Buch lesen: «Kultsongs & Evergreens»
Kultsongs & Evergreens
55 Hits und ihre Geschichte
erzählt von Kai Sichtermann
unter Mitarbeit verschiedener Co-Autoren
FUEGO
- Über dieses Buch -
Wer kennt sie nicht, legendäre Songs wie »House Of The Rising Sun«, Klassiker wie »Ne Me Quitte Pas« oder Kassenschlager wie »I Just Called To Say I Love You«. Doch wer weiß Genaueres über die Hits und ihre Interpreten? Die Autoren nehmen uns mit auf eine Reise durch einige Jahrhunderte der Musikgeschichte und erzählen uns die faszinierenden Geschichten, die sich hinter den Evergreens verbergen. Die Texte zu den einzelnen Kultsongs sind reich an Anekdoten und handeln nicht nur vom Lied selbst, den Interpreten und dem soziokulturellen Hintergrund ihrer Zeit, sondern auch von ihren Komponisten und Textern. Die spannenden Geschichten sind für Leser mit und ohne musikalische Vorbildung ein Genuss und höchst informativ. Für einen Teil der Songs hat Kai Sichtermann Freunde und Bekannte als Koautoren engagiert, darunter seine Schwestern Barbara und Marie Sichtermann, sowie den Autor Jens Johler.
Für Angie, Lanrue und Rio,
meine musikalischen Weggefährten.
»Große Musik löst zeitweilig die Subjekt/Objekt-Grenze auf, man wird gewissermaßen – in einem Zustand des Fließens – eins mit einem wirklich großen Song, und dies ist dann eine hervorragende Gelegenheit für eine Übertragung von Herz zu Herz.« Ken Wilber
Intro & Danke
Welches ist das berühmteste Lied der Welt? »La Paloma« oder »’O Sole Mio«? »Stille Nacht! Heilige Nacht!« oder »White Christmas«? »Yesterday« oder »Summertime«? Möglicherweise »Candle In The Wind« oder sogar »Auf in den Kampf, Torero!« aus »Carmen«, der weltweit am meisten aufgeführten Oper? Vielleicht ja auch keiner der genannten Titel. Eventuell gibt es in Asien eine länderübergreifende Melodie, die den meisten Chinesen bekannt ist und sogar in Indien gesummt wird. Dann wäre dieses Lied, gemessen an der Menge der Menschen auf unserer Erdkugel, das bekannteste. Bevor wir uns hier in irgendwelchen Spitzfindigkeiten verlieren: Letztendlich wird man es nie genau wissen können – und das ist gut so. Denn darauf kommt es auch gar nicht an.
Wir leben heute im Jahre 2010 in der sogenannten »Post-Rock-Ära des HipHop und der elektronischen Tanzmusik, in der Sequenzer und Drummaschinen vorherrschen«, wie Jody Rosen es formulierte. Und Dan Aykroyd sprach als Elwood Blues im Film »Blues Brothers 2000« in diesem Zusammenhang von »lächerlichen wiederaufbereiteten digital-gesampelten Techno-Grooves, Quasi-Syntie-Rhythmen, Pseudo-Songs von gewalt-geladenem Gangster-Rap, Acid-Pop und albernem, zuckrigem, seelenlosem Kitsch«. Wie immer man zur heutigen Musik einer zum Teil sinnentleerten No-Future-Generation auch stehen mag – viele vermissen Authentizität und Tiefgang. Nutzen wir also die Millenniumswende für eine besinnende Rückschau.
Meine Reminiszenzen sind die eines musisch ausgerichteten Menschen, der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im westlichen Europa aufgewachsen ist. Auch wenn ich mich der traditionellen Musik auf der ganzen Welt verbunden fühle und mich selbst musikalisch viele Jahre fast ausschließlich in Kreisen der Subkultur bewegt habe, behandelt das vorliegende Buch hauptsächlich Musikstücke, die es durch ihre Qualität geschafft haben, sich im kommerziellen Mainstream zu etablieren. Und das ist für mich kein Widerspruch.
Anfang des Jahres 2002 kamen der Schriftsteller Jens Johler und ich auf die Idee, all jene Songs und Lieder in einem Buch zu würdigen, die uns bis zum Ende des 20. Jahrhunderts mit ihren Melodien und Texten berührt haben. Doch es blieb bei einer Zusammenstellung unserer Lieblingssongs. In den vergangenen Jahren spukte die Idee weiter in meinem Kopf herum und im Sommer 2007 kramte ich die Unterlagen von einst wieder hervor.
Ich begann mehr oder weniger systematisch eine sehr lange Songliste zu erstellen. Wochenlang recherchierte ich im Internet und in Bibliotheken, wertete diverse Millennium-Charts aus, sichtete Best-Of-Hitparaden, Greatest Song-Listen aus verschiedenen Musikstilen und -bereichen wie Afrikanisch (Zulu), Afroamerikanisch (Blues, Gospel, Jazz, Negro Spiritual, R’n’B, Soul), E-Musik (Barock, Klassik, Romantik), Elektronisch (Disco), Lateinamerikanisch (Bossa Nova, Latin, Reggae), Pop & Rock (Folk Rock, Grunge, Japan-Pop, Rock’n’Roll), Traditionell, Folklore bzw. Volksmusik (Ballade, Canzone, Chanson, Country, Kirchenmusik) u. a., las Eintragungen im Guinness-Buch der Rekorde, studierte Zahlen über größte Verkaufs-Erfolge und den am häufigsten nachgespielten Cover-Songs u. ä., befragte Freunde, Bekannte und Musikerkollegen nach ihren Vorlieben.
Ziemlich schnell kristallisierten sich gut 100 Titel heraus – allesamt ausgesuchte Bestseller, Meilensteine, Klassiker –, die ich dann auf 55 reduzieren musste. Um eine möglichst große Bandbreite und Vielfältigkeit zu erreichen, habe ich versucht, bei meinen Auswahl-Kriterien Folgendes zu berücksichtigen: a) eine große Bandbreite von Zeitepochen, besonders alle Jahrzehnte im 20. Jahrhundert, b) relevante Musik-Stile und c) unterdrückte Minderheiten innerhalb dieses Genres (Frauen, Schwarze, Homosexuelle). Außerdem war es mir ein Bedürfnis, d) die vorherrschende Dominanz der USA und England etwas einzuschränken, indem ich anderen Ländern einen Bonus zusprach. Lieder, die einem oder mehreren dieser Auswahlkriterien zum Opfer fielen, waren beispielsweise »Bridge Over Troubled Water« von Paul Simon, der Cole Porter-Song »Every Time We Say Goodbye« und »Light My Fire« von den Doors. Songs, die dadurch ihren Weg in die Endauswahl fanden, waren – neben anderen – »Ne Me Quitte Pas«, »Sukiyaki« und »The Lion Sleeps Tonight«.
Eine Sonderstellung nimmt der Blues-Titel »Dust My Broom« ein. Weil der Blues als Stil die Musik des 20. Jahrhunderts so nachhaltig beeinflusste wie kaum ein anderer, war es unumgänglich, eine Blues-Nummer aufzunehmen.
Hinter jedem Lied verbirgt sich eine Geschichte und es war faszinierend für mich zu verfolgen, welch verschlungene Wege die einzelnen Lieder durchlaufen mussten, bis sie ein Welterfolg wurden. Ich wollte aber nicht nur etwas über den Song, den oder die Interpreten und den sozial-kulturellen Hintergrund seiner Zeit schreiben, sondern auch – soweit dies möglich war – über die Autoren: Komponisten, Texter, Übersetzer. Deshalb habe ich es vermieden, zwei Stücke auszuwählen, die von denselben Urhebern stammen. Durch diese Maßnahme blieben »Yesterday« von Paul McCartney, »What A Wonderful World« für Louis Armstrong und »Blowin’ In The Wind« von Bob Dylan auf der Strecke, um nur einige zu nennen.
Obwohl ich mir Mühe gegeben habe, größtmögliche Objektivität walten zu lassen, ist die Auswahl der Titel in letzter Konsequenz natürlich subjektiv und erhebt keine Ansprüche auf Vollständigkeit oder Repräsentativität. Dennoch glaube ich, ein Außerirdischer bekäme durch Lesen dieses Buches einen kompakten Überblick über die populäre Musik der westlichen Kultur auf diesem Planeten aus jüngster Zeit.
Ein Buch über Evergreens und Kultsongs zu schreiben, war für mich ein zu großes Unterfangen, als dass ich es alleine hätte bewältigen können. Wegen der Menge der Lieder, aber auch wegen der positiven Aspekte einer vielfältigen Autorenschaft habe ich für einen Teil der Songs Freunde und Bekannte als Co-Autoren engagiert. Mein allerherzlichster Dank für die Geschichten über die folgenden Song-Titel geht deshalb an:
Anke Colmorn für »Lili Marleen« und »The Lion Sleeps Tonight«
Renate Friedrich für »Bésame Mucho« und »Stille Nacht! Heilige Nacht!«
Jens Johler für »Summertime«
Marius del Mestre für »The Girl From Ipanema«, »No Woman No Cry«,»Rock Around The Clock«, »(I Can’t Get No) Satisfaction« und »Stairway To Heaven«
Hermann Müller für »Those Were The Days«
Martina Neschen für »Jambalaya«
Angie Olbrich für »La Vie En Rose«
Lisa Jane Olbrich für »Billie Jean« und »My Heart Will Go On«
Ingo Rose für »Greensleeves« und »I Walk The Line«
Misha G. Schoeneberg für »Another Brick In The Wall«,»House Of The Rising Sun«, »La Bamba« und »Ode ›An Die Freude‹«
Elke Seifert für »Ave Maria« und »Ne Me Quitte Pas«
Barbara Sichtermann für »As Time Goes By« und »Hey Jude«
Marie Sichtermann für »La Paloma«
Holger Strehl für »Bohemian Rhapsodie« und »Smells Like Teen Spirit«
Für Anregungen, Korrekturen, Recherchen und Übersetzungen danke ich zuallererst Anke Colmorn und Illa Blaue, des Weiteren Tsuzuko Abe (für »Sukiyaki«), Jens Johler, Martina Neschen, Ingo Rose, Barbara Sichtermann, Marie Sichtermann, Hollow Skai, Martin Paul und dem Suger Musik-Verlag in München.
Mein aufrichtiger Dank für Informationen, Übersetzungen und Zitate aus Quellen wie Bücher und Internet geht an Frederick Baker, Leonardo Boff, Christoph Dallach, Hans-Christian Dany, Lutz Eikelmann, Leona Frommelt, Holger Gehrke, Werner Hoffmeister, Dietmar Hüser, Jennifer Maier, Ernst Probst, Hermann Rauhe, Dick Rosemont (www.originalsproject.us), Lillian Roxon, Hans-Jürgen Schaal, Uwe Schmitt, Eike Schmitz, Karl Heinz Siber, Georg Troller, Bernhard Vogel, Klaus Voormann, Ingeborg Weber-Kellermann, Paul Willis, Bill Wyman, die Musikfachzeitschrift Rolling Stone, Wikipedia und andere Internet-Seiten sowie an alle, die hier aus Platzgründen nicht genannt werden können.
Über einfache Zitate hinausgehend haben wir folgende Bücher zu umfangreicheren Recherchen herangezogen: »Ich hab’ gelebt Mylord« von Simone Berteaut, »La Paloma« von Rüdiger Bloemeke, »O Sole Mio« von Paquito Del Bosco, »Lili Marleen« von Christian Peters, »Like A Rolling Stone« von Greil Marcus, »Stardust Melodies« von Will Friedwald, »White Christmas« von Jody Rosen, »I Got The Rhythm« von Dietrich Schulz-Köhn, »In A Da Da Da Vida« 1 & 2 von Hollow Skai sowie »Amazing Grace« und »A Hard Day’s Write« von Steve Turner.
Kai Sichtermann
Greensleeves
England 16. Jahrhundert
Die Dame im grünen Kleid
von Ingo Rose
Traurige Lieder sind zäh und überdauern die Zeit. Im letzten Jahrhundert war einer der weltweit am häufigsten gespielten Songs im Rundfunk »Yesterday« von den Beatles, die Komposition von den Sorgen, die erst gestern noch so weit entfernt schienen. »Das Lied vom traurigen Sonntag« (»Gloomy Sunday«), 1933 vom ungarischen Pianisten Rezső Seress komponiert, war zwar nicht ganz so populär, dafür veranlasste es womöglich einige Zuhörer zum Freitod. Der Evergreen von der Dame mit den »grünen Ärmeln« oder besser, dem »grünen Kleid« – so die sinngemäße Übersetzung des Titels Greensleeves – ist ebenfalls eine melancholische Weise. Greensleeves wird seit einem halben Jahrtausend rauf und runter gespielt, es gibt Gemälde, Theaterstücke, Buch- und Musikverlage, Wohnhäuser, Klingeltöne, Spieldosen und sogar Kinder gleichen Namens sowie unzählige Imitationen und Variationen. Wahrscheinlich ist Greensleeves eines der berühmtesten Werke aus der Zeit der späten Renaissance (frz., Wiedergeburt), jene kulturgeschichtliche Epoche, die um 1350 in Italien begann und bis ins 16. Jahrhundert dauerte und zur Wiedererweckung des klassischen Altertums in Europa führte.
Die Melodie eines traurigen Liedes versteht auf Anhieb wohl jeder. Sie scheint etwas Universelles bei den Menschen überall auf der Welt anzurühren. Greensleeves trübsinnige Melodie schlägt besonders aufs Gemüt, wenn sie mit einer Laute, Zither oder Geige, einem Spinett, Cembalo oder Klavier angestimmt wird. Doch auch der einfache Text hat es in sich. Ein verlassener Liebender beklagt seinen Schmerz. Etwas ist vorgefallen, das er nicht versteht, und er ist allein. Es gibt auch hier viele Adaptionen, die älteste gedruckte Version beginnt so: »O weh, mein Lieb’, tust Unrecht mir; grob fort zu stoßen mich im Streit; so lange hielt ich treu zu Dir; voll Glück an Deiner Seit’; Greensleeves war all mein Freud’; Greensleeves war mein Entzücken; Greensleeves war mein gülden Herz; Und wer außer Lady Greensleeves?« Der verschmähte Liebende könnte ein Gentleman von Rang gewesen sein, denn es geht die Legende, dass der englische König Heinrich VIII. (1491–1547) den Kantus für seine spätere Frau Anne Boleyn geschrieben hat; wahrscheinlich ist das aber nicht. Zu jener Zeit bestand weithin die Annahme, dass Lady Greensleeves eine Prostituierte sei oder zumindest eine promiske junge Frau, die es mit der Liebe eher leicht nimmt. Denn das Wort Grün hat auch eine sexuelle Nebenbedeutung, insbesondere im Ausdruck »Grünes Kleid« – leidenschaftliche Liebe auf der grünen Wiese hinterlässt eben Spuren.
England im 16. Jahrhundert, die ersten Volkslieder werden als Druck herausgegeben, so etwa jenes aus dem Jahr 1506 über einen bekannten Waldräuber: »A Lytel Geste of Robyne Hood«. Zu allen Zeiten haben fahrende Händler, Vagabunden, Bänkelsänger und Postkutscher musikalische Stücke gesungen und sie auf diese Weise verbreitet bis sie Volkslieder wurden. Manche schrieben die Verse auf, reichten sie weiter, andere veränderten sie. Eine Art Open Source Software, an der die Allgemeinheit nach Herzenslust herumbastelte. Allerdings bestand die Mehrheit aus Analphabeten, sie war dankbar für eine Veröffentlichung, die andere vorlasen. Die Leute sangen und reimten was das Zeug hielt, viel Hanebüchenes, Derbes und Verbotenes war dabei – mit Breitseiten gegen die Obrigkeit. Auch deshalb werden diese Texte Broadsides (wie die mit Kanonen bestückte Breitseite eines Schiffes) oder Broadsheets (dt., breite Blätter) genannt, sie ähneln öffentlichen Anschlägen wie Pamphleten, Proklamationen oder Anzeigen. Auf der Straße werden sie für einen Penny feilgeboten (in etwa der Preis für einen Laib Brot) und in Tavernen und Theatern, auf Märkten und Messen plakatiert – eben überall dort, wo viele Menschen zusammenkommen. Die populären Songs werden weder mit musikalischen Angaben noch mit Noten versehen, man passt die Texte einfach den gerade angesagten Melodien an, die jeder kennt. Im Übrigen hat Königin Elisabeth I. (1533–1603) das Privileg einer Musikveröffentlichung exklusiv ihren Hofmusikern zugesichert. Broadsides waren ein schnelles und kurzlebiges Massenkommunikationsmittel, wie später Zeitungen und heute E-Mails. Ab 1556 mussten Druckereien eine Lizenz der Stationers’ Company in London einholen, die bis ins Jahr 1709 über 3000 Einträge sammelt. Diese Gesellschaft stellt eine Art Zensur dar, viele unbequeme Balladen werden daher gar nicht erst registriert.
Greensleeves erscheint gedruckt zuallererst 1580 als »A New Northern Dittye of the Lady Greene Sleeves«; dies geht aus dem Verzeichnis der London Stationer’s Company hervor. Erhalten geblieben ist jedoch nur die Version von 1584 in der Liedsammlung »A Handefull of pleaseant delites« und zwar als Song-Titel »A New Courtly Sonnet of the Lady Green Sleeves. To the new tune of Green sleeves« herausgegeben von Clement Robinson u. a., veröffentlicht von Richard Jones. Einen Hinweis auf Urheber von Text oder Musik gibt es nicht. Bedeutende Sammlungen früher Drucke besitzen die Universität von Cambridge sowie die British Library (u. a. von Samuel Pepys, dem berühmten Tagebuchschreiber aus dem 17. Jahrhundert).
William Shakespeare hat in »Die lustigen Weiber von Windsor« (um 1600) auf die Melodie von Greensleeves Bezug genommen. Dort ruft Sir John Falstaff: »Soll der Himmel Kartoffeln regnen! Soll es gewittern zur Melodie von Greensleeves!« Der britische Komponist Ralph Vaughan Williams verarbeitete Shakespeares Stoff Mitte der 1920er-Jahre zu der Oper »Sir John In Love«, in der Williams eine konzertante »Fantasia on Greensleeves« einbaute. Auch in John Gays »The Beggar’s Opera« aus dem frühen 18. Jahrhundert, die Vorlage für die spätere »Dreigroschenoper« von Bertolt Brecht, findet unser melancholisches Lied Verwendung. Nach der Melodie von Greensleeves wird außerdem das englische Weihnachtslied »What Child Is This?« gesungen, dessen Text William Chatterton Dix 1865 in tiefer Depression schrieb. In Frankreich ist Greensleeves unter dem Namen »Bébé Dieu« bekannt.
Frühe Tonaufzeichnungen finden wir als Schellackplatte von der englischen Pop-Sängerin Anne Shelton, eingespielt 1949, sowie vom britischen Gesangs-Trio The Beverly Sisters, 1956. Großer Beliebtheit erfreute sich die Verwendung der Melodie als Thema für Filmmusiken. Neben anderen tat das Miklós Rózsa 1952 in dem Streifen »Plymouth Adventure« (deutscher Titel: »Schiff ohne Heimat«) und nannte die Melodie »Tavern Music«. In dem 1962er Hollywood-Film »How The West Was Won« (»Das war der wilde Westen«) von Großmeister John Ford und anderen hören wir Debbie Reynolds’ zarte Stimme die Greensleeves-Melodie mit neuem Text singen: »Home In The Meadow«. 1966 war es die deutsche Beatgruppe The Lords, die aus einer traurigen Komposition ein schnelles Rockstück machte und damit einen Top-Twenty-Hit in Deutschland schaffte. Ein Jahr später ließen es sich auch die Beatles nicht nehmen, am Schluss ihrer Liebes-Hymne »All You Need Is Love« instrumental auf das Volkslied hinzuweisen.
Aus der langen Liste, die sich des Titels sonst noch angenommen haben, ragt ein wahres Genie aus Kanada heraus: der singende Poet Leonard Cohen. Auf seinem Album »New Skin For The Old Ceremony« von 1974 präsentiert der Frauenflüsterer Greensleeves in neuem Gewand mit überarbeitetem Text und ergänzenden Zeilen als »Leaving Green Sleeves«. Hörenswert ist auch die Aufnahme von der irischen Gruppe Anúna, hier mit der finnischen Ausnahmemusikerin Linda Lampenius, die auch als Linda Brava bekannt ist.
Sicher wird die Popularität für die Lady im grünen Kleid auch im 21. Jahrhundert ungebrochen bleiben, einschließlich der Klage des zurückgewiesenen Liebhabers.
Titel – Autoren – Interpreten
Greensleeves
Musik: Traditional – 16. Jahrhundert
Englischer Text: Traditional – 16. Jahrhundert
Bekannte Aufnahme auf Schellackplatte: Anne Shelton – 1949; Label: London
Überzeugende Darbietung: (als »Home In The Meadow«): Debbie Reynolds – 1962; Label: MGM
Hit in Deutschland: The Lords – 1966; Label: Columbia
Geniale Neuinterpretation: Leonard Cohen – 1974; Label: Columbia
Schöne Produktion: Loreena McKennitt – 1991; Label: Quinlan Road
Authentische Einspielung: Anúna, featuring Linda Lampenius – 2007; Label: Elevation
La Bamba
Mexico 17. Jahrhundert
Der Macho-Song
von Misha G. Schoeneberg
Es ist immer die gleiche Szene: Seit Hunderten von Jahren lungern jeden Tag im Hafen von Veracruz die jungen Stenze herum, Tagelöhner wahrscheinlich. Sie tragen ihr löchriges Hemd auf sonnenversengter Haut; und sie stehen dort an der Kai-Mauer in ihrer Duftwolke aus Tabak, Schweiß und billigem Parfüm, die ab und an vom salzigen Seewind übers Meer verweht wird. Doch sie sind jung und geben ganz mächtig an … – und sobald sich ein weibliches Wesen im Abendrot zeigt, da werden die jungen Kerle munter, sie fassen sich kurz in den Schritt und schon schwingen sie ihre Hüften und bieten ihren ganzen Charme auf: »Hey Du, schau her, tanz den La Bamba mit mir! Es braucht ja nur ein wenig Anmut. Hey mach mit! Hey, hey, hey, hier bin ich! Glaub bloß nicht, ich wär Matrose, nee, ich bin Kapitän! Und nur für dich tanz ich den La Bamba! Ba Ba Bamba, Ba Ba Bamba!«
La Bamba! Mehr Text hat das Lied nicht. Dem entsprechend basiert auch die musikalische Struktur des Songs auf einer sehr simplen Akkordfolge – Tonika, Subdominante, Dominantseptakkord (z. B.: C, F, G7) –, die fortwährend zyklisch wiederholt wird, harmonischer Ostinato genannt.
Und wäre dieser auf den Punkt gebrachte ewige Kreislauf des alten Balz-Spiels die ganze Geschichte des Stücks, so wäre es doch schon eine gute Erklärung für seinen bombastischen Erfolgszug rund um den Globus. Doch La Bamba, das alte mexikanische Volkslied, birgt ein tieferes Geheimnis, als man trotz x-hundert-fachen Hörens vermuten würde.
Die Geschichte des Liedes La Bamba ist eng verknüpft mit der 500 Jahre alten Geschichte der Stadt Veracruz in Mexiko. Dort in den Stadt-Archiven liegen stapelweise Dokumenten-Mappen, die alle die wahre Herkunft des Titels bezeugen. Der schreckliche Konquistador Hernán Cortés gründete die Stadt 1519 in einer Lagune. Für die ungeheure Menge Gold und Silber, die die Spanier dem aztekischen Volk raubten, wurde auf einer vorgelagerten Insel ein riesiges Fort errichtet, dieses Fort wurde Bamberia genannt. Von dort aus wurde die wertvolle Beute auf den Karavellen nach Spanien verfrachtet. Das lockte natürlich andere Räuber an, Piraten genannt. Ein Zwischenfall mit John Hawkins und Francis Drake ist verbürgt. Aber der namensgebende Gewaltstreich wurde von dem grausamen Piraten Lorenz de Graaf und seinen Mannen im Mai 1683 geführt: denn so nannten erst die Piraten, dann die Bewohner der Stadt diesen mächtigen Raubüberfall: »La Bamba!« (leitet man »La Bamba«, vom spanischen Verb »bambolear« ab, bedeutet es so viel wie schaukeln, auf- und abschwingen). Eine Woche oder länger geißelten die Piraten die Stadt, mindestens 30 Jungfrauen vergewaltigten sie pro Tag, »La Bamba!«. Doch der Terror nahm derart überhand, dass einige der Stadtbewohner es vorzogen, sich mit einem Sprung vom Kirchturm dem ganzen schmutzigen Programm zu entziehen.
Es gibt viele populäre Fassungen von La Bamba, die auf diese Geschichte in vielen variablen Strophen textlich Bezug nehmen: »Para subir al cielo / Um in den Himmel zu gelangen / Se necesita una escalera grande / braucht es eine große Leiter / Y otra chiquita / und eine kleine / Ay arriba y arriba, arriba iré / Ich komme, ich komme, ich werde da sein«. Noch heute erinnern diese zwei Leitern in Veracruz an das grausame »La Bamba« des Piraten de Graaf: Eine große und eine kleine Leiter führen genau auf den Kirchturm, von welchem sich damals so viele Stadtbewohner herunterstürzten.
Andere Quellen sagen hingegen, die vielen Strophen des Ende des 17. Jahrhunderts kursierenden Volkssongs in Veracruz, der La Bamba genannt wurde, ironisierten die jahrelange Aufregung und die ins Absurde gehenden Sicherheitsvorkehrungen gegen mögliche weitere Terrorattacken der Piraten. Für den bombastischen Mauerbau, der sich über Jahre hinzog und der die ganze Stadt umgürten sollte, hatten die Spanier eigens Menschen aus dem Kongo nach Veracruz verschleppt. Die zu Zwangsarbeit Versklavten waren vornehmlich Schwarze eines Stammes, der sich »Mbambo« oder gar »Bamba« nannte.
Später, als Veracruz von den Franzosen und US-Amerikanern besetzt war, wurde der Song eingesetzt, um sich über die Besatzer lustig zu machen, ohne dass diese die Ironie des Subtextes verstanden. So würde eben auch die Zeile »ich bin kein Matrose, ich bin Captain, aber wenn Ihr es wollt, dann tanze ich eben La Bamba, und immer Ba-Ba-Bamba« sich auf den zynischen Dialog zwischen einem gerade zur ungeliebten Seefahrt zwangsrekrutierten Landsoldaten (Captain) und seinem machthabenden Besatzungs-Rekruteur beziehen.
Bei genauer Betrachtung können die verschiedenen Erklärungsmodelle ohne Weiteres nebeneinander bestehen. So gesehen hat der Begriff La Bamba einen stetigen Bedeutungswandel durchlaufen und heute wissen selbst in Veracruz nur wenige Eingeweihte, wo das Wort La Bamba seinen eigentlichen Ursprung hat.
Die Einheimischen gehen zu Hochzeitsfeiern oder bunt geschmückt zum jährlichen Stadtfest von Veracruz, wo es gilt, zu immer neuen Versionen von La Bamba zu tanzen und zu balzen, denn dieses Fest ist auch gleichzeitig der städtische Abschlussball der Highschool-Schüler und Schülerinnen. Dort schließt sich der ewige Kreis und man redet lieber über die Instrumentierung der Jaracho-Bands – Geige, Jarana, Gitarre, oft auch Harfe – als über die Zeit, in der »La Bamba« noch der große Piratenüberfall war.
Trotz der Weisheit Salomons »Es geschieht nichts Neues unter der Sonne«, geschieht es manchmal doch: Da entdeckt dann ein Gitarre spielender Plantagen-Arbeiter-Junge aus Kalifornien auf der Suche nach seinen mexikanischen Wurzeln ein altes Volkslied, übernimmt den spanischen Text (obwohl der Sprache gar nicht mächtig), belässt die Akkorde wie sie sind, setzt jedoch einen satten Beat im klaren Viervierteltakt unter das Stück und legt in seine kraftvolle Stimme all das freche Begehren eines 17-Jährigen … und siehe da, ein Rock’n’Roll-Welthit war geboren!
Dieses kleine Wunder gelang dem 1941 in Pacoima, Kalifornien, geborenen Sänger und Gitarristen Ritchie Valens. Produzent Bob Keane hatte das junge Talent im Mai 1958 entdeckt. Im September wurde La Bamba in den Gold Star Studios in Hollywood von Ritchie Valens (Gesang und Gitarre), Irving Ashby, Carole Kaye (Gitarre), Buddy Clark, Rene Hall (Bass), Ernie Freeman (Klavier) und Earl Palmer (Schlagzeug) aufgenommen und einen Monat später als B-Seite seines selbstkomponierten Liebesliedes »Donna« (für seine Freundin Donna Ludwig) als Single veröffentlicht. Ende Dezember erreichte die Scheibe die US-Billboard-Charts, um Anfang des folgenden Jahres ein Bestseller und Riesen-Radiohit zu werden, und zwar beide Seiten. Das war erst Ritchie Valens’ zweite Single. Dass es zugleich seine letzte zu Lebzeiten veröffentlichte wurde, ist die große Tragik seines kurzen Lebens: Ritchie Valens war erst 17, als er in einer kalten, verschneiten Februar-Nacht nach einem gemeinsamen Konzert zusammen mit dem einflussreichen Rock’n’Roll-Musiker Buddy Holly und dem damals sehr populären Disc-Jockey The Big Bopper sowie dem Piloten in einer viersitzigen Beechcraft Bonanza im US-Bundesstaat Iowa abstürzte. Dieser Tag, der 3. Februar 1959, ging als »The Day the Music Died« in die Annalen der amerikanischen Pop-Geschichte ein und wurde zwölf Jahre später von Don McLean in seinem Song »American Pie« verarbeitet.
Die Aufnahme von La Bamba machte Ritchie Valens jedoch unsterblich. Unter diesem Titel wurde auch sein Leben verfilmt: 1987, unter der Regie von Luis Valdez und mit dem jungen Lou Diamond Phillipps, der Ritchie Valens ein hübsches Gesicht gab. Durch den Film gelangte die Original-Valens-Version noch einmal weltweit in die Hitparaden, neben der ausgezeichneten Filmfassung der Kalifornischen Band Los Lobos, die zum Sommerhit des Jahres 1987 avancierte und es in den USA und England sogar auf Platz Eins schaffte. La Bamba ist der einzig spanischsprachige Titel, der in die Liste der 500 besten Rocksongs aller Zeiten des Musikmagazins Rolling Stone aufgenommen wurde.
Ritchie Valens’ La Bamba-Interpretation wurde zum Urstein des cross over Ethno-Rocks, der sich im heutigen Mexiko zum eigenen Chicano-Rock-Stil entwickelte; und Valens selbst zum ersten Latin-Rocker der Musikgeschichte. Ebenso beeinflusste diese eine geniale Aufnahme des alten mexikanischen Volksliedes Latin-Rock-Musiker von Carlos Santana bis Los Lobos. Im Programm hat den Song jede gute Band, selbst Metallica haben La Bamba einst live gespielt. Cover-Versionen gibt es unzählige. Tom Miller, ein bekannter US-Reise-Autor, hat im Jahre 2005 über 80 Fassungen von La Bamba als CD-Kompilation »The Best of La Bamba« herausgegeben.
Und noch auf ganz anderem Wege hat sich La Bamba unsterblich gemacht: »Twist and Shout« war 1963 der erste internationale Top-Ten-Hit der Beatles, den sie immer am Schluss ihrer Konzerte spielten, so auch bei ihrem letzten Auftritt im Candlestick Park, San Francisco, Ende August 1966. Bert Russell hatte das Stück 1961 zusammen mit Phil Medley für die Isley Brothers geschrieben – so sagte er. Bei genauerem Hinhören ist es musikalisch bis hin zum Gitarrenriff identisch mit der Valens-Version von La Bamba. Nun, der Räuber raubt es dem Räuber, »La Bamba« eben.
Ergänzung
Einige Quellen gehen davon aus, dass der schwedisch-amerikanische Sänger und Gitarrist William Clauson während einer Mexiko-Reise dort die »Ur-Version« von La Bamba hörte: schnelle Folklore mit Harfe und Akustik-Gitarrenbegleitung. Clauson verlangsamte das Tempo ein wenig und machte daraus als erster – also noch vor Richie Valens – einen Latin-Folk-Song. Diese Version von Clauson könnte Valens möglicherweise als Vorlage für seine Rock’n’Roll-Fassung gedient haben. Das würde erklären, warum in der Retrospektive, der »Ritchie Valens Story«, William Clauson als Autor von La Bamba genannt wird. Das als seriös geltende Plattenlabel Rhino Records berief sich dabei auf Aussagen von jemandem, der es wissen müsste: der Valens-Produzent Bob Keane. Wenn diese Theorie stimmt, müsste Valens La Bamba bei einem Clausen-Konzert gehört haben – so wie es auch im Valdez-Film zu sehen ist. Denn auf der LP »Clauson in Mexico!« von 1958 sucht man den La Bamba-Titel vergeblich. Erst 1963 veröffentlichte Clauson den Song zusammen mit dem Latin American Trio Los Tres Guaramex auf einer Langspielplatte.
Titel – Autoren – Interpreten
La Bamba
Original-Musik: Traditional – 17. Jahrhundert
Spanischer Text: Traditional – 17. Jahrhundert
Frühe Tonträgeraufnahme: (als »El Jarabe Veracruzano«/ »Die Hochzeit in Veracruz«): Andres Huesca – um 1908
Großartige Version mit zwei verschiedenen Tempi: Harry Belafonte – 1956 ; Label: RCA Victor
Erste Hit-Version: Ritchie Valens – 1958/59; Label: Del-Fi (US)/London (UK)
Typisch mexikanische Folklore-Interpretation: Mariachi Vargas de Tecalitlán – 1963; Label: Arcano (MX)/RCA Victor (US)
Internationaler Top-Ten-Hit: (als »Twist And Shout«) The Beatles – 1963; Label: Odeon (D), Tollie, Capitol (US), Parlophone (UK)
Hit-Produktion aus dem Film »La Bamba«: Los Lobos – 1987; Label: Warner Brothers (US)/Metronome (DE)