Repression und Rebellion

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Repression und Rebellion
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Karim El-Gawhary

Repression
und Rebellion

Arabische Revolution – was nun?


www.kremayr-scheriau.at

ISBN 978-3-218-01232-4

eISBN 978-3-218-01240-9

Copyright © 2020 by Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien

Alle Rechte vorbehalten

Schutzumschlaggestaltung: Christine Fischer

Fotos auf dem Schutzumschlag: AP Photo/Hussein Malla (vorne),

Akram Al yasiri (hinten)

Satz und typografische Gestaltung: Danica Schlosser, danicagrafik.de

Inhalt

Einleitung

Vom Unsinn, die arabische Welt in Jahreszeiten oder mit Koran-Zitaten erklären zu wollen

Ägypten zurück, Tunesien nach vorn

Das Aufbäumen der IS-Dschihadisten

Pax Autocratica: Die Heilige Arabische Allianz

#Fail: Europa und die USA

Das arabische Dreigespann: Armut, Ungleichheit und Machtlosigkeit

Arabellion 2.0: Der Aufstand geht weiter

I can’t breathe: Ein arabischer Ausblick in der Corona-Krise

Danksagung

Einleitung
Vom Unsinn, die arabische Welt in Jahreszeiten oder mit Koran-Zitaten erklären zu wollen

Sie fuhren in einem Zug von der ägyptischen Hafenstadt Alexandria durch das Nildelta, Muhammad Eid und Ahmad Samir, zwei junge Straßenverkäufer. Muhammad bot normalerweise selbst gemachte kleine Malereien auf Holz oder Leder in Alexandria feil. Aber an diesem Tag hatte der Regen all seine Objekte zerstört. Er hatte keine Einnahmen. Als die beiden auf dem Weg nach Hause vom Schaffner im Zug kontrolliert wurden, konnten sie keine Fahrkarten vorweisen. Der Schaffner gab ihnen drei Optionen: Sie bezahlen das Ticket, er übergibt sie der Polizei oder sie springen aus dem fahrenden Zug. Da sie nicht genug Geld hatten und Angst, der Willkür der Polizei ausgeliefert zu werden, wählten sie die dritte Option und sprangen. Muhammad starb, als er neben den Gleisen aufschlug, Ahmad verlor ein Bein. Das Ticket hätte umgerechnet vier Euro gekostet.

Es ist eine Begebenheit, die symptomatisch dafür ist, wo die arabische Welt zehn Jahre nach dem sogenannten Arabischen Frühling steht. Wirtschaftliche und soziale Fragen bleiben völlig ungelöst, vielerorts ist es nur ein brutaler Repressionsapparat, der für Ruhe sorgt. Und nun setzt sich auf das Ganze noch die Krise der Corona-Pandemie, deren wirtschaftliche und soziale Auswirkungen alle Widersprüche noch verschärfen werden.

Es ist ein scheinbar düsteres Fazit, das ein Jahrzehnt nach dem Aufstand gegen die arabischen Diktatoren gezogen werden muss. Ägypten wird vom Militär regiert, in Syrien hat der Diktator gewonnen, regiert aber über einen Scherbenhaufen. Libyen versinkt im Chaos der Milizen und in einem blutigen Stellvertreterkrieg, genauso wie der Jemen. Und die ölreichen Golfstaaten werden autokratisch regiert wie eh und je.

Manche proklamieren da fast hämisch, dass nach dem Arabischen Frühling in der Region der politische Winter eingezogen sei. Aber kann man politische Prozesse tatsächlich als Jahreszeiten erklären?

Dieses Buch beschreibt die letzten zehn Jahre eines langfristigen Prozesses. Es schildert, wie das Rad von den alten Systemen zum Teil wieder zurückgedreht wurde. Wie militante islamistische Bewegungen wie der sogenannte „Islamische Staat“, der IS, das entstandene Vakuum zu füllen suchten. Wie die Autokraten gemeinsam danach trachten, jede auch noch so kleine Bewegung hin zu Veränderung in der Region zu blockieren und eine regionale Ordnung zu schaffen, die der ägyptische Politologe Amr Hamzawy einmal als „Pax Autocratica“ bezeichnet hat. Doch dies ist keine detaillierte Chronik der arabischen Welt der letzten zehn Jahre. Vieles wird nur gestreift, etwa der Bürgerkrieg in Syrien, manches wird ausgelassen, wie der palästinensisch-israelische Konflikt, der eine ganz eigene Erzählung braucht.

Das Buch fasst uns an der eigenen Nase und beschreibt, warum die Politik Europas in der Region mit dem Hashtag #fail charakterisiert werden kann. Die Lektion, dass arabische Autokraten keine Stabilität bringen und nicht die Lösung, sondern ein großer Teil des Problems sind, wurde in Europa immer noch nicht gelernt. Die europäischen Regierungen hofieren sie immer noch als Antiterrorkämpfer und als jene, die die Flüchtlingsströme aufhalten sollen. Derweil sind gerade sie es, die Terror und Flüchtlinge produzieren.

Aber die Pax Autocratica bekommt zunehmend Gegenwind. Gerade in den letzten Jahren formiert sich Widerstand, eine Art Arabellion 2.0. In Algerien und im Sudan haben sie es geschafft, ihre Langzeitautokraten loszuwerden. Nun kämpfen sie nach deren Sturz darum, auch das System Abdelaziz Bouteflika und Omar Al-Baschir umzukrempeln. Es ist ein ermüdender Kampf bergauf. Genauso wie der im Libanon und im Irak, wo die Menschen eines politischen Systems überdrüssig geworden sind, das die Religionszugehörigkeit in den Mittelpunkt der Politik stellt und sie gegeneinander aufhetzt. Hier findet ein grundsätzlicher Wandel statt: Die soziale Identität und nicht die religiöse Identität rückt ins Zentrum. Der junge arbeitslose Schiite hat entdeckt, dass ihn viel weniger von seinem jungen sunnitischen Gefährten unterscheidet, der das gleiche Schicksal teilt, als von seiner eigenen politischen Elite, die sich durch Korruption und Misswirtschaft schamlos bereichert.

Die Art des Regierens, die Misswirtschaft und die Korruption werden in vielen Teilen der arabischen Welt inzwischen infrage gestellt. Repression funktioniert, das haben die Jahre nach der Arabellion bewiesen. Aber sie hat offensichtlich auch ein Ablaufdatum, wenn die drängendsten Probleme der Menschen, vor allem der jüngeren Generation, nicht gelöst werden. Deren völlige Perspektivlosigkeit bedeutet, dass viele von ihnen in den festgefahrenen Strukturen kaum ihren Lebensunterhalt sichern, geschweige denn ihren Träumen nachgehen können.

Woher kommt die Unruhe in der arabischen Welt? Hat sie ihre Wurzeln in den sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen, in denen die Mehrheit der Araber und Araberinnen lebt, oder in der Art und Weise, wie sie regiert werden und kein Mitspracherecht haben? Oder ist die Religion, der Islam, an allem schuld? Letztere Antwort ist in Mode gekommen und hat eine ganze Reihe deutschsprachiger Bestseller hervorgebracht, die die arabische Welt und deren Misere mit Koran-Zitaten zu erklären suchen. Dieses Buch soll ein Gegengewicht dazu bieten. Statt des Koran wird hier das unselige arabische Dreigespann Armut, Ungleichheit und Machtlosigkeit analysiert, das Menschen zu stillschweigenden Besiegten, brutalen Terroristen oder verzweifelten Flüchtlingen macht, oder sie, wie in letzter Zeit wieder vermehrt, voller Wut und Leidenschaft mutig auf die Barrikaden steigen lässt.

Warum dieses Buch? In meiner Arbeit als Korrespondent für den arabischen Raum versuche ich zu verstehen, was um mich herum geschieht, in Kairo oder bei meinen Reisen in die Region, in den Irak, den Libanon oder nach Saudi-Arabien. Vieles von dem, was ich sehe, ist frustrierend, einiges traurig, anderes macht mich wütend, aber manches ist auch sehr ermutigend. Es ist ein Prozess, in dem sich Repression und Rebellion abwechseln und gegenseitig bedingen, in dem das Alte nicht mehr nachhaltig ist, das Neue sich aber noch nicht oder nur sehr schwer durchsetzen kann. Aber am Ende wird eine andere arabische Welt stehen. Der Weg dorthin ist blutig, chaotisch, verlustreich, aber auch kreativ und aufmüpfig, und er ist mit vielen Hoffnungen und Enttäuschungen gepflastert. Dieses Buch ist der Versuch, das große Ganze dieses Wandels zu erfassen.

Doch manchmal sind es auch kleine Geschichten, die einen die Zusammenhänge besser verstehen lassen. Viele habe ich hautnah miterlebt. Deshalb beschreibe ich diesen Prozess mal aus dem analytischen Weitwinkel, mal anhand von Reportagen, die in die Lebenswelt der Menschen hineinzoomen. Etwa, wenn ein Straßenkehrer in Kairo ein Jahr nach dem Aufstand gegen Mubarak seine Hoffnungen beschreibt, oder wenn ich eine Visite in einem Waisenhaus in Bagdad schildere, in dem Kinder von gefallenen IS-Eltern spielen, deren kleine Seelen nach Heilung schreien – vielleicht die wichtigste Front des Antiterrorkampfes. Auch die jungen Demonstranten in Bagdad haben einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen, wie sie nach jedem Angriff der Sicherheitskräfte immer wieder ihre Protestlager aufbauen, jeden Tag neue Tote beerdigen und trotzdem weitermachen.

Wegen der Corona-Krise mussten sie ihre Proteste dann doch vorerst abbrechen und ich mit meinem Buchmanuskript innehalten. Die ersten Kapitel waren geschrieben, da geschah etwas fundamental Einschneidendes: Ein unsichtbares Virus veränderte nicht nur die arabische, sondern die ganze Welt. Wir stecken mittendrin in dieser Krise, von der niemand genau zu sagen vermag, wie lange sie dauern wird und wie groß die Auswirkungen am Ende sein werden. Es ist schwer, da einen Ausblick zu geben, wohin sich die arabische Welt entwickeln wird. Im letzten Kapitel versuche ich es trotzdem. Denn eines ist für mich so sicher wie das Amen in der Kirche oder der fünfmal tägliche Gebetsruf von den Minaretten: Alle Ursachen, die in diesem Buch beschrieben werden, die die Menschen vor der Pandemie auf die Straße getrieben haben, werden mit ihr nur verschärft. Sie wird vielen Arabern und Araberinnen endgültig die Luft zum Atmen nehmen, nicht nur als Krankheit, sondern noch mehr wegen der wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen. George Floyds Hilferuf „I can’t breathe“ ist eine tägliche arabische Erfahrung der Repression, aber auch der sozialen Machtlosigkeit. Die große Explosion im Hafen von Beirut, wenige Tage bevor dieses Buch in den Druck geht, ist hier vielleicht ein Kulminationspunkt. Die staatliche Fahrlässigkeit und die Inkompetenz hinterlassen die Libanesen fassungslos. Es ist ein Sinnbild für die Krise der gesamten Region.

 

Im Januar 2016 besuchte ich die entlegene Stadt Sidi Bouzid im Südwesten Tunesiens, dort, wo sich etwas mehr als fünf Jahre zuvor der Straßenhändler Muhammad Bouazizi selbst angezündet hatte. Seine Verzweiflungstat war der traurige Flügelschlag eines Schmetterlings, der den Orkan der ersten Arabellion auslösen sollte. Am Rand des Ortes lag neben einer Reihe von Olivenbäumen der Friedhof, auf dem Muhammad Bouazizi begraben liegt. Über die südtunesische Steppenlandschaft wehte ein kalter Wind. Es ist ein schmuckloser muslimischer Friedhof, ebenso schmucklos wie der in den Boden eingelassene Grabstein, auf dem sein Name steht und der sich durch nichts von den benachbarten Gräbern unterscheidet. Sein Tod aus Verzweiflung war der Beginn der Hoffnung für Millionen Araber auf ein besseres Leben, dachte ich mir, als ich mich für ein paar Minuten neben sein Grab auf den Boden setzte.

Zwischen einer alten und einer neuen Ordnung in der arabischen Welt findet ein andauernder Kampf statt, ein Kampf um die Rolle der Religion in der Politik, ein Kampf für mehr soziale Gerechtigkeit, ein Kampf, Millionen Menschen aus ihrer Armut zu holen. Muhammad Bouazizis Tod hat einen Prozess ausgelöst, dessen letztes Kapitel auch zehn Jahre nach seinem Tod noch lange nicht geschrieben ist. Nein, die arabische Welt ist nicht im Winter eingefroren, sie ist mitten in einem spannenden Prozess des Wandels, und der ist nicht geradlinig. Europa nimmt die arabische Welt oft nur in kurzen, 1:30 Minuten langen Fernsehzuschaltungen wahr, in denen eine Akut-Situation beschrieben wird, in der gerade die Hütte brennt. Dieses Buch ist das Gegenteil. Es springt nicht von Ereignis zu Ereignis, es ist langsam, beschreibt Prozesse. Es schaut von oben, und es fährt mitten hinein.

Die Realität des Nahen Ostens ist kompliziert, aber nicht so kompliziert, dass man sie nicht verstehen kann. „Al-Sabr Gamil“, zu Deutsch „Geduld ist schön“, lautet ein arabisches Sprichwort. Das ist vielleicht das beste Motto für die Leserinnen und Leser dieses Buches. Denn wer dieses Buch in die Hand nimmt, braucht ein wenig von dieser schönen Geduld. Es ist ein bisschen wie im Orient-Express von Agatha Christie mit Inspektor Poirot auf der Suche nach dem Mörder. Am Ende werden sich die Indizien, Spuren und Fäden zu einem klaren Bild und einem nahöstlichen Aha-Erlebnis zusammenfügen.

Aber für die geduldigen Menschen der Region gilt noch etwas anderes. „Jede Geduld hat ihre Grenzen“, lautet der Titel eines Liedes der verstorbenen ägyptischen Sängerin und Diva Umm Kulthum, das jede Araberin und jeder Araber kennt. Uns stehen stürmische Zeiten in der arabischen Nachbarschaft bevor. Ich hoffe, dass dieses Buch es schafft, den Kontext für die Leserinnen und Leser so herzustellen, dass sie die Dinge einordnen können, die in der Nahost-Region auf uns zukommen werden. Wenn dann dem Korrespondenten in Kairo demnächst bei einer Live-Schaltung nach 1:30 Minuten wieder einmal ins Ohr geflüstert wird, dass er zum Schluss kommen muss, und er entspannt seinen letzten Satz in die Kamera sprechen kann, weil er weiß, dass die Zuschauer auch den ungesagten Rest der Geschichte kennen – dann hat dieses Buch seinen Zweck erfüllt.

Kairo, am 7. August 2020

Ägypten zurück, Tunesien nach vorn

Am 11.2.2011 stand ich nach 18 Tagen Aufstand mit Tausenden Demonstranten auf dem Tahrir-Platz in Kairo. Der Diktator Hosni Mubarak hatte gerade abgedankt. Überall wurde gefeiert, gesungen und getanzt. In meinem Kopf musste sich die Nachricht aber erst noch langsam setzen. Der Mann, der Ägypten schon regierte, als in Österreich noch Bruno Kreisky und in Deutschland Helmut Schmidt im Amt waren, er war Geschichte. Es waren Tage der Zuversicht. Wir alle standen euphorisch auf dem Tahrir und dachten, die Zukunft Ägyptens und der gesamten arabischen Welt werde nun friedlich und demokratisch ausgehandelt.

Die Wirklichkeit erwies sich als viel komplizierter und meist enttäuschender. Auch im benachbarten Libyen hatten sie den Diktator, Muammar Al-Gaddafi, bald gestürzt. Doch das Land brach in einem Krieg der Milizen auseinander, in dem es viele Jahre lang keine Sieger, dafür ein ganzes Land als Verlierer geben sollte. In Syrien hatte Baschar Al-Assad von den Umstürzen bei seinen Diktatoren-Kollegen gelernt, nicht lange zu zögern, sondern sofort auf die Demonstranten schießen zu lassen. Das Land versank in einen Bürgerkrieg, der als abschreckendes Beispiel dafür diente, wie gefährlich der Versuch sein kann, mit den alten Strukturen zu brechen. Und dann waren da noch die Golfstaaten. An ihnen ging der Kelch des arabischen Wandels zunächst vollkommen vorüber, weil sie alle Widersprüche mit Petrodollars zukleistern konnten. Die Hoffnungen auf friedlich und demokratisch ausgehandelte Veränderungen lasteten ausschließlich auf Ägypten und Tunesien.

In beiden Ländern brach ein Wettstreit zwischen zwei grundsätzlich unterschiedlichen politischen Konzepten aus: dem politisch-islamistischen Trend auf der einen und den Liberalen und Säkularen auf der anderen Seite. Aber dann nahmen die Entwicklungen in diesen beiden Ländern einen sehr unterschiedlichen Verlauf.

In Ägypten ergriff das Militär die Gelegenheit, trat in einem politisch völlig polarisierten Land als Retter der Nation auf, riss die Macht an sich und schloss zunächst die Islamisten aus dem politischen System aus, um bald danach jeglichen Dissens zu kriminalisieren. Tunesien war zwar ebenso polarisiert wie Ägypten, schlug aber einen, auch nicht einfachen, demokratischen Weg ein, um die Widersprüche zu überwinden.

Ägypten: Muslimbrüder versus Militär

Während des Aufstandes gegen den Langzeitdiktator Hosni Mubarak im Januar 2011 machte am Kairoer Tahrir-Platz ein Witz die Runde. „Jemand hat Mubarak erzählt, dass sich die Menschen von ihm verabschieden wollen. Und Mubarak fragt: Ja, wo gehen sie denn hin?“ Doch es war Ägyptens Präsident Mubarak, der wenige Wochen später ging. Das Volk blieb, zunächst voller Hoffnungen.

Da war beispielsweise Adham. In seiner Leidenschaft, die Straßen zu fegen, erinnerte er ein wenig an Beppo Straßenkehrer aus dem Kinderbuch „Momo“. Auch wenn es nicht leicht war, den Müll zwischen den in zwei Reihen parkenden Autos hervorzukehren, gehörte seine Straße zu den saubereren im Gassengewirr der Kairoer Innenstadt. Fast jeden Tag verließ Adham, ein Vater von sieben Kindern, um vier Uhr morgens sein Haus, um mit der Arbeit bis zum frühen Nachmittag fertig zu sein. Selbst während des 18-tägigen Aufstandes gegen Mubarak hatte Adham jeden Tag pflichtbewusst seine Straße gefegt, die nur wenige hundert Meter vom Tahrir-Platz entfernt liegt. Ein Jahr nach dem Aufstand war der ägyptische Beppo noch voller Hoffnung, als ich ihn eines Morgens während seiner Arbeit in ein kurzes Gespräch verwickelte.

Auf die Frage, was er sich vom Aufbruch in Ägypten erwarte, zögerte er nicht lange und zog einen Schlüsselanhänger aus seinem verdreckten Overall. Daran hing ein kleiner Stempel, auf dem sein Name eingraviert war. Adham, der nie lesen und schreiben gelernt hat, benutzt ihn wie ein Siegel, wenn er offizielle Dokumente abzeichnen muss. „Ich möchte, dass meine Kinder alle zur Schule gehen und so etwas nicht mehr brauchen“, antwortete er. So simpel und so schwer zugleich können die Forderungen an eine neue arabische Welt sein.

Adham war ein gutes Beispiel für die großen sozialen Herausforderungen, die einer arabischen Welt im Aufbruch bevorstanden. Er verdiente umgerechnet gerade einmal 55 Euro im Monat, neben den Trinkgeldern, die ihm die Anrainer manchmal zusteckten. „Ich will nicht reich werden. Das Wichtigste ist, dass alle Leute zufrieden sind und nicht nur einige wenige auf Kosten der anderen leben“, sagte er damals bescheiden.

Für Politik, erzählte er, habe er eigentlich keinen Kopf. Zu den ersten Parlamentswahlen, Ende 2011, sei er aber gegangen, das erste Mal in seinem Leben. Nachdem er im Fernsehen eine Frau gesehen hatte, die sich im Rollstuhl vor dem Wahllokal anstellte, habe er beschlossen, dass auch er gehen müsse. Gewählt habe er die Muslimbrüder. „Weil alle anderen es auch getan haben“, sagte er.

Tatsächlich haben bei den ersten freien Wahlen des Landes im Februar 2012 über 70 Prozent die Islamisten gewählt, meist die Muslimbruderschaft und die Salafisten. Es waren zum Teil turbulente Parlamentssitzungen, etwa als der salafistische Abgeordnete Mamdouh Ismail mitten in einer Sitzung aufstand und einen Gebetsruf ertönen ließ. Das war auch den Muslimbrüdern zu viel. Deren Parlamentssprecher rief den salafistischen Abgeordneten streng zur Ordnung.

Erzkonservative Islamisten nutzten das Parlament als Bühne, etwa als sie einen Gesetzesentwurf einbrachten, der das Heiratsalter für Mädchen auf 16 Jahre herabsetzen sollte. Die meisten bizarren Vorschläge stammten von salafistischer Seite, aber die Muslimbrüder distanzierten sich nicht deutlich genug davon. Für liberale Ägypter entwickelte sich das Parlament immer mehr zum Horrorkabinett, wenngleich kaum einer der kruden Gesetzesvorschläge am Ende wirklich angenommen wurde. Am 14. Juni 2012 wurde das Parlament dann aufgelöst. Das Verfassungsgericht, in dem ausschließlich Vertreter saßen, die noch von Mubarak bestimmt worden waren, urteilte, dass das Wahlprozedere nicht verfassungskonform gewesen sei, da Parteien auch Kandidaten für jenes Drittel des Parlaments aufgestellt hatten, die unabhängigen Kandidaten vorbehalten waren. Mit der Auflösung des Parlaments konzentrierte sich der Kampf um politische Macht in der Nach-Mubarak-Zeit auf die Präsidentschaftswahlen, deren erste Runde bereits vor der Parlamentsauflösung begonnen hatte und die mit der Stichwahl mehrere Wochen dauern sollten.

Beim ersten Wahlgang, der bereits im Mai standfand, hatten die Muslimbrüder bereits einiges an Stimmen eingebüßt. Nur die Hälfte der Ägypter war damals zu den Urnen gegangen. Sie gaben in diesem ersten Wahlgang zum größeren Teil Kandidaten ihre Stimme, von denen sie einen wirklichen Wandel erhofften, allen voran dem säkularen Nasseristen Hamdin Sabahi und dem liberalen Aussteiger aus der Muslimbruderschaft Abdel Moneim Abul Futuh. Diese konnten sich allerdings aufgrund der Aufsplitterung nicht durchsetzen.

In die Stichwahl im Monat darauf kamen am Ende Ahmad Schafik, ein Restposten des Mubarak-Regimes, und der Muslimbruder Muhammad Mursi. Ihr äußerst knapper Erfolg beruhte damals wohl auch darauf, dass die alten Seilschaften des Regimes und die seit 80 Jahren im Land bestehende Muslimbruderschaft ihre fest verflochtenen Strukturen nutzen konnten, die bis in kleinste ägyptische Dorf reichten.

In einem alten Wohnhaus aus den 1920er Jahren, wenige hundert Meter vom Tahrir-Platz entfernt, bekam man damals hinter jeder Tür eine andere und doch sehr typische Antwort, wer von den beiden Kandidaten das Land führen sollte. Im sechsten Stock etwa wohnte in einer kühlen Altbauwohnung mit hohen Decken der Leiter einer Schreibwarenfiliale mit seiner Frau und seinem Sohn. Sie waren während des Aufstandes selbst auf dem Tahrir-Platz gewesen. Er werde Mursi wählen, kündigte der Schreibwarenhändler an, wenngleich mit Bauchschmerzen. „Ich wähle ihn nicht wegen meiner Liebe zu den Muslimbrüdern, sondern weil Schafik das alte Regime repräsentiert, das wir nach 30 Jahren endlich losgeworden sind“, sagte er damals. Schafik habe die mächtige Armee und den alten Sicherheitsapparat hinter sich. Wenn der Präsident werde, hätten die Ägypter nichts erreicht. Er, der Schreibwarenhändler, wolle vor allem eine Säuberung der staatlichen Institutionen von den Resten des alten Regimes.

 

Natürlich höre er auch bei den Diskussionen genau zu, in denen darüber gesprochen werde, dass die Muslimbrüder sich an der Macht festsetzen könnten und man sie, wie einst die Regierungspartei Mubaraks, nur schwer wieder loswürde. Aber das ganze Gerede von Schafik, der die Muslimbrüder mit den Taliban oder Bin Laden vergleiche, entspreche auch nicht der Wahrheit.

Im dritten Stock des Hauses lag die Praxis eines Internisten. Sein Wartezimmer war voll. Auch er wollte das seiner Meinung nach kleinere Übel wählen, nur dass das für ihn Schafik war. Für den Arzt ging es darum, einen Präsidenten der Muslimbrüder zu verhindern. „Wenn die an die Macht kommen, dann werden sie jede Opposition zum Feind Gottes erklären“, befürchtete er. Dann werde Ägypten wie Afghanistan. Vor allem aber hoffte er, dass Schafik wieder für Ruhe und Ordnung sorgt. „Wir leben jetzt eineinhalb Jahre im Chaos. Es gibt keine Arbeit und das Land ist unproduktiv, die Sicherheitslage und der Verkehr sind eine Katastrophe“, sagte er. Vielleicht könne Schafik das in den Griff kriegen. Schafik sei aus seinen Zeiten in der Armee und später bei der staatlichen Fluglinie Egypt Air als Tyrann bekannt. „Dieser Defekt könnte Ägypten jetzt kurzfristig nützen“, glaube er.

Am Ende wurde Mursi mit 52 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt, von vielen Ägyptern nicht weil sie vom Programm der Muslimbrüder überzeugt waren, sondern weil sie auf jeden Fall verhindern wollten, dass mit Schafik das alte Regime durch die Hintertür zurückkam.

Doch parallel zur Präsidentschaftswahl fand eine andere Entwicklung statt. Das Militär begann seinen schleichenden Weg zur Macht. Noch bevor Mursi am 24. Juni 2012 als offizieller Wahlsieger bekanntgemacht wurde, erließ der Oberste Militärrat per Dekret eine sogenannte Übergangsverfassung, mit der sich das Militär weitreichende Befugnisse sicherte, auf Kosten des Präsidenten Mursi. Die eine demokratische Institution, das Parlament, war aufgelöst worden; die zweite, das Amt des Präsidenten, wurde ausgehöhlt. Übrig blieb ein Oberster Militärrat, der im Hintergrund alle Fäden zog.

Mursi und die Muslimbrüder hatten jetzt zwei Optionen. Sie hätten die Möglichkeit gehabt, den anderen politischen Kräften die Hand zu reichen, um ein Bündnis gegen die Rückkehr des alten Systems zu schmieden. Man hätte sich darauf einigen können, zunächst den kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden, etwa die Reform des Staatsapparates und seiner Institutionen, allen voran des Sicherheitsapparates. Möglich wäre auch gewesen, eine Regierung der Nationalen Einheit zusammenzuzimmern. Man hätte christliche Kopten an eine prominente Stelle setzen können, um der religiösen Minderheit die Angst vor einer Islamisierung des Landes zu nehmen.

Stattdessen arbeiteten die Muslimbrüder an ihrem ihnen wichtigsten politisch-islamistischen Projekt: einer neuen Verfassung für das Land. Die wurde von einer verfassunggebenden Versammlung geschrieben, die noch vom alten, inzwischen aufgelösten Parlament eingesetzt worden war, in dem Muslimbrüder und Salafisten die Mehrheit hatten. Und obwohl Mursi bei Gesprächen mit der liberalen, linken und nasseristischen Opposition versprochen hatte, diese nur in einem nationalen Konsens zu erarbeiten, boxten die Islamisten am Ende ihre Verfassung durch, die dann in einem Volksreferendum, an dem nur ein Drittel der Wahlberechtigten teilnahm, mit 64 Prozent der Stimmen angenommen wurde.

Die Muslimbrüder hatten tatsächlich geglaubt, dass sie mithilfe der Salafisten ihr politisches Projekt durchsetzen könnten und das Militär stillhalten würde. In ihrer politischen Unreife, einem Erbe von 30 Jahren Mubarak, in denen die Opposition keinerlei Spielraum hatte, Politik zu machen und zu lernen, machten alle Seiten in dieser entscheidenden Zeit des demokratischen Übergangs riesige Fehler.

Um ihre demokratische Legitimität zu behalten, hätten die Muslimbrüder ihre konservativen Islamvorstellungen auflockern können und Liberale und Linke hätten zur Kenntnis nehmen müssen, dass sie Ägypten nicht über Nacht in ein säkulares Land verwandeln können, sondern die konservative ägyptische Gesellschaft dort abholen müssen, wo sie sich befand. Und alle Seiten hätten sich ernsthaft des Themas annehmen müssen, das der Mehrheit der Ägypter auf den Nägeln brannte und brennt: der sozialen Frage.

Langer Rede kurzer Sinn: Alle Seiten hätten über ihren Schatten springen müssen. Getan hat das am Ende keine. Die Muslimbrüder wählten die zweite Option: Sie glaubten, ihren eigenen konservativen Kurs, auch mithilfe der erzkonservativen radikalislamischen Salafisten, weiterfahren und ihre Agenda durchsetzen zu können. Und die meisten Liberalen und Linken schossen sich auf die Muslimbruderschaft ein und vergaßen dabei, dass das alte System noch lange nicht aus dem Weg geräumt war. Das Land, das den Sturz des Diktators zuvor noch enthusiastisch gemeinsam gefeiert hatte, fand sich in einer tiefen Polarisierung wieder. Es war eine Zeit, in der die Ägypter praktisch zusahen, wie sich auf einer eingleisigen Strecke zwei Züge entgegenkommen. Wenn niemand die Bremsen zog, war es nur eine Frage der Zeit, bis es krachen würde.