Buch lesen: «Herr Maiwald, der Armin und wir»

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Kai von Westerman

Herr Maiwald,
der Armin und wir

In der Werkstatt der Sachgeschichten


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Abbildungsnachweis

Philipp Abresch (S. 89, 95 oben + unten, 99); FLASH Filmproduktion (S. 59, 87, 95 Mitte, 103, 104); FLASH Filmproduktion, Jan Marschner (S. 80, 81); FLASH Filmproduktion, Anna-Lena Vogel (S. 143, 172); Stephan M. Neuhalfen (S. 61); Peter Torringen (S. 136)

Schüren Verlag GmbH

Universitätsstr. 55 | D-35037 Marburg

www.schueren-verlag.de

© Schüren Verlag 2021

Alle Rechte vorbehalten

Gestaltung: Erik Schüßler

Gestaltung Umschlag: Wolfgang Diemer, Frechen;

Foto: Kai von Westerman

ISBN PRINT 978-3-7410-0399-8

ISBN eBook 978-3-7410-0157-4

INHALT

Vorwort oder: Die andere Seite der Medaille von Armin Maiwald

1Was ist eine Sachgeschichte?

2Wer war «der Spatz vom Wallrafplatz»?

3Wie die Wirklichkeit ins Kinderfernsehen kam

4Wenn Kinder fernsehen

5Bezugspunkt: Wirklichkeit

6Warum «der Spatz vom Wallrafplatz» hier wichtig ist

7Bei den Fernsehnachrichten

8Im Haus des Filmemachers

9Die vergessenen Akkus

10Filmaufnahmen als neue Wirklichkeit

11Stress in der LINDENSTRASSE

12Warum man richtig Klappe-schlagen muss

13Neu im Biotop

14Maiwalds Filmteam

15«Wer das sieht, hat den Film nicht verstanden»

16Der Augenblick der Wahrheit

17«Eine Fabrik ist kein Filmstudio»

18Nichts gebaut, nichts gestellt – nur gut beobachtet

19Das eineindeutige Bild

20Der Filmhandwerker

21Köln, Altstadt-Nord von oben

22Dreh, Schnitt, schlafen, Dreh

23Pappkulissen, finstere Filmtricks und ein Kilo echtes Gold

24Ein großer Junge

25Eine ganz einfache Aufnahme

26Bloß kein Denkmal!

27Teil der Erzählung werden

28Ein erprobtes Filmteam

29Abbildungen der Wirklichkeit

30Kleinasien im Keller

31«Planung ist, wenn’s trotzdem klappt»

32Das Leben beim Film

33Die Möglichkeit des Scheiterns

34Teilnehmende Beobachtung

35«Wir hatten nichts»

36Aus nichts etwas machen

37Das Archiv unseres Alltags

38Der rohe Blick auf die Wirklichkeit

39Im Biergarten

40Besuch von einem alten Bekannten

Herr Maiwald, der Armin und – wer ist WIR? Nachwort von Heidrun Wilkening

Abspann

Anhang

Im Text erwähnte Film-/Serientitel von Armin Maiwald

Sonstiges

VORWORT
ODER: DIE ANDERE SEITE DERSELBEN MEDAILLE
VON ARMIN MAIWALD

Ja, ja, der Kai und ich. Mittlerweile arbeite ich mit ihm länger zusammen als mit jedem Kameramann zuvor. Aber unser Anfang war etwas holprig. Als ich ihn zum ersten Mal kennen lernte, hatte er noch ein paar spärliche Haare (hellblond) und einen dünnen Schnäuzer (auch hellblond). Das war bei der Geschichte mit dem «Fliegenden Schachbrett» (und dem vergessenen Kamera-Akku). Da war er noch Kamera-Assistent. Außerdem war er noch ein wenig übereifrig, wollte wahrscheinlich keine Fehler machen, was sich dadurch kundtat, dass er etwas vorlaut war. Das ist halt bei jungen Leuten so, wenn manchmal auch ein wenig nervig.

Als er dann später als Kameramann bei uns arbeitete, waren die Haare und der Schnäuzer weg. Die Glatze wurde sein Markenzeichen. Bei Sonnenschein durch eine Mütze geschützt. Und wir mussten uns erst zusammenraufen. Er hatte es auch wirklich nicht leicht mit mir. Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt schon mit zahllosen erfahrenen Kameraleuten gedreht, zum Teil noch mit solchen, die die Stummfilmzeit noch mitgemacht hatten. Und jetzt kam da ein Neuer. Was Kai bis dahin gelernt hatte, waren Nachrichtenbilder. Aus dieser Zeit hat er auch heute noch jede Menge Anekdoten über Politiker und Pressekonferenzen parat. Gelegentlich lässt er davon eine vom Stapel und wir lachen uns schlapp.

Aber bei uns kamen nun ganz andere Anforderungen auf ihn zu. Dinge, um die er sich vorher nicht kümmern musste. Vor allem das Denken in dramaturgischen Zusammenhängen und Erzählbögen in einer längeren Geschichte. Davon ist bei den ‹NiFs› (Nachrichten im Film) kaum etwas vonnöten. Und wohlgemerkt: alles auf ‹richtigem› Film, mit Perforationslöchern und so, nicht auf Elektronik mit Kontrollmonitor, wo man alles sofort kontrollieren kann. Da muss man sich komplett auf den Kameramann verlassen, denn er ist der Einzige, der wirklich das sieht, was später für alle zu sehen sein soll.

Und was haben wir ihm nicht alles vor die Füße geworfen: Zeitraffer, Zeitlupen, knifflige Modellaufnahmen, Mikroskopaufnahmen, Animationen von Serienfotos (Beispiel: «Was macht Vitamin C in meinem Körper»…), unmögliche Kamerapositionen (hoch oben im Hubschrauber in der offenen Tür hängend) oder tief unter der Erde (im Abwasser oder im Gully oder auch in der Dekoration «Dünndarm»). In dampfenden und stinkenden Fabriken oder in solchen, wo man sein eigenes Wort nicht versteht. Und überall sollten es die richtigen (ich sage immer «zweckdienlichen») Bilder sein. Bilder, die dem «Zweck» «dienen», eine Geschichte spannend zu erzählen. Außerdem sollte er sich noch mit alten analogen Filmtricks auskennen, mit denen er im Nachrichtengeschäft nie etwas zu tun hatte.

Wir mussten auch erst ein Gefühl füreinander entwickeln, was der Eine meint, wenn er etwas sagt. Denn unsere Sprache (das Einzige, womit wir uns verständigen können) ist eine unerschöpfliche Quelle für Missverständnisse, und die waren anfangs nicht ausgeschlossen (Beispiel «Bauerntheater»). Und «den Augenblick der Wahrheit», also den Take beim ersten Versuch ‹in den Kasten zu kriegen› mussten wir uns erst erarbeiten.

Möglicherweise auch eine Art Allergie bei mir, aus der Zeit meiner eigenen Ausbildung. Ich war zum Klappe-schlagen eingeteilt und fuhr mit einem WDR-Team ins Ruhrgebiet. Dort sollte eine Episode von «Kumpel Anton und Cerwinski» (zwei Witzfiguren aus dem Ruhrgebiet) gedreht werden. Selbstredend auf Film.

Drehort war eine Wohnküche mit einer unglaublichen Atmosphäre, «echtes Ruhrgebiet», einfach toll und nicht zu erfinden. Der damalige Kameramann fing damit an, die Lampe über dem Küchentisch wegzuhängen, dann den Küchenschrank rauszutransportieren, das Fenster zu verhängen, dann Licht zu setzen, darauf fingen alle Kacheln an, zu glänzen. Und immer so weiter. Damals dachte ich, (ich war ja noch ganz neu) das müsste wohl so sein, aber ich fand es jammerschade. Und weil ich lernbegierig war, habe ich mir das fertige Stück dann in der Sendung angeschaut. Es war grauenhaft. Die ganze ehemals wundervolle Stimmung war im Eimer, das hätte man ebenso gut in einer Studioecke drehen können. Und ich schwor mir schon damals: Sollte ich jemals in die Verantwortung kommen (damals war noch nicht ansatzweise zu erwarten, dass aus mir irgendwann mal ein Regisseur werden könnte), so etwas darfst du nie, nie, nie machen. Daher mein Spruch «Fernsehen verändert die Wirklichkeit».

Und so musste ich mit Kai auch erst darauf hinarbeiten, die Stimmung eines jeden Drehortes so weit wie nur eben möglich zu erhalten. Eine Gratwanderung zwischen «gerade mal so hell, dass das Filmmaterial exponiert» und «studiomäßige Ausleuchtung» und dabei immer im Hinterkopf behalten: die technische Abnahme beim Sender, der immer alles gerne so hell und freundlich haben will, wie bei Sonne in der Südsee, und scharf von hier bis zum Nordpol. Bei jedem Dreh eine neue Herausforderung.

Und der «erste Versuch» ist uns mittlerweile in Fleisch und Blut übergegangen. Aber wenn Kai dann kommt und eine «Bildverbesserungsmaßnahme» vorschlägt, höre ich auf ihn und lasse ihn machen. Wenn wir uns dann nach dem Dreh – manchmal mit einigen Tagen Abstand – die Bilder im Schneideraum anschauen, ist es nicht selten so, dass wir trotz der Bildverbesserung den ersten Versuch nehmen. Der hat oft mehr Schwung oder auch «Wahrheit», selbst wenn er nicht 100%-ig perfekt ist (was Kai selbstverständlich anstrebt).

Nach den vielen Jahren der Zusammenarbeit können wir uns mittlerweile blind aufeinander verlassen. Kai ist «meine Augen». Selbst wenn ich mit dem Rücken zu ihm stehe, weiß ich immer, was er gerade vor der Linse hat. Und wenn er «geschnitzelt» sagt, bin ich sicher, dass alles in Ordnung ist. Durch den Kamerasucher zu schauen, das mache ich nur ausnahmsweise oder wenn wir uns nicht sicher sind, dass wir uns richtig verstanden haben.

Und wenn bei Kai mal was schiefgeht (was wirklich sehr, sehr selten vorkommt), verlässt er sich darauf, dass ich das schon wieder «hingebügelt» bekomme.

Wir beide wissen voneinander, dass wir an einem Strick ziehen, und zwar in die gleiche Richtung. Unser «Strick» heißt: eine gut in Bildern erzählte Geschichte.

Auch wenn er mich manchmal als «grummelig» bezeichnet, (selbstverständlich hat er das Recht auf diese kritische Distanz) so will ich eigentlich gar nicht brummig sein. Ich bin dann meist in Gedanken schon beim nächsten, übernächsten oder überübernächsten Schritt. Oder beim nächsten Projekt, man kann seine Gedanken halt nicht einfach abschalten. Erst recht nicht, wenn man hochkonzentriert beim Drehen ist.

Ansonsten haben sich alle Episoden, von denen er erzählt, genau so abgespielt.

Jedenfalls freue ich mich schon auf den nächsten Dreh mit ihm.

Armin Maiwald

1
WAS IST EINE SACHGESCHICHTE?

«Womit verdienst du eigentlich dein Geld?», wollte mein zukünftiger Schwiegervater von mir wissen.

Er war über Nacht mit dem Zug aus Warschau nach Köln gekommen. Wir verstauten seinen kleinen Koffer in einem Schließfach. Jetzt standen wir auf dem Bahnhofsvorplatz. Der steinerne Boden warf das grelle Licht der strahlenden Morgensonne zurück. Mein Schwiegervater blinzelte. Der kleine, kräftige Herr mit dem braungebrannten Gesicht und den weißen Haaren war nur für wenige Tage hier bei uns in Deutschland. Er wollte den Kölner Dom sehen und die Grabkapelle der ersten polnischen Königin Richeza. Er wollte das alles gleich erledigen, ohne sich erst von der unbequemen Reise zu erholen.

«Der erste Eindruck ist wichtig», erklärte der alte Mann, «Ich bin Reporter und kein Tourist.»

Er war viel gereist, hatte von Jerewan aus den Berg Ararat gesehen, war mit Hirten durch die kasachische Steppe gewandert, und in Georgien war er der Herkunft des Diktators Stalin nachgegangen.

Jetzt wollte er wissen: «Wer ist dieser Maiwald, für den du arbeitest?»

Es war nicht weit vom Dom ins Eigelsteinviertel.

Von der gegenüberliegenden Seite der engen Straße zeigte ich ihm das schmale sechsstöckige Haus, in dem Armin Maiwalds «FLASH Filmproduktion» untergebracht war.

Mein Schwiegervater schaute an der weißen Fassade hoch.

«Das ganze Haus?», fragte er.

«Die drei unteren Etagen, darüber sind Wohnungen, ganz oben wohnt der Chef. Wie ein Handwerksmeister über seiner Werkstatt.»

Da ging unten im Haus die Tür auf.

«Kommt doch rein», rief Nicola, die Produktionsleiterin und winkte uns heran. Nicola, Armin, sein Regieassistent und der Azubi hatten uns durch die großen Fenster im Erdgeschoss gesehen. Sie saßen gerade am runden Tisch im Foyer, tranken Kaffee und besprachen etwas.

Armin legte seine Zigarette im Aschenbecher ab.

Ich stellte meinen Schwiegervater und Armin einander vor. Sie waren fast gleich alt und hatten einen ähnlichen Beruf.

Mein Schwiegervater bewunderte kurz die zahllosen, säuberlich gerahmten Urkunden, welche die Wände des hohen Raumes bedeckten, nickte anerkennend und bemerkte auf polnisch: «Auch ich wurde für meine Arbeiten mit zahlreichen nationalen und internationalen Preisen ausgezeichnet.»

Ich übersetzte.

Armin grinste. Er tat gerne so, als wären ihm seine Auszeichnungen allesamt völlig wurscht.

Nachdem sich die beiden weißhaarigen älteren Herren auf diese Weise ein Bild voneinander gemacht hatten, verabschiedeten wir uns wieder.

Auf dem Weg zum Bahnhof ließ sich mein Schwiegervater erklären, welche Art Filme Armin Maiwald drehte: «Fast jeder in Deutschland kennt seine kurzen Filme für DIE SENDUNG MIT DER MAUS», erläuterte ich. «Diese Filme sollen Kindern Alltagsdinge erklären, wie etwas geht oder funktioniert, wo etwas herkommt oder wie es gemacht wird. Man nennt diese Filme Sachgeschichten

Meine Braut übersetzte den Begriff dieses Filmgenres: «Dokumentarische Erzählungen über alltägliche Dinge».

«Und was soll das sein: alltägliche Dinge?», bohrte der alte Reporter aus Polen nach, während wir uns auf den engen Gehsteigen zwischen parkenden Autos und Passanten hindurch drängelten.

«Die Filme beantworten solche Fragen wie: ‹Warum fliegt ein Flugzeug?› oder ‹Wie kommen die Löcher in den Käse?›, manche Filme zeigen, was jemand in seinem Beruf arbeitet. Es gibt Filme über alle Themen: von Atomkraft bis Zuckerwürfel, auch über den Tod.»

Ich hob den Zeigefinger und erklärte: «Diese Filme zeigen nur, was ist. Sie bewerten nicht.»

«Und warum mit der Maus?», fragte mein Schwiegervater.

«Weil zwischen den Filmen immer kurze Zeichentrickfilme mit einer orangefarbenen Maus gezeigt werden.»

Als wir schon auf dem Bahnsteig warteten, sagte mein Schwiegervater: «Ich habe eine andere Idee, wie man über die Alltagswelt der Erwachsenen erzählen könnte. In meinen Filmen würde eine weise Eule den Kindern die Dinge erklären…»

Der Fuchs ist listig, der Wolf ist böse und Schafe sind dumm. Die Eule wird in manchen Kinderbüchern mit Brille und Buch dargestellt, oder als Lehrer in der Schule der Waldtiere.

Als ich Kind war, gab es im deutschen Fernsehen tatsächlich einen Vogel, der in kleinen Filmen die Alltagswelt der Erwachsenen erkundete. Ob es ohne diesen Vogel die Sachgeschichten gäbe?

Dieser Fernsehvogel war keine Eule.

Unser Vogel war der Vertreter einer ziemlich gewöhnlichen Art: Klein, graubraun gefiedert, flink und ohne Scheu. Diese Vogelart gab es auf dem Land genauso zahlreich wie in der Stadt. Und gerne da, wo Menschen sind. Es war ein Spatz.

2
WER WAR «DER SPATZ VOM WALLRAFPLATZ»?

Ob er manchmal noch in der alten Platane sitzt?

Am Wallrafplatz, mitten in Köln, gleich neben dem Funkhaus, nicht weit vom Dom. Längst sucht ihn keiner mehr. Die Jüngeren kennen ihn nicht und für die Älteren ist er nur eine Erinnerung: an ausgedehnte Kindernachmittage zwischen Schularbeiten und draußen spielen.

Neulich war ich mit meinem Sohn in Köln. Wir gingen gerade an der mächtigen Betonfassade des Funkhauses entlang. Der grau gepflasterte Platz war von hohen Häuserfronten umschlossen. Der Zehnjährige suchte die Geschäfte nach einer Eisdiele ab. Ich legte dem Jungen eine Hand auf die Schulter, nötigte ihn sanft, stehen zu bleiben und zeigte ihm, wo der SPATZ VOM WALLRAFPLATZ sein Nest hatte.

Das einzige Runde auf diesem viereckigen Platz war die steinerne Einfassung des Beetes, aus dem die alte Platane wuchs. Die Äste ihrer weit ausladenden Baumkrone beherrschten den Platz.

Da saß der Spatz!

Er sah aus, als wäre er aus zwei bräunlichen Wollknäueln zusammengesetzt: Ein kleineres Wollknäuel als Kopf, mit spitzem Schnabel aus grauer Pappe; große schwarze Knopfaugen, weiß hinterlegt, neugieriger Blick. Das zweite, dickere braune Wollknäuel bildete den Rumpf des Spatzen, daran zwei kurze Flügel wie aus bunten Flicken.

Er flatterte davon. Wie aufgescheucht.

War ein echter Spatz.

«Hast Du ihn gesehen?», fragte ich meinen Sohn.

«Wen?»

«Den Spatz! Den Spatz vom Wallrafplatz», lachte ich.

«Da drüben gibt’s Eis», sagte mein Sohn.

«Als ich so alt war wie du, da gab’s den Spatz im Fernsehen. Er wohnte in einem Nest da oben in der Platane und beobachtete die Menschen auf dem Platz. Die Männer von der Müllabfuhr, zum Beispiel. Denen ist er hinterher geflogen und hat zugeguckt, wie die arbeiten. Das war interessant. Wir Kinder konnten ja nicht einfach hinter der Müllabfuhr her auf die Kippe.»

«Machen wir auch nicht», sagte mein Sohn, «Dafür gibt’s DIE SENDUNG MIT DER MAUS.»

«Der Spatz war natürlich kein echter Spatz», erklärte ich, «sondern eine kleine Marionettenfigur mit großen Knopfaugen. Er konnte sprechen, er berlinerte, seine Stimme war rau und näselnd. Er war frech, quatschte wildfremde Leute an: einkaufende Passanten vor der Bäckerei, Straßenkehrer, Polizisten. Weil er ja (an feinen Fäden geführt) fliegen konnte, folgte er den Menschen vom Platz an alle möglichen Orte. So ein Spatz ist ja klein, der kann durchs offene Fenster in ein Büro hineinfliegen und wieder heraus.»

Zweifelnd blinzelte mein Sohn mich mit seinen grünen Augen von unten an: «War dieser Spatz nun eine Marionette aus Wollknäueln oder war der ein lebendiger Vogel und die ham ihn so gefilmt als ob …?»

«Der Spatz war eine Marionette», erklärte ich auf dem Weg zur Eisdiele, «eigentlich…»

…wenn der SPATZ VOM WALLRAFPLATZ nicht gewesen wäre, hätte Armin Maiwald in den vergangenen drei Jahrzehnten mit einem anderen Kameramann gedreht.

«Ich möchte zwei Kugeln», sagte mein Sohn, «Zitrone und Schokolade.»

3
WIE DIE WIRKLICHKEIT INS KINDERFERNSEHEN KAM

«Was haben wir früher eigentlich ohne dieses Gerät gemacht?», fragte mein Vater eines Sonntags. Er meinte unseren Fernseher. Der stand erst seit wenigen Monaten in unserem Wohnzimmer. Bei anderen Familien gehörte der Fernseher schon lange zur Einrichtung.

Eines Morgens, während der Sommerferien, holten die Eltern meine Geschwister und mich im Morgengrauen aus dem Bett. Ich stand im rotweiß gestreiften Frottee-Bademantel vorm Fernseher. Wir sahen unscharfe, verrauschte Schwarzweißbilder. Es war ihnen anzusehen, dass sie aus überirdischer Entfernung kamen. Ich hörte unverständliche Funksprüche. Das war amerikanisch. Die erste Mondlandung.

Nach jenen Sommerferien kam ich in die dritte Klasse. Damals wurde im Fernsehen an jedem Nachmittag Programm für Kinder gesendet. Sonntags saßen wir manchmal den ganzen Tag vorm Fernseher. Nach dem Frühstück wurde eingeschaltet und von da ab durchgehend ferngesehen: DIE KLEINEN STROLCHE, FLIPPER … hauptsächlich amerikanische Fernsehserien. Abends, vor den Nachrichten kam BONANZA, anschließend Schulranzen packen, Abendbrot, ins Bett.

Im Kinderfernsehen damals kam die Welt unserer Umgebung nur selten vor.

Viele Kindersendungen wurden aus Fernsehstudios übertragen. Wir sahen einfache Shows vor Pappwänden, fürs Bild gebaut und aufgestellt. Es gab Lieder und Bastelanleitungen, Märchentanten, und Ratespiele mit Moderatoren in Anzug mit Krawatte.

Oft spielten in diesen Sendungen Marionetten oder Handpuppen mit. Es schien, als könnten diese Puppen sich im Studio frei bewegen.

Zum Beispiel kannten alle diesen frechen Hasen, der aussah, als hätte er ein altes, abgeliebtes Fell von verwaschener, graubrauner Farbe. Der Hase war eine Handpuppe mit Klappmaul, hatte riesige Ohren und ein ziemlich vorlautes Mundwerk mit zwei großen Schneidezähnen. Er hieß Cäsar. Zusammen mit dem Tontechniker Arno präsentierte der Hase aktuelle Schlagerplatten. Er sagte die Platten an, quatschte oft in die laufende Musik hinein und schwatzte mit dem Tontechniker: «Du, Arnooo …?»

Ständig klopfte der Hase Cäsar Sprüche. Er war frech zu den Schlagersängern, die als Studiogäste auftraten, manchmal sogar unverschämt. Währenddessen zappelte er durchs Studio. Abwechselnd tauchte er vor und hinter dem Tonmischpult auf.

Auch wenn man das nie sah, wussten wir, dass dieser Stoffhase genau wie beim Kasperletheater von einem Puppenspieler geführt wurde, der außerhalb des Bildes hockte. Und irgendwie ahnten wir, dass dieses Mischpult mit Tonbandmaschinen und Plattenspielern Teil einer Studiokulisse war.

Die Sendung hieß SCHLAGER FÜR SCHLAPPOHREN. Alle guckten sie gerne.

Aber im Grunde war dieses ganze Kinderfernsehen nichts anderes als Kasperletheater.

Es waren die Jahre, in denen ich gebannt eine Mondlandung nach der anderen im Fernsehen verfolgte. Schließlich wurden die Spaziergänge der Astronauten auf der Mondoberfläche sogar in Farbe gesendet. Die Bildqualität war nicht schlechter als die der Liveübertragungen von der Fußball-weltmeisterschaft in Mexiko.

Wir sahen im Fernsehen, wie Astronauten mit kirchturmhohen Raketen starteten. Wir erfuhren, dass sie die Erde mit der Geschwindigkeit einer Gewehrkugel verlassen mussten, um den Mond erreichen zu können.

Zu eben dieser Zeit kam die Redaktion des Kinderprogramms beim Westdeutschen Rundfunk auf die Idee, ihre Studios zu verlassen und Filme zu drehen, die das echte Leben zeigen sollten. Ohne Kulissen, nicht nur mit Schauspielern, sondern vor allem mit Menschen, die auch in Wirklichkeit an Ort und Stelle lebten und arbeiteten. Man merkte den Unterschied sofort, weil diese Menschen oft nicht so deutlich sprachen, wie die Figuren in den Fernsehserien. Wenn sie redeten, klang das häufig ähnlich wie die Gespräche der Monteure, die gestern bei uns im Keller die Heizung geprüft hatten. Die Menschen in den Filmen ohne Kulissen waren fest in der westdeutschen Wirklichkeit verwurzelt. In unserer Wirklichkeit.

Die Schule langweilte mich. Ich hatte größte Mühe, mich auf die Hausaufgaben zu konzentrieren. Manchmal gingen ganze Nachmittage dabei drauf. Meine Mutter versuchte mit verschiedenen Tricks, mich zu motivieren. Sie ließ mich meine Schulaufgaben im Wohnzimmer machen. Da hatte sie mich im Blick. Vielleicht hatte sie manchmal auch Mitleid.

Jedenfalls baute sie eines Tages das Bügelbrett im Wohnzimmer auf und schaltete den neuen Fernseher ein. «Es gibt so eine Sendung mit einem Spatzen», sagte sie, « Mach’ jetzt mal eine Pause. Der Film dauert eine halbe Stunde. Danach arbeitest du weiter, ja?»

Als Bügelhilfe schätzte meine Mutter das Fernsehen sehr bald – aber ob es als Hausaufgabenhilfe taugte?

Der erste Film mit dem Spatzen begann mit einem Blick in sein Nest. Es schien vor allem aus Lumpen zu bestehen. Auch Drahtreste, Stahlfedern, bunte Kabel und Fetzen von Brötchentüten waren darin verbaut – Sachen, die einer im Abfall der Stadt finden konnte. Das Nest klemmte in einer Astgabel des Baumes auf einem Platz mitten in der Stadt. Darin lag der Spatz und schlief. Eine Marionette aus Wollknäueln, Draht und Pappe. Bei Marionetten waren wir anspruchsvoll – durch die AUGSBURGER PUPPENKISTE waren wir regelrecht verwöhnt. Der schlafende Spatz im Nest schien ruhig und langsam zu atmen. Das sah echt aus.

Die Uhren der Geschäfte am Platz zeigten sechs Uhr morgens an. Der Tag war schon hell, das Licht aber grau und konturlos. Kirchenglocken begannen zu läuten, der Dom war in Sichtweite. Das Läuten weckte den Spatz. Der Lärm ärgerte ihn.

Die Marionette reagierte auf die Wirklichkeit ihrer Umgebung.

Weil jede Fernsehsendung von einer Ansagerin angekündigt wurde und durch minutenlange Schrifteinblendungen wie «Wir schalten um …», «Sendepause» oder «Störung», war uns klar: Fernsehen wird gemacht.

Beim SPATZ VOM WALLRAFPLATZ haben die Fernsehmacher den gespielten Teil ihrer Erzählung mit der Wirklichkeit verbunden. Unten auf dem Platz fuhr ein Radfahrer vorbei. Sein Fahrrad quietschte.

Genervt zeterte der Spatz: «Der soll sein Fahrrad ölen!»

Wenn man sich das heute anguckt, entsteht der Eindruck: Die Filmemacher probierten aus, wie man glaubwürdige Berührungspunkte zwischen Inszenierung und Wirklichkeit schafft. Sie nutzten den städtischen Platz wie eine Bühne, begrenzt von Häusern. Das Spatzennest war ein Logenplatz, von dem aus man alles rundherum beobachten konnte. Der Spatz konnte seine Loge einfach verlassen, schnell zu jeder Stelle des Platzes flattern und sich in das Geschehen auf der Bühne mischen.

Da lag am Straßenrand ein Haufen Abfall. Der Dreck sah aus, als hätten die Filmleute ihn da hingelegt: Inszenierung.

Die Spatzenmarionette flatterte herbei, um zu schauen, ob sich im Abfall etwas essbares zum Frühstück fände.

Dreck als Ausweis der Wirklichkeit. Und die Marionette mittendrin.

Der Spatz pickte also am Fahrbahnrand im Dreck herum. Aus dem Hintergrund näherte sich die Stadtreinigung mit einem orangefarbenen Sprengwagen. Der spritzte die Straße nass. Im Vordergrund suchte der Spatz nach Krümeln. Der Sprengwagen kam näher. Im letzten Moment hüpfte der Spatz beiseite. Der Sprengwagen fuhr knapp an ihm vorbei, der Spatz wurde nass. In Großaufnahme. Die Marionette wurde tatsächlich geduscht, von einer echten Straßenreinigungsmaschine. Da berührte die Wirklichkeit die Inszenierung.

In den ersten Folgen der Serie flatterte der Spatz ständig nahe am Hauptgebäude des Senders herum. Man konnte regelrecht zugucken, wie die Filmemacher sich vorsichtig immer weiter hinauswagten mit ihrer neuen Filmfigur.

Der erste größere Ausflug des Spatzen endete allerdings wieder in einem Fernsehstudio. Die Studios des WDR waren über die ganze Kölner Innenstadt verteilt.

Am Pförtner vorbei hüpfte der neugierige Spatz durch die offene Tür hinein. Im Studio: Stille. Alles dunkel. Nur das Putzlicht war eingeschaltet.

Der Besuch in diesem Studio war wie ein Abschied vom bisherigen Kinderfernsehen. Der Spatz flog hoch bis unter die Studiodecke und setzte sich auf einen dunklen Scheinwerfer. Er guckte hinunter und bemerkte: «Kommt mir so bekannt vor … Na klar! Das ist doch das Mischpult vom Hasen Cäsar …»

Die Dekoration stand verlassen. Niemand da.

Kein Wunder: Der Regisseur der Sendung mit dem Hasen Cäsar war derselbe gewesen wie der bei den Filmen mit dem Spatz.

Aber das wusste ich damals noch nicht.

€12,99

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Umfang:
170 S. 18 Illustrationen
ISBN:
9783741001574
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Bookwire
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