diesem Augenblick verbanden sich ihre Herzen miteinander und ihr gemeinsames Leben war damit besiegelt worden.
Noch heute dachte sie gerne und mit einer gewissen Wärme im Herzen an diesen Augenblick zurück. Sie drückte den warmen Becher an ihre Brust und sah vom Wohnzimmerfenster auf das offene Meer hinaus. Sie hatte auch hier das Gefühl, als wäre irgendetwas anders als sonst, aber sie konnte es vom Haus aus nicht ausnehmen. Während sie den Gürtel um ihre Taille schlang, öffnete sie leise die Haustür, trat hinaus auf die Veranda, und blickte über den feinen Sandstrand in Richtung Meer. Der Regen fiel währenddessen vom dunklen Himmel und schränkte ihre Sicht ein. Sie erkannte auch noch etwas weiter draußen die Wellen, doch sie sahen nicht wie sonst auch immer aus. Sie waren anders, doch auch jetzt konnte sie nicht genau definieren, weshalb.
Irgendwie fühlte es sich anders an, aber das war auch nicht der richtige Ausdruck dafür. Vielleicht war es auch nur ihre Müdigkeit, die sich in diesem Augenblick bemerkbar machte. Immerhin waren es nur noch ein paar wenige Stunden, bis sie wieder die Tür ihrer Praxis aufschließen und sich all die Klagen der Dorfbewohner anhören musste. Sie liebte ihren Job über alles, übte ihn mit Inbrunst und Leidenschaft aus, aber im Moment konnte sie all zu viel an Leiden und Gejammere nicht ertragen. Doch dieses Gefühl kannte sie nach sieben Jahren im Dienste der Menschheit mittlerweile. Während des Medizinstudiums war sie voll Enthusiasmus und auch während der Praktikumsjahre danach ging sie förmlich darin auf, Anderen zu helfen, sie zu heilen und sie mitunter wieder ins Leben zurück zu holen. Doch als Landärztin beschränkte sich ihr Wirkungsbereich auf die Behandlung von Erkältungen, Rückenschmerzen und auf die Überweisungen zu Fachärzten. An manchen Tagen überlegte sie, ob sie nicht mit Taylor in eine Stadt ziehen und selbst eine Facharztausbildung beginnen sollte. Hier, am Strand von Nirgendwo würde sie ja doch nur versauern und ihr Talent verschwenden. So sehr ihr die wenigen Bewohner des Städtchens am Herzen lagen, so wenig konnten sie ihr als Gegenleistung bieten. Mit ihren zweiunddreißig Jahren war sie bereits ziemlich gelangweilt und sehnte sich nach einem aufregenden Leben, nach Adrenalin, nach Abenteuer, nach Gefahr und Herzklopfen. Hier fand sie nur Ruhe sowie niedrige Ansprüche an ihre Persönlichkeit, an ihren herausragenden Intellekt und an ihr berufliches Können. Das reichte ganz einfach nicht mehr aus. Dieses Leben war etwas für die Zeit nach vielen aufregenden Jahren oder nach der Pensionierung aber im Moment bot es ihr einfach viel zu wenig an Impulsen.
2
Mit zusammengekniffenen Augen blickte sie konzentriert auf das Meer, das recht bald am Horizont den Himmel küsste. Eigentlich sah es nicht wie ein Kuss aus, sondern viel mehr wie ein panisches Anklammern, als wollte sich das Meer am Himmel emporziehen, ganz rasch weg von der Erde. Sie öffnete ihre Augen wieder ganz, atmete schwer aus und konzentrierte sich nun auf die weiße Gischt, die auf den Kämmen der Wellen tanzte. Sie schien grau zu sein und ganz ohne Leben. Ein lustloser Tanz, der eher mühsam statt lustvoll aussah. Doch noch ehe sie darüber nachdenken konnte, wie sie überhaupt darauf kam, dass Gischt Leben in sich tragen und fröhlich oder traurig sein konnte, fühlte sie eine andere Person in ihrer Nähe. Eine Ahnung, dass sie nicht allein war, überkam sie und sie drehte ihren Kopf nach rechts.
Marisha, ihre direkte Nachbarin, stand vor ihrem nun doch schon etwas in die Jahre gekommenen Haus und starrte ebenfalls auf das Meer hinaus. Die grauen, ausgedünnten Haare hingen wie viel zu lang gekochte Spaghetti von ihrem Kopf und legten stellenweise die bleiche Kopfhaut frei. Die Haarspitzen, die auf ihren Schulterblättern klebten, zeichneten eine Linie, die an ein zerklüftetes Küstengebiet erinnerte. Sie mussten dringend geschnitten und wieder in eine gerade Linie gebracht werden. Doch Marisha kümmerte sich nicht mehr um ihr Äußeres. Vielleicht nahm sie es auch nicht mehr wahr, denn sie lebte zeitweise in völlig anderen Sphären. Und diese Zeiten dehnten sich immer mehr aus. Es würde wohl nicht mehr lange dauern, bis sie einander die Hände reichten und die alte Frau völlig mit sich trugen. Manchmal fragte sich Rosalie allerdings, ob es nicht eine glücklichere Welt als die reale war, in der ihre Nachbarin seit Jahren lebte.
Rosalie nahm einen Schirm aus dem Ständer, spannte ihn auf und hielt ihn über ihrem Kopf, während sie auf die zerbrechliche Gestalt zusteuerte. Je näher sie der alten Dame kam desto deutlicher war ihre bereits völlig durchnässte Kleidung erkennbar. Wie lange sie wohl schon hier im strömenden Regen gestanden haben mochte?
Rosalie machte sich nicht die Mühe, sie danach zu fragen, denn sie würde keine Antwort erhalten, mit der sie auch etwas anfangen konnte. Vermutlich würde ihre Frage noch nicht einmal gehört werden. Sie stellte sich dicht hinter Marisha und drückte sich gegen ihren Rücken, damit sie beide im trockenen Kreis unter dem Schirm Platz fanden. Die alte Frau war beinahe einen ganzen Kopf kleiner, weshalb Rosalie mühelos über sie hinweg auf das Meer sehen konnte.
Viele lange Sekunden standen die beiden Frauen reglos da, lauschten dem Regen, den wispern der Wellen und bemerkten das Fehlen des Vogelgesangs; doch keine von beiden sprach es aus. Sie wussten, dass es die jeweils andere ohnehin wusste.
„Hörst du die Stimme des Meeres?“, fragte Marisha, sah aber nicht über ihre Schulter in Rosalies Augen. Sie wippte nur ganz sanft mit ihrem Körper nach vor und wieder zurück. Nach vor und wieder zurück. Unentwegt, aber für Rosalie nicht störend.
„Nein, Marisha, ich höre sie nicht. Was sagt denn die Stimme?“
Die kleine Frau blieb eine Weile stumm und wippte auch nicht weiter. Dann aber flüsterte sie kaum hörbar: „Sie sagt ‚Sie kommen! Lasst sie nicht herein, schickt sie weg!’“ Sie begann wieder zu wippen; sanft und nicht störend.
„Wen meint die Stimme damit? Wer kommt und wen sollen wir wegschicken?“
Marisha erschauderte. „Ich weiß es nicht.“
Rosalie beugte sich nach vor und sah sie von der Seite an. „Komm, wir gehen ins Haus, sonst holst du dir noch den Tod. Dir läuft schon der Schauer über den Rücken.“
Sie nahm die zerbrechliche Frau an der Schulter und drehte sie sanft zum Eingang ihres Hauses hin, doch sie drehte ihren Kopf in Richtung Meer und flüsterte erneut: „Sie kommen! Lasst sie nicht herein, schickt sie weg!“
Dann ließ sie sich ins Haus führen und ihrer Kleider entledigen. Während Rosalie ihr das Nachthemd überstreifte richtete Marisha ihren Blick auf den Küchenkasten. „Ist der Kaffeebecher da für mich?“
Rosalie drehte sich um und sah ihren Lieblingsbecher an. „Ja, du kannst ihn haben, wenn er leer ist.“
„Wirklich? Du schenkst ihn mir?“
„Ja, ich schenke ihn dir.“
Die alte Frau bedankte sich mit einem beinahe zahnlosen Lächeln, das so ehrlich wie das eines Kindes war. Rosalie strich ihr übers Haar, schob ihren linken Arm unter die knochigen Knie und hob die müden Beine ins Bett. Dann deckte sie die alte Frau zu und sah sie in dem riesig wirkenden Bett an. Marisha schien darin so verloren zu sein wie in ihrem Geiste.
„Liest du mir eine Geschichte vor?“, fragte sie und blickte erwartungsvoll zu Rosalie auf.
„Wenn du mir versprichst, die Augen dabei nicht aufzumachen, gern“, forderte Rosalie und holte das Buch aus der Nachttischlade.
„Versprochen!“, rief die kleine Gestalt aus und presste die Lider ganz fest aufeinander. Die Hände krallten sich vor Erregung in die dünne Decke und ihr faltiger Mund kräuselte sich in Vorfreude.
Rosalie setzte sich auf den Stuhl neben das knarrende Landhausbett, das bestimmt schon enorm vieles gesehen und hört hatte, und begann laut zu lesen. Schon nach wenigen Sekunden löste sich die Verkrampfung in Marishas Lidern und ihre Fäuste öffneten sich. Auch ihr Mund entspannte sich zusehends und bald hatte Rosalie den Eindruck, als würde sie ihre Worte nicht mehr hören. Mit einem milden Lächeln schlug sie das Buch zu, legte es leise in die Nachttischlade zurück und schloss sie. Als sie völlig geräuschlos auf die Tür zuging verzerrte sich Marishas Gesicht plötzlich zu einer hässlichen Fratze, die nur aus den Tiefen der Hölle stammen konnte. Und sie flüsterte etwas in den Raum hinein. „Sie kommen! Lasst sie nicht herein, schickt sie weg!“ Dann drehte sie sich zur Seite und war wieder die alte, schwache Frau von nebenan, die an Demenz litt.
Rosalie lief ein eiskalter Schauer über den Körper, der sich in ihren Haarwurzeln sammelte. Instinktiv zog sie ihren Bademantel enger um die Taille und rieb sich mit den Händen die Oberarme. Doch die Kälte kam nicht von außen.
Ohne ein weiteres Mal auf die schlafende Gestalt in dem riesigen Bett zu blicken nahm sie ihren Kaffeebecher und zog die Tür leise hinter sich zu. Die Nachbarin hatte längst vergessen, dass sie ihn haben wollte und dass er ihr bereits unzählige Male geschenkt wurde. Sie mochte den Gedanken, etwas geschenkt zu bekommen. Rosalie nahm an, dass es ihre Person aufwertete. Zumindest für den Moment, denn im nächsten war er schon wieder vergessen.
Als sie auf die kleine Veranda des Nachbarhauses trat wagte sie nicht, auf das düstere Meer hinaus zu blicken, denn sie hatte Angst, dieses Flüstern auch von dort draußen zu hören. Sie wollte nur noch in den Schutz ihres Hauses und in die erlösenden Arme des Schlafes sinken. Doch letzterer blieb, wie bereits erahnt, aus.
Sie war hellwach, dennoch todmüde und ausgelaugt. In ihr Bett zu gehen wäre völlig sinnlos, denn die Mischung aus Taylors Schnarchen und dem Regen wären noch eine zusätzliche Reizung ihrer ohnehin schon recht sensiblen Sinne.
Obwohl sie eine gewisse Schwere in sich fühlte, setzte sie sich an ihre Staffelei und drückte einen Klecks Farbe aus der Tube. Dunkles, sattes Rot glänzte auf der Spitze ihres Pinsels, der an Blut erinnerte. Eigentlich hatte sie für diese Farbe gar keine Verwendung in dem Bild und sie fragte sich, weshalb sie gerade diese gewählt hatte. Sie passte ganz und gar nicht in das pastellfarbene Bild. Damit würde sie den Gleichklang, die Weichheit und die Sanftheit der anderen Farben stören, wenn nicht sogar zerstören.
Etwas irritiert nahm sie die Farbe mit einem alten Tuch vom Pinsel und tauchte ihn anschließend in einen Becher Wasser. Sie liebte es zuzusehen, wie sich die wenigen Farbreste von den Pinselhaaren im Wasser auflösten und einen kleinen, hellbunten Ring darum bildeten. Und auch jetzt zeigte sich ein kleiner, roter Ring. Er schmiegte sich hellrot an die Pinselspitze und verharrte dort. Doch eine Sekunde später, weitete er sich aus, wurde größer und größer, bis er den Rand des Bechers erreicht hatte. Rosalies Stirn legte sich in Falten und sie beugte sich direkt über den Becher um die Farbausdehnung besser beobachten zu können. Die gesamte Oberfläche schimmerte in einem hellen rot, gewann jedoch mit jedem Augenblick an Intensität und zeigte sich recht bald in einem dunklen, intensiven Farbton, der beinahe schon in aubergine überwechselte.
Rosalie hob den Becher auf und betrachtete ihn von der Seite. Das ganze Wasser darin hatte diesen rot-schwarzen Farbton angenommen, der sie an eine Mischung aus frischem und getrocknetem Blut erinnerte. Wie normale Acrylfarbe sah diese Flüssigkeit nicht mehr aus. Außerdem waren in den Pinselhaaren nur noch Spuren von Farbe, die maximal einen kleinen Punkt auf die Oberfläche hätte zeichnen können. Sie starrte kurz ganz tief in das merkwürdige Rot, dann zuckte sie zusammen, als würde tödlicher Strom aus dem Becher fließen. Blitzschnell stellte sie ihn wieder auf seinen Platz und sprang von ihrem Stuhl auf. Das Ganze war ihr mehr als unheimlich und der Schauer von vorhin kroch wieder über ihren Körper und biss sich erneut in ihren Haarwurzeln fest.
Sie rieb ein weiteres Mal an ihren Oberarmen um sich zu wärmen, doch die eisige Kälte blieb tief in ihren Knochen stecken.
Um sich durch die rote Blutflüssigkeit nicht mehr irritieren lassen zu müssen schnappte sie das alte Farbtuch, fasste damit den Becher und kippte ihn rasch im Waschbecken aus. Dann ließ sie einige Minuten lang kaltes Wasser nachlaufen und warf den Becher mitsamt dem Tuch rasch in die Mülltonne vor der Haustür. Sie wollte beides nicht mehr im Haus haben.
Nach einer kurzen Sekunde des Überlegens lief sie zurück zur Staffelei, nahm den Pinsel in die Hand und verließ wieder das Zimmer. Zur Sicherheit versperrte sie es, indem sie den Schlüssel zwei Mal umdrehte. Um sich davon zu überzeugen, dass die Tür auch wirklich versperrt war, rüttelte sie daran. Dann trat sie erneut vor die Tür und warf auch den soeben benutzten Pinsel in die Mülltonne. Den Deckel der Tonne beschwerte sie mit einem umgedrehten Stuhl.
Dann schloss sie die Haustür hinter sich und versperrte auch diese sorgfältig. Als sie aus dem Fenster auf die Veranda sah, konnte sie die dunklen Bäume, die vereinzelt am Strand standen, durch den Regenvorhang nur verschwommen sehen. Allerdings formten sich ihre Äste nicht zu überdimensionalen Armen, die nach ihr greifen und in die Hölle ziehen wollten.
Jetzt musste Rosalie lachen und griff sich an die Stirn. Was war denn vorhin bloß mit ihr los gewesen? Wieso hatte sie wegen des bisschen Farbe so überreagiert? Sie fragte sich auch, ob denn das Wasser im Malbecher wirklich blutrot gewesen war; so ganz sicher war sie sich nicht mehr.
Dennoch warf sie einen Blick auf die Mülltonne, die, noch immer mit dem Sessel beschwert, regungslos auf den Holzdielen stand. Nichts in ihr versuchte, sich gegen den Deckel zu stemmen um Unheil über sie und ihre Lieben zu bringen. Alles war in bester Ordnung. Offensichtlich hatte sie sich von Marisha und ihrer verqueren Welt ein wenig beeinflussen lassen. Die Demenz schritt bei ihr zwar langsam, aber dennoch kontinuierlich voran und zeigte sich immer deutlicher. In absehbarer Zeit würde sie die alte Dame in ein Pflegeheim einweisen müssen. Sie würde nicht mehr allzu lang auf sich achten können. Schon jetzt vernachlässigte sie die Körperpflege sowie den Haushalt. Das Hungergefühl war nicht mehr ausreichend vorhanden und die Gefahr, dass sie etwas am heißen Herd stehen ließ, stieg mit jedem Tag. Vom medizinischen Standpunkt her hätte sie längst eine Einweisung ausstellen müssen, aber sie mochte die alte Dame und sie gab auch ein wenig auf sie Acht. Auf eine gewisse Weise liebte sie die kleine Frau sogar ein wenig und ihr wurde warm ums Herz, wenn sie an ihr Lachen dachte.
Von diesen tröstlichen Gedanken beruhigt legte sie sich im Wohnzimmer auf die Couch, deckte sich mit der orangefarbenen Tagesdecke zu und schlief nach nur wenigen Sekunden ein.