Buch lesen: «Der Moment der Wahrheit»
Der Moment der Wahrheit
von Karen Stivali
(Moments in time 2)
Aus dem Englischen von Elian Mayes
Impressum
© dead soft verlag, Mettingen 2021
© Karen Stivali, 2015
Titel der Originalausgabe: Moment of Truth
Übersetzung: Elian Mayes
Cover: Irene Repp
http://www.daylinart.webnode.com
Bildrechte:
© Andrey Kiselev – www.stock.adobe.com
1. Auflage
ISBN 978-3-96089-432-2 (epub)
Inhalt:
Collin hatte eigentlich erwartet, einen weiteren Sommer lang Autos zu reparieren und in der College Pizzeria zu arbeiten. Stattdessen lebt er in einem Strandhaus auf Fire Island, kellnert in einem schicken Restaurant direkt am Meer und zum ersten Mal, seit er und Tanner zusammen sind, können sie sich öffentlich als Paar zeigen. Auch wenn es manchmal schwierig ist – Collin ist glücklicher als jemals zuvor. Und verliebter. Doch die neue Freiheit birgt auch Unsicherheiten und Momente des Zweifels und der Eifersucht schleichen sich ein.
An WM. Zusammen haben wir so viele glückliche Sommer auf Fire Island verbracht.
Du wirst vermisst.
Anmerkungen
Großer Dank gilt Karen Booth, KD Wood, Kira Decker, Amanda Usen und Mandy Penndington, weil sie so wunderbare Betaleserinnen waren. Ich hätte es nicht ohne euch geschafft.
Kapitel eins
Ich hatte nicht erwartet, dass das Bett so groß sein würde. Und ich hatte nicht gewusst, dass es nur ein Bett geben würde. Tanner hatte mir das Strandhaus im Detail beschrieben. Fünf Schlafzimmer, direkt am Strand, alt und verwittert, aber immer noch in gutem Zustand. Es sah genau so aus, wie ich es mir vorgestellt hatte. Graue Schindeln. Sandige Einfahrt. Knarrende Holztreppe. Er hatte mir sogar erzählt und dafür gesorgt, dass wir das eine Zimmer im obersten Stockwerk für zusätzliche Privatsphäre bekommen würden.
Aber ich hatte nicht gewusst, dass dieses Zimmer nur ein Bett haben würde. Ein großes Doppelbett. Verglichen mit den Betten in unserem Schlafsaal, sah es enorm groß aus. Dekadent. Ich konnte es kaum erwarten, mich mit Tanner darin auszubreiten und es voll auszunutzen. Ich kam auch nicht umhin, daran zu denken, dass jeder im Haus wissen würde, dass wir uns ein Bett teilten.
Mein Herzschlag beschleunigte sich und das hatte nichts mit den zwei Treppen zu tun, die wir gerade hinaufgestiegen waren. Wir waren seit drei Monaten zusammen, aber trotzdem wusste fast niemand, dass wir ein Paar waren. Meine Familie, eine Katastrophe, die mich immer noch zusammenzucken ließ, wenn ich daran dachte. Seine Familie, die nicht netter hätte sein können – seine Mutter hatte uns für die Woche zwischen dem Auszug aus dem Wohnheim und dem Umzug an den Strand bei ihr übernachten lassen und sein Vater hatte uns Karten für zwei Vorstellungen besorgt und uns zu einem teuren Abendessen eingeladen. Und Wendy, die sich selbst leise als unsere persönliche Tuntenmutter bezeichnete.
Tanner ließ seinen Seesack vor dem großen Fenster auf den Boden fallen und riss an der Schnur, um die Jalousien hochzuziehen. Die Aussicht raubte mir den Atem. Ich wusste, dass es nur ein kurzer Spaziergang zum Strand war, aber ich hatte nicht bemerkt, dass uns nur Sand und hohes Gras vom Ozean trennten.
»Wow.«
»Ich hab’s dir gesagt. Ziemlich fantastisch, was?«
»Das kann man wohl sagen.«
Tanner öffnete den Riegel und schob das Fenster auf. Es quietschte, als er es ein wenig absenkte, dann hakte er seine Finger unter das Holz und hob es höher. Die Muskeln in seinen Armen und in seinem Rücken zogen sich zusammen und ließen meinen Puls aus einem anderen Grund rasen. Er drehte sich um und erwischte mich beim Starren. Sein sexy Mund wölbte sich zu einem verruchten Lächeln.
»Weißt du«, sagte er und sah mich auf eine Weise an, die mir das Gefühl gab, als würde ich vor mehr als nur der Sommerhitze schmelzen, »man sagt, am Strand schmeckt alles besser.«
»Ach ja, wirklich?«
Er zog mich in einen Kuss. Heiß. Hungrig. Seine Zunge strich um meine, aber sie hätte genauso gut den Kopf meines Schwanzes umkreisen können. Ich schmiegte mich an ihn, seufzte in seinen Mund und drückte meine Hüfte gegen seine.
Tanners Mutter hätte nicht herzlicher sein können, aber sie war auch die ganze Zeit zu Hause, und ich hatte mich in ihrer kleinen Wohnung nicht wohl genug gefühlt, um mehr zu tun, als ihm einen Gutenachtkuss zu geben. Die Woche des Zölibats hatte mich so geil gemacht, dass ich kaum noch geradeaus sehen konnte.
Als ich ihn tiefer küsste, versenkte ich meine Finger in seinem Haar. Ich hatte das seidige Gefühl vermisst. Die feuchte Luft füllte sich mit dem Kokosnuss-Limetten-Duft seines Shampoos. Ich atmete ihn ein und genoss ihn – seinen Geruch, seinen Geschmack, seine Härte. Ich zog mich gerade so weit zurück, um sein Hemd hoch und über seinen Kopf zu ziehen.
Tanner schnappte sich den Saum meines T-Shirts, schlüpfte rückwärts auf das riesige Bett und zog mich mit sich. Eine ganze Woche lang hatte ich mir nichts sehnlicher gewünscht, als seinen Körper an meinem zu spüren. Durch das Reiben an ihm tanzten die Sterne hinter meinen Augen. Ich hätte sofort kommen können. Nur davon, ihn neben mir zu spüren. Einfach nur, weil ich wusste, dass er genauso hart war wie ich, dass er das genauso sehr wollte wie ich.
Ich zwang mich, zu atmen, und rollte mich von ihm herunter, ohne zu wissen, was ich zuerst ausziehen wollte, mein Hemd oder seine Hose. So oder so wollte ich weniger Kleider, die uns trennten, je früher, desto besser. Bevor mein sexbesessenes Gehirn herausfinden konnte, was zu tun war, schlug eine Tür zu.
»Woop-woop! Wir sind da!«
Stimmen dröhnten von unten, gefolgt von dem dumpfen Geräusch von Koffern, die ins Haus rollten, und Schritten, die die Treppe hinauftrampelten.
Mein Körper erstarrte und zwar nicht auf eine gute Art und Weise. Ich setzte mich so schnell auf, dass ich fast vom Bett fiel.
Tanner setzte sich neben mir auf und rieb mir den Rücken. Seine Hand fühlte sich warm und tröstlich an, aber das reichte nicht aus, um mich zu beruhigen.
»Collin, es ist okay. Alle, die hier wohnen, sind total cool. Mit allem.«
Das hatte er schon einmal gesagt, aber ich war zu aufgeregt, um zu fragen, was das bedeutete. »Kennst du die alle?«
»Ja.«
»Und sie wissen … über mich Bescheid?«
»Sie wissen, dass du mein Zimmergenosse von der Uni bist. Und ja, sie wissen, dass du mein Freund bist. Vertrau mir. Es interessiert niemanden einen Scheiß. Außerdem werden sie dich mögen.«
Meine Augen blickten in seine. Er sah verständnisvoll, aber zugleich amüsiert aus. Seine Finger kneteten meine Schulter und ich wollte ihn auf das Bett schieben und beenden, was wir angefangen hatten, doch ich hörte erneut Stimmen.
»Tanner? Bist du da oben?«, rief ein Typ.
»Bin in einer Sekunde unten. Wir sind auch gerade erst gekommen.« Er streichelte mir mit der Hand über die Haare, legte sie an meine Wange und zwang mich, ihn anzusehen. »Du wirst dich besser fühlen, wenn du sie kennengelernt hast. Es sei denn, du willst hier oben bleiben, bis wir fertig sind …«
Verführerisch. So verdammt verführerisch. Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Ich kann mir einen besseren ersten Eindruck vorstellen als das Stöhnen, das sie von mir hören würden.«
»Glaubst du, du würdest stöhnen, hm?«
»Ich bin seit vier Tagen nicht mehr gekommen.«
Tanner lachte. »Wir waren sieben Tage bei meiner Mutter.«
»Ich habe mir eines Morgens unter der Dusche einen runtergeholt.«
»Ich wäre mit dir mitgekommen.« Er zwinkerte mir zu. Seine Augen funkelten wie gottverdammte Edelsteine. Als ob sie dachten, sein Witz sei das Witzigste, was sie je gehört hatten.
»Ich weiß, dass du mit mir gekommen wärst. Deshalb bin ich an dem Morgen so früh aufgestanden.«
»Aber nur das eine Mal? Die ganze Zeit, die wir dort waren?«
Ich schaute wieder auf den Boden und nickte.
»Nun, das werden wir wiedergutmachen. Und du wirst dich hier nicht so fühlen müssen. Das ist unser Haus, den ganzen Sommer lang. Und wir sind ganz sicher nicht die einzigen Menschen, die darin Sex haben werden.«
Schon der Gedanke, dass wir Sex haben würden, brachte mich zum Lächeln. »Sag mir noch einmal, wer hier wohnt.«
Meine neuen Mitbewohner mit einer heftigen Erektion zu treffen, gehörte nicht zu meinem Plan, also musste ich mich auf etwas anderes als Tanner konzentrieren.
»Suzanne und Bill besitzen das Haus. Sie sind Ende zwanzig, verheiratet seit etwa fünf Jahren, glaube ich. Mein Vater kennt sie aus der Theaterszene. Bill ist Bühnenbildner und Suzanne ist Schriftstellerin. Sie können sich dieses Haus und ihre Wohnung in der Stadt nicht leisten, es sei denn, sie vermieten die anderen Zimmer.«
»So hast du letzten Sommer hier gewohnt?«
»Ja. Die letzten beiden Sommer. Mein Dad hat gehört, dass sie Mieter suchten, also nahmen Wendy und ich jeweils ein Zimmer. So kam Wendy mit Dex zusammen, der auch wieder hier wohnt.«
»Sie sind also seit zwei Jahren zusammen?«
»Fast auf den Tag genau. Letzten Sommer haben sie sich dieses Zimmer geteilt, aber dieses Jahr haben sie eines der kleineren Zimmer unten, da Wendy nur an den Wochenenden hier sein kann.«
Sie hatte mir gesagt, dass sie deswegen enttäuscht war, aber sie hatte ein Praktikum bei einem Modemagazin bekommen – ihr Traumjob – und das konnte sie nicht ablehnen. »Arbeitet Dex mit uns im Restaurant?«
»Nein. Er ist eine Treuhandfonds-Göre. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er nur an seiner Bräune arbeiten wird. Ich glaube, ich habe ihn noch nie etwas anderes tun sehen als lesen und Gitarre spielen, und ich habe zwei Sommer bei ihm gelebt.«
»Magst du ihn nicht?«
»Er ist nett genug. Wir haben nur nichts gemeinsam.«
Abgesehen davon, dass ihr beide mit Wendy geschlafen habt. Ich behielt den Kommentar für mich. »Ist das alles? WG-mäßig, mein ich?«
»Nein. Da ist Bryan. Er ist Suzannes jüngerer Bruder. Ziemlich sicher ist er in unserem Alter. Er geht auf die NYU. Er studiert Fotografie, aber er ist auch ein klasse Musiker. Seine Band spielt überall, aber im Sommer bucht er eine Reihe von Auftritten hier draußen. Er wird also hier sein, wenn er nicht gerade auf Tournee ist.« Tanner hielt inne, ein Lächeln spielte auf seinen Lippen. »Oh, ja. Und er ist schwul.«
Meine Augen wurden groß. »Wirklich?«
»Ja. Und sehr out. Als ich sagte, niemand hier würde zweimal über uns nachdenken, meinte ich es ernst.«
Das klang zu schön, um wahr zu sein, aber ich hoffte wirklich, dass es so war. »War es das?«
»Nein.« Da war ein Unterton in Tanners Stimme, die ich noch nie zuvor gehört hatte. »Da ist Maggie.«
Irgendetwas an seinem Tonfall ließ mich an »Ex-Freundin« denken. War es das? Gab es zwei Frauen in dem Haus, mit denen Tanner geschlafen hatte? »Wie ist sie denn so?«
»Maggie ist …«
Ein Kichern hallte durch das Treppenhaus. »Maggie ist was?«
Ein Elfenmädchen mit schwerer schwarzer Ponyfrisur und einem hohen Pferdeschwanz auf dem Kopf spähte um die Ecke unserer Tür.
Tanner rollte mit den Augen.
Das Elfenmädchen flatterte mit ihren langen, falschen Wimpern und gab ihm ein übertrieben unschuldiges Gesicht. »Maggie ist was, Tanner? Und wer ist dein Freund? Er ist süß.«
Tanner warf mir einen Blick zu, den ich nicht ganz lesen konnte – eine Mischung aus Ärger und Besorgnis. Er holte tief Luft. »Maggie ist Tänzerin, Sängerin und Schauspielerin und spielt in vielen Produktionen meines Vaters mit.«
Maggie grinste. »Ich bevorzuge den Begriff Ingénue.«
Nichts an ihr sah für mich auch nur im Geringsten unschuldig oder naiv aus.
Ein Muskel in Tanners Kiefer zuckte, aber er hielt seine Stimme gleichmäßig. »Und sie ist seine Ex-Freundin.«
Warte. Von der hatte er gesprochen, als er gesagt hatte, sein Vater würde mit einer in unserem Alter ausgehen? Heilige Scheiße.
»Siehst du?«, sagte sie und schaute mich mit ihren cartoonhaft großen, schwarz umrandeten Augen direkt an. »Ingénue. Die femme fatale hat ihn mir weggenommen.«
»Kein neuer Regisseur zum Verführen?«, stichelte Tanner, aber ich hörte den Hauch von Schneidigkeit in seinen Worten.
»Noch nicht. Ich stecke mitten in ... Projekten.« Ihr Blick huschte zwischen Tanner und mir hin und her. »Ich glaube, ich orientiere mich diesmal jünger. Vielleicht ein Schüler aus meiner Klasse.«
»Du unterrichtest?«, fragte ich. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie etwas unterrichtete.
»Yoga und Tai Chi. Am Strand. Drei Morgen in der Woche. Du solltest kommen.« Die atemlose Pause, bevor sie das Wort »kommen« sagte, brachte Tanner ein weiteres Augenrollen ein.
Die Tür schlug wieder zu. »Jemand zu Hause?«
Maggies Augenbrauen hoben sich. »Wer ist da? Er klingt heiß.«
Tanner ging einen Schritt auf die Tür zu und führte Maggie in den Flur. »Es sind über dreißig Grad draußen und das Haus ist nicht klimatisiert. Allen ist heiß.«
»Zumindest jeder in diesem Raum.« Sie zwinkerte mir zu und trottete die Treppe hinunter.
»Das ist die Ex deines Vaters?« Ich hatte Tanners Dad kennengelernt. Er war wie eine ältere graue Version von Tanner. Unbekümmert. Schlau. Filmstar-attraktiv. Und eindeutig in der Lage, Mädchen zu kriegen, bei denen ich zu viel Angst für ein Gespräch gehabt hätte, selbst wenn ich auf sie gestanden hätte. Vor allem, wenn ich auf sie gestanden hätte.
»Ja. Bereit, den Rest des Hauses kennenzulernen?«
»Na, dann auf.« Nach Maggie würde wohl nichts mehr eine Überraschung sein.
Kapitel zwei
Das Erdgeschoss des Hauses war zu einem Meer aus Kisten und Koffern geworden. Ich war erstaunt, wie viel Zeug dort lag. Nach der »Keine-Autos-erlaubt-Politik« von Fire Island musste alles vom Dock per Handwagen zu den Häusern gebracht werden. Es war nicht förderlich, viele Sachen mitzunehmen. Tanner hatte mich gewarnt, sodass ich nur einen Rucksack mit meinem Laptop und einen Koffer voller Kleider mitgebracht hatte. So ziemlich alles andere, was ich besaß, war in der Autowerkstatt eingelagert, die nach dem Unfall Karosseriearbeiten an meinem Auto durchführte. Ich hatte ein paar Mal für den Besitzer gearbeitet und er hatte gesagt, es mache ihm nichts aus, meine Sachen über den Sommer hinweg aufzubewahren.
Tanner und ich gingen um die Kisten herum, als wir uns auf den Weg in die Küche machten. »Wie haben die den ganzen Scheiß hierher bekommen?«, fragte ich.
»Diese Kinder am Dock mit den Wagen sind wie Inselpagen. Sie schleppen dein Zeug für ein paar Dollar. Außerdem besitzt Suzanne einen dieser großen Wagen, die auf dem Parkplatz am Dock standen.«
Verrückt. Ich hätte nie gedacht, dass ich irgendwo leben würde, wo es keine Autos gab. Es war cool, aber ich musste mich erst daran gewöhnen. Seit dem Unfall hatte ich es schon schwer genug, ohne Auto zu sein. Ich hoffte wirklich, dass ich diesen Sommer genug Geld verdienen würde, um die Kosten für die Reparaturen zu decken, die ich selbst nicht durchführen konnte.
Die Küche war der bei weitem größte Raum im Haus, offen und hell, mit Fenstern entlang einer ganzen Wand und einem Schieberegler zu einer großen Terrasse, die sich um zwei Seiten des Hauses wand. Die Schränke waren alt und weiß gekalkt, aber die Arbeitsplatten sahen neu, schwarz und glänzend aus. Marmor oder Granit. Alle Geräte waren aus Edelstahl und sahen auch ziemlich neu aus. Reihen von Töpfen, Pfannen und Schüsseln bedeckten die Regale, die eine der kürzeren Wände auskleideten. Irgendjemand hier musste wohl gern kochen.
Ich spannte mich an, als wir den Raum betraten. Wir würden hier einen ganzen Sommer verbringen, mit all diesen Leuten, die ich nicht kannte. Was, wenn sie mich nicht mögen? Was, wenn Tanner sich irrt, was ihre Offenheit angeht?
Eine Frau in abgeschnittenen Jeans und einem schwarzen Tank-Top stand auf einem Tritthocker und holte Krüge aus dem Schrank über dem zweitürigen Kühlschrank. Ihr braunes Haar war zu einem behelfsmäßigen Dutt zusammengedreht und wurde von etwas gehalten, das wie eine Heftklammer aussah. Sie zog eine Grimasse, als sie versuchte, weiter in den Schrank zu greifen.
»Brauchst Hilfe?«, fragte Tanner.
Sie drehte sich zu ihm um und grinste breit. Sie hatte die blauesten Augen, die ich je gesehen hatte. Sie leuchteten auf, als sie vom Hocker hüpfte und ihre Arme um ihn warf. »Tan-Man!«
Tan-Man? Wenn ich nicht so nervös gewesen wäre, hätte ich laut gelacht.
»Hey, Suzie-Q.« Er umarmte sie fest und hob sie vom Boden.
Sie gab ihm einen lauten Knutscher auf die Wange, dann richteten sich ihre blauen Laserstrahlen auf mich, aufmerksam, prüfend. Mein Herz klopfte Morsezeichen gegen meine Rippen. Ihr warmes Lächeln kehrte zurück. »Du musst Collin sein.«
»Schön, dich kennenzulernen.« Ich streckte meine Hand aus, aber sie ignorierte es und umarmte mich direkt.
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte mich fest, während ich ihr nervös auf den Rücken klopfte, als hätte ich noch nie zuvor jemanden umarmt. »Willkommen. Wir sind so froh, dass du hier im Irrenhaus den Sommer verbringst.«
Im was? »Irrenhaus?«
Tanner kicherte. »Ihr Nachname ist Irley, also ist dies offiziell das Irrenhaus.«
»Je verrückter, desto besser.« Hinter mir erklang eine tiefe, melodische Stimme.
»Bryan.« Tanner streckte eine Hand aus und der Typ nahm sie und zog ihn in eine einarmige Umarmung.
Er hatte blaue Augen, die zu den Augen der Frau passten, nur dass seine Augen mit Guy-Liner umrandet und zur Hälfte mit gefärbten schwarzen Ponyfransen bedeckt waren. Ich hatte noch nie jemanden getroffen, den ich als atemberaubend bezeichnet hätte – bis zu diesem Moment. Seine Schwester hatte eine natürliche Schönheit, hohe Wangenknochen, eine schlanke Nase, kein Make-up oder Schmuck – nur sie. Bryan hatte die gleichen Gesichtszüge, aber verstärkt. Stärker modelliert, dickere Brauen, rötere Lippen, eckigerer Kiefer, Ohren mit kleinen Ringen besetzt, Arme mit Tätowierungen bedeckt.
Seine Augen verengten sich, als er mich ansah, und das helle Blau wurde dunkler. »Du musst der Freund sein.«
Meine Wangen erhitzten sich, bevor ich antworten konnte. Tanners Hand strich leicht über meinen Rücken. Selbst diese kurze Sekunde des Kontakts beruhigte mich. Er gestikulierte zwischen uns. »Bryan, das ist Collin. Collin, das ist Suzies launischer Bruder.«
Bryan lachte und schüttelte mir die Hand. »Willkommen.«
»Danke.« Ich zwang mich, normal zu atmen.
»Nett«, murmelte er und zwinkerte Tanner zu, als er an uns vorbei ging.
Mein Gesicht brannte heißer.
Tanner trat näher, sein Atem war sanft an meinem Ohr. »Entspann dich«, flüsterte er, »du machst das toll.«
Ich liebe dich. Ich dachte so stark an diese Worte, dass ich sicher war, er könnte sie telepathisch empfangen. Und es war wahr. Ich liebte ihn mehr, als ich sagen konnte. Mehr als ich jemals jemanden geliebt hatte. Was mich immer noch zu Tode erschreckte.
»Etwas Hilfe hier?« Die Glasschiebetür knallte auf, als sich zwei Jungs mit einer riesigen Eistruhe und einer darauf balancierten Milchkiste hineinkämpften.
Ich war am nächsten an der Tür, also schnappte ich mir die Kiste von oben. Sie war voller Lebensmittel. Ahornsirup, Beutel mit Mehl und Zucker, Schachteln mit Nudeln. Kein Wunder, dass sie zu kämpfen hatten – die Kiste wog allein mindestens dreißig Pfund. Gott weiß, wie viel die Kühlbox mit zwei Griffen wog.
»Danke, Kumpel«, sagte der ältere Typ.
»Kein Problem.«
Der Typ, der mir gedankt hatte, war Bill, Suzannes Ehemann. Er schien so bodenständig und freundlich wie sie zu sein, lässig gekleidet in Boardshorts und einem abgetragenen T-Shirt. Er küsste sie mit einem süßen, natürlichen Kuss, der dem ganzen Raum irgendwie verkündete, wie verliebt sie waren. Ich lächelte nur, als ich sie zusammen beobachtete.
Der andere musste Dex sein. Ich hatte Wendy so oft von ihm sprechen hören, dass ich mir ein geistiges Bild von ihm gemacht hatte, ohne es überhaupt zu merken, und der kurzhaarige Tommy Hilfiger, den ich sah, entsprach nicht im Entferntesten meinen Erwartungen. Wendy war so sprudelnd und temperamentvoll, wildes Haar, das in alle Richtungen floss, ein riesiger Geldbeutel, der immer kurz davor war, aus den Nähten zu platzen. Dieser Kerl sah aus, als ob er auch mitten in einem Monsun kein einziges Haar verirrt tragen würde. Er hätte leicht auf der Titelseite von allem von GQ bis zu einem J. Crew-Katalog abgebildet sein können. Alles von seinem Haarschnitt bis zu seinen Schuhen schrie nach Geld.
Suzanne übernahm diesmal die Vorstellung, dann waren alle damit beschäftigt, die Kühlbox auszupacken und die Krüge zu füllen, um Limonade und Eistee zu machen. Alle außer Dex. Er nickte ein kühles Hallo, dann setzte er sich auf den Fensterplatz und scrollte auf seinem Telefon herum.
»Hey, nicht anheben.« Bill nahm die Kiste, die Suzanne hochgehoben hatte, vom Boden auf.
Sie rollte mit den Augen und lächelte dann. Ich erkannte den Blick, der zwischen ihnen hin und her ging. Ich hatte ihn jedes Mal auf Seans Gesicht gesehen, wenn seine Frau Laura schwanger gewesen war: besorgt und stolz zugleich. Mein Bauch krampfte sich zusammen. Dies würde der erste Sommer ihres Lebens sein, in dem ich meine Nichten und meinen Neffen nicht sehen würde.
Das letzte Mal, als Sean und ich gesprochen hatten, hatten wir uns gestritten. Er wollte, dass ich mit meiner Mom rede. Um »die Dinge wieder in Ordnung zu bringen«. Und er wollte nicht über meine Beziehung zu Tanner sprechen. Er war nicht so außer sich, wie Quinn es gewesen war. Er hatte mir nicht gesagt, dass ich Unrecht hatte, oder mich zur Hölle verdammt oder sogar verleugnet. Aber er hatte mir auch nicht zugehört. Er wollte nur Frieden schaffen, wo Frieden nicht möglich war. Es sei denn, ich wäre bereit, Tanner zu vergessen. Zu vergessen, was ich wollte, und zu ändern, wer ich war. Drei Dinge, zu denen ich in keiner Weise bereit war. Ich hatte zu lange damit verbracht. Ich war fertig. Auch wenn das bedeutete, keine Familie mehr zu haben.
»Okay, alle mal herhören«, sagte Bill und schlang von hinten seine Arme um Suzanne. »Wir haben eine kleine Ankündigung zu machen und sie betrifft euch alle.«
Tanner hörte auf, Getreideschachteln in der Speisekammer zu stapeln, Maggie hörte auf, in ihrem Krug zu rühren, und Dex sah zum ersten Mal, seit er das Haus betreten hatte, von seinem Telefon auf.
Suzannes Gesicht errötete, als sie Bills Hände rieb und ihren Bauch umarmte. »Wir sind schwanger.«
Der Raum schwirrte vor Glückwünschen aller Anwesenden. Ich hatte es gewusst. Ich vermisste mein Zuhause, aber es erwärmte mich, in diese Ankündigung einbezogen zu werden. Sie sahen so wahnsinnig glücklich aus und strahlten sich gegenseitig an.
Bryan grinste seine Schwester an. »Ich bin so froh, dass du mich endlich zur Tante machst.«
Sie schnappte sich das Geschirrtuch vom Tresen und schlug ihn damit. »Trittbrettfahrer. Du schuldest mir jahrelanges Babysitten.«
»Mit Vergnügen. Ich werde Junior seinen ersten Ohrring schenken.«
»Und wenn es ein Mädchen wird?«
»Dann werd ich mit ihr zu ihrem ersten Tattootermin gehen.«
Suzanne knurrte ihn an, aber es war klar, wie nahe sie sich standen. Meine Bauchschmerzen kehrten zurück.
»Wie auch immer«, sagte Bill. »Das ändert unsere Pläne für den Sommer ein wenig. Wir werden nicht mehr ganz so oft hier draußen sein, weil wir unser Haus für das Baby vorbereiten müssen. Und ihr müsst ein bisschen mehr als sonst beim Kochen und Putzen mithelfen.«
»Nein, müsst ihr nicht«, sagte Suzanne. »Wir machen den Zeitplan genau wie letzten Sommer. Alle wechseln sich ab. Wir werden nur etwas weniger hier sein, also müsst ihr das berücksichtigen.«
Tanner hatte bereits eifrig Linien auf die riesige Tafel an der Wand hinter dem langen Küchentisch im Stil einer Küchentabelle gezeichnet. Er schrieb Frühstück, Mittag- und Abendessen in die Zeilen und die Wochentage in die Spalten. Für welche Mahlzeiten man sich auch immer anmeldete, man musste sicherstellen, dass die Zutaten für diese Mahlzeit im Haus war – selbst wenn man bei dieser Mahlzeit nicht anwesend sein würde. Das hieß, wenn man an einem Tag, an dem man morgens arbeitete, für das Frühstück verantwortlich war, musste man dafür sorgen, dass es Donuts oder Muffins oder etwas anderes für alle anderen zu essen gab. Das erschien vernünftig.
Ich hatte die ganze Zeit, die wir in der Küche waren, nicht mehr als zwei Worte gesagt, also fragte ich etwas, das ich mich schon gefragt hatte, seit wir von der Fähre gestiegen waren und unser Gepäck die halbe Meile oder so zu unserem Haus geschleppt hatten.
»Wie kann man hier einkaufen?«
»Ich zeige es dir«, sagte Tanner und deutete auf den Fahrplan. »Wir haben heute Abend Dinnerdienst, also holen wir jetzt unsere Sachen.«
»Perfekt«, sagte Suzanne. »Nur kein Hühnchen, okay? Das ist das Einzige, womit ich nicht klarkomme. Anscheinend kann dieses Baby kein Geflügel vertragen, nicht einmal den Geruch, wenn es kocht.«
»Ich hab’s kapiert.« Tanner nickte. »Bist du bereit?«
»Klar doch, Tan-Man.«
Er schnaubte und versuchte, verärgert auszusehen, aber ich sah das Lächeln, das seine Lippen kräuselte. »Halt die Klappe.«
Ich grinste und folgte ihm zur Tür hinaus. Ich hatte keine Ahnung, wo wir hinwollten, aber ich wäre Tanner überallhin gefolgt.