Des Vaters, der Tochter, und des ewigen Geistes

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Des Vaters, der Tochter, und des ewigen Geistes
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K.T. Rina





Des Vaters, der Tochter,



und des ewigen Geistes





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Gewidmet an jedem, dem ich sowas wie ein Schmunzeln bereiten konnte.



Vielen Dank an all die Leute…sie sind so wenig, dass ich sie gar nicht bei Namen erwähnen kann. Nun gut, das war nun der letzte Witz des Buchs.




E–Mail an Gott

1



Wer braucht schon Erfolg? Unsere Arbeiten werden sowieso mit dem Lauf der Zeit in Vergessenheit geraten…Wer braucht schon Freunde? Sie amüsieren sich über dich, bis sie genug von dir haben und jemand besseres finden…Wer braucht schon Liebe? Sterben werden wir alle eh allein, und das Leben hat sowieso nichts nach dem Tod zu bieten. Warum überhaupt leben? Es gibt absolut nichts, das mich hier hält, dachte sich Siegfried. Er fuhr von der Arbeit mit dem vollgeladenen Bus nach Hause, mit den gleichen Fremden wie an jedem Abend. Er blickte auf die überfüllten Straßen und die Autos, in denen jeweils nur eine Person drin saß. Alle fuhren in dieselbe Richtung, doch war ihr Ziel dasselbe?



„Kanns‘e nich‘ lesen? Auf ‘er Website steht KEINE Anrufe!“ schrie das Mädchen neben ihm so laut, dass Siegfried sie sogar durch die melancholische Musik der Kopfhörer gehört hatte. Sie trug langes weiß gefärbtes Haar, wobei die linke Kopfhälfte glatt rasiert war und zahlreiche Piercings am linken Ohr glänzen ließ. Er nahm einen Kopfhörer aus dem Ohr und lauschte dem Telefonat.



„Ehm, ist das wirklich Gott?“ fragte die krächzende Stimme am Telefon. Siegfried pausierte seine Musik.



„Jo. Schieß los, was wills‘e?“ antwortete das Mädchen genervt.



„Eh, ja, ok. Ich will eine, eine Engelsstimme haben.“



„Metaphorisch oder wörtlich?“ sagte das Mädchen und blickte über ihre langen schwarzen Fingernägel.



„Meta–phorisch“, die Stimme hatte sich bei der Hälfte des Wortes in einen wundervoll resonierenden Sopran gewandelt, „Ich glaub es nicht. Es hat wirklich funktio…“ Das Mädchen beendete das Gespräch abrupt.



Siegfried konnte nicht glauben, was er gerade miterlebt hatte: Dieses Mädchen, das die Stimme am Telefon

Gott

nannte, hatte ihm einen Wunsch erfüllt. Siegfried spickte auf den Bildschirm des Mädchens. Sie scrollte durch einige E–Mails auf denen Namen und Bilder von den verschiedensten Leuten zu sehen waren: Alt, jung, schön, hässlich, rot–, dunkel–, hell– oder nicht–haarig), Männer, Frauen und Kinder. Alle hatten ihren eigenen Wunsch unter dem Foto, soweit Siegfried lesen konnte. Denn wie verschieden die Leute auf den Fotos waren, so waren die E–Mails in verschiedenen Sprachen und verschiedenen Schriften geschrieben. Sie öffnete eine Mail, wo eine schwer für die Augen anzuschauende Frau schrieb, dass sie sich einen schönen Mann wünschte. Siegfried hatte kaum Zeit sich den Namen durchzulesen, da löschte das Mädchen die E–Mail und öffnete die Nächste. Ein kleiner, blonder Junge schrieb, er wollte seine Mutter wiederhaben; es war zwar auf Kyrillisch, aber so viel konnte Siegfried verstehen, zumal es in einer kindlichen Ausdrucksweise geschrieben war. Auch diese Mail wurde innerhalb weniger Augenblicke gelöscht und durch die Nächste ersetzt. Siegfried stürzte nach vorne als der Bus anhielt und verlor für einen Moment den Blick auf ihr Handy. Als er sich drehte, stieg sie bereits aus. Er überlegte nicht und folgte ihr impulsiv, obwohl seine Endstelle noch weit entfernt war.



„Entschuldigung“, rief er ihr nach, doch sie beschäftigte sich weiter mit dem Handy. „Pardon, du mit den weißen Haaren.“ Das Mädchen blieb still stehen und steckte das Handy in die hintere Hosentasche ihrer schwarzen Hotpants.



„Was is‘ denn jetzt?“ fragte sie ohne sich umzudrehen.



„Sorry, aber ich hab deine E–Mails mitgelesen und...“



Die Weißhaarige drehte sich um und lief direkt auf Siegfried zu. Er war zwar zwei Köpfe größer als sie, aber er fühlte sich zwei Köpfe kleiner. Sie starrte ihn böse an, die Brauen nach innen rotiert und das Septum in ihrer Nase wippte mit ihren Luftausstößen. „Und du wills‘ auch ‘nen Wunsch erfüllt?“



Siegfried blickte in ihre Augen, die durch Kontaktlinsen komplett schwarz aussahen, und fühlte, wie sie ihn durchbohrten und durchschauten. „Ich will, dass du meine Freundin wirst.“



Ihr Blick wechselte sich sofort in ein freundliches Lächeln und sie sagte ihm: „Ok, komm mit, Siegfried.“



„Woher kennst du meinen Namen?“ Sie tippte ihm auf die Brust, wo sein Namensschild dranhing. Er klatsche seine Hand direkt über seine Augen. In diesem Moment schnappte sie sich Siegfrieds Handy aus der Hosentasche und tippte wild darin rum. „Hey, was soll das.“ Er versuchte, sein Handy wieder zurück zu ergattern, aber sie wendete sich von ihm und er war wie von einer unsichtbaren Barriere blockiert, näher heranzutreten. Sie schmiss das Handy über ihre Schulter und Siegfried fing es nach einer kleinen Jongliereinlage auf.



„Ein kleiner Hinweis, Siegfried. Du darfst dir nie wieder was wünschen.“



„Du bist nicht wirklich Gott, oder?“ fragte er, während er ihr an der Seite folgte.



„Warum glaubs‘e das denn nich‘?“ Ihr Handy klingelte. „VERDAMMT NO‘MAL! AUF ‘ER WEBSITE STEHT KEINE ANRUFE!“



„Tut mir aufrichtig Leid“, sagte die Stimme ganz leise bevor das Gespräch beendet war.



„Du kannst ja die Anruffunktion ausstellen, wenn es dich so sehr stört.“ Sie schaute ihn fragwürdig an und tippte dann furios auf ihrem Handy.



„Wir sind jetzt wirklich Freunde, Siegfried. Übrigens, du kannst mich Gott nennen, kürzer wird ‘er Name eh nich‘.“ Sie schüttelten sich die Hand und sie ging munter weiter, das Handy in der Hand. Er schüttelte den Kopf und dachte laut: „Ich muss nach Hause, ich hab ja doch keine Zeit für solche Dummheiten.“



„Alles klar, wohin geht’s?“



Er bedachte erst zu antworten, aber er ignorierte sie und ging wieder zurück zur Haltestelle, sie ihm hinterher. „Ehm,

Gott

, du kannst nicht mitkommen.“



„Ich bin dein Freund, Siegfried, das wolltest

du

. Wenn dir Gott zu abstrakt oder zu nah is‘, kann ich ja ‘nen and‘ren Namen finden.“ Sie suchte über ihr Handy nach „Namen von Gott“. Sie murmelte einige bekannte Bezeichnungen vor sich her: „…Ah, das is‘ doch fein. Nenn mich einfach Nüwa.“



„Nüwa? Wie auch immer.“ Siegfried setzte sich auf die Bank an der Haltestelle und Nüwa setzte sich neben ihn und fuhr mit ihren E–Mails fort. „Du warst doch irgendwo hin unterwegs, Nüwa? Warum bist du dann hier?“



Sie lächelte ihn an und sprach: „Wir sin‘ doch jetzt Freunde, Siegfried, da komm ich halt mit zu dir. Und ich war nich‘ wo hin unterwegs; ich geh einfach willkürlich um ‘e Welt.“



„Hast du kein Zuhause? Deine Eltern warten sicherlich auf dich.“



„Du glaubs‘ immer noch nich‘, dass ich Gott bin? Hier!“ Im selben Augenblick verschwand das weißhaarige Mädchen für einen alten Mann mit einem langen weißen Bart, der statt der Haare auf dem Kopf baumelte, und ebenso weißen Roben. „Passt dieses Bild besser zu deinen Vorstellungen?“ tönte der tiefe Bass aus dem Mund, welcher sich hinter dem flauschigen Bart verbarg. Der Bart war so flauschig, dass Siegfried nach ihm griff: „Du bist

Gott

?!“



„Endlich hass‘e es begriffen“, sagte die genervte Stimme des Mädchens wieder, und statt des Barter hielt Siegfried nun die glatt rasierte linke Seite von Nüwa in der Hand. Er schaute sich um und dann wieder auf Nüwa. „Wenn wir bei dir sin‘, muss ich mein Handy aufladen; diese billigen Akkus halten nich‘ mal ‘nen Tag aus.“



Siegfried war noch gänzlich verwirrt von all dem, was geschehen war, dass er beinahe seinen Bus verpasst hatte, doch Nüwa zerrte ihn zum Glück hinein.



Nüwa stöpselte ihr Handy an das Akkuladekabel und schmiss sich dann auf das Siegfrieds Sofa. Sie lag auf dem Bauch und ihre Beine in schwarzen Strümpfen baumelten in der Luft: „Nette Bude, die du hier hass‘.“ Seine

Bude

 hatte nicht Vieles: Er hatte ein Sofa, das gleichzeitig sein Bett war; eine ziemlich bescheidene Küche, die praktisch nur aus einer Herdplatte und einem Kühlschrank bestand und einen arschbetäubenden Arbeitsstuhl; einen dazu gehörigen armbetäubenden Schreibtisch hatte er nicht; und natürlich ein Badezimmer, das keinen Zentimeter Luft bei der Verarbeitung verschwendet hatte und man dadurch während des Stuhlgangs sofort seine Hände waschen konnte, ohne aufstehen zu müssen; die Dusche nahm die andere Hälfte des Bads ein. Im Wohn–/Schlafzimmer lagen noch einige Umzugskartons herum; einen Schrank hatte Siegfried nicht.



„Es ist nicht viel, aber zumindest meins.“

Plop.

 Die Glühbirne brannte durch und das Zimmer war dunkel.



„Weil du mein Freund bis‘“, und mit beenden des Satzes war die Glühbirne wieder am Leuchten.



„Du bist

wirklich

 Gott! Ich kann es nicht fassen. Gott ist ein kleines Mädchen, das auf meinem Sofa liegt.“



„Ich hab diese Form nur angenommen, weil mich dann die meisten nich‘ ansprechen. Weiß‘e wie nervig es is‘, allein schon alle Wünsche durchzugehen!?“



„Was hat das mit den Wünschen auf sich?“ fragte Siegfried, der sich den Stuhl nahm und sich zu Nüwa setzte. Seine Nerven im Gesäß alarmierten bereits abgeschaltet zu werden.



„Seit mein Bruder weg is‘, bin ich für das durchforsten der Wünsche und dem Erfüllen dieser beschäftigt, welches meine eigentliche Aufgabe früher war. Übrigens, früher habt ihr das noch Gebete genannt.“



„Moment“, Siegfried hielt ihr seine Hand vorm Gesicht. „Du hast einen Bruder?“



„Ja, Bruder is‘ wohl die beste Beschreibung, die dein mickriges Menschenhirn begreifen kann. Wo war ich stehengeblieben? Ach ja! Ich bin also jetzt für die Erfüllung der Gebete zuständig. Wir haben ein System aufgestellt, damit ich nich‘ mehr die Gebete von allen Wesen durchgehen muss.“

 



„Die E–Mails? Aber Gott sollte doch allwissend sein?“



„Nein, du Dümmerchen! Mein Bruder is‘ der Allwissende, ich bin nur Allmächtig. Deswegen is‘ er auch verschwunden, du weißt ja, Wissen macht einsam und so ein Quatsch. Er meinte, er wolle sich mit anderen Wesen beschäftigen.“ Nüwa schaute verträumt in die Luft. „Ich frage mich, ob er nochmal zurückkommt…“ Ihr Handy vibrierte währenddessen pausenlos auf dem Boden herum als wollte es der Tortur seiner Herrin entfliehen.



„Warum musst du überhaupt dein Handy aufladen? Kannst du es nicht einfach vollmachen?“



„Na klar, aber ich hab keine Lust mehr mich mit den Mails zu beschäftigen. Es ist vier Jahre her, dass ich ‘ne Pause gemacht habe.“



„Vier Jahre?! Wie lange machst du das jetzt?“



„Seit neun Jahren, dreihundertdreizehn Tagen, fünf Stunden, zweiundfünfzig Minuten…dreiundfünfzig Minuten. Ich sehe die genaue Zeit gerade vor mir, falls du dich wunderst.“ Nüwa drehte sich auf den Rücken und streckte ihre Arme zur rauchgeschwärzten Decke, die der Vormieter netterweise hinterlassen hatte und welcher der einzige Grund war, warum Siegfried sich die vergünstigte Wohnung leisten konnte. „Na los, Siegfried, erzähl was über dich, wir sind doch Freunde.“



Er stand auf und ging stumm zum Bad. „Was ist das für ein beknackter Traum?“ dachte er sich vor dem Spiegel und spritzte sich mehrmals Hände voll Wasser ins Gesicht. Er lächelte sein gegenüber an und ging dann wieder aus dem Bad. Nüwa hockte vor dem Kühlschrank mit dem letzten Stück Käse aus dem Mund hängend. Sie hatte sich durch den bereits vorher fast leeren Kühlschrank gekramt, und als Siegfried hinein schaute, waren nur noch leere Verpackungen übrig. „Du hast alles aufgegessen!“



„Da war ja sowieso nich‘ mehr viel über. Ich kann auch alles wieder zurück stellen, wenn‘e magst?“ und nahm das angebissene Stück Käse aus ihrem Mund und legte es auf eines der leeren Fächer.



Stille.



Nur das Knurren aus Siegfrieds Bauch unterbrach es. „Was isst du gern? Weil der Müll“, sie verwies auf die leeren Packungen, „wird es wohl nicht sein.“



„Spa–“, sofort erschien ein Teller Spaghetti Bolognese auf Nüwas Hand, „–rgel.“



„Spargel? Wie auch immer.“ Die Nudeln ersetzten sich zu Spargel mit Hollandaise Sauce. Er nahm sich den Teller und setzte sich wieder auf seinen Stuhl, als wäre es das normalste in der Welt gewesen, dass sich Spaghetti in Spargel verwandeln und die Spaghetti sich zuvor von selbst erschaffen hatten. „Reichst du mir mal das Besteck, erste Schublade links“, sagte er, als hätte er mehr als zwei Schubladen. Nüwa jedoch schmiss sich wieder aufs Sofa und ließ goldene Messer und Gabel auf dem Teller erscheinen. Siegfried schnitt sich ein Stück ab und kostete. „Das schmeckt wie echt.“



„Das

is‘

 echt, du Dümmerchen. Was bist du nur für ein Freund, der nich‘ an meine Fähigkeiten glaubt?“



„Es fällt mir nur schwer zu verstehen, dass du Gott bist, dass es überhaupt einen Gott, nein, sogar zwei Götter gibt.“



„Ich kann ja deine Gehirnstruktur verändern, damit du‘s endlich raffst.“



„Nüwa“, Siegfried schaute plötzlich als hätte er einen Elektroschock erhalten, „meine Freundin, wills‘e nich auch etwas haben?“ Er reichte ihr die Gabel, an dem noch ein Stück hing. „Ich fang am besten mit den heutigen Geschehnissen an, bevor ich dich traf. Ich wurde heute gekündigt, weil mich mein

Freund

verpfiffen hat, dass ich ab und an etwas Essen von der Arbeit nach Hause mitgenommen habe. Die Frau, die ich verehrt und geliebt habe, is‘ vor einigen Monaten ausgewandert und hat bereits einen neuen Mann kennengelernt. Und ich bin ein Versager, der nich‘ mal die Schule beendet hat und zu feige war, den Militärdienst abzuschließen. Ich dachte sogar schon daran, mich heute umzubringen. Nüwa, danke, dass du für mich da bist.“



„Ouh, ich bin doch gerne für dich da, du bist schließlich mein Lieblingsfreund, und mein einziger“, nuschelte sie die letzten Worte. Nüwa hatte, während Siegfried über sein schmähliches Schicksal erzählt hatte, den Teller Spargel von ihm genommen und selber aufgegessen. „War es das schon? Mehr ist dir nicht passiert? Langweilig“, und sie widmete sich wieder ihrem Handy, das sie an seiner Leine hochzog, nachdem sie den leeren Teller wieder Siegfried zurückgab.



„Nüwa, was gibt es nach dem Tod?“



„Woher soll ich das denn wissen, du Dümmerchen! Ich hab dir doch gesagt, dass ich nich‘ allwissend bin. Und überhaupt, selbst mein Bruder weiß es nich‘. Wir sind beide noch nie gestorben, ob du‘s glaubst oder nich‘.“



Siegfried forschte nicht weiter nach und bat um einen weiteren Teller von Nüwa. Sie verbrachten einen großen Teil des Abends schweigend, bis Siegfried schlafen gehen wollte. Nüwa ging aus seiner Wohnung, pausenlos auf ihrem Handy rumtippend. Nach einem kurzen Schock, weil er zu lange über das Treffen mit Nüwa nachgedacht hatte, fiel Siegfried in die Welt der Träume.




2



Die Sonne strahlte durch die Rolloschlitze und kitzelte Siegfried mit ihren warmen Strahlen wach. Er blieb noch etwas im Bett liegen, seine Hände hinterm Kopf und fragte sich, ob alles Gestrige nur ein merkwürdiger Traum war. Nach der morgendlichen Toilette schaute er in seinen Kühlschrank, in welchem nur noch leere Verpackungen rumlagen. Habe ich den angebissenen Emmentaler gestern noch aufgegessen, fragte er sich. Rasch ging er aus der Haustür und sah wie ein Mädchen auf den Treppen saß und am Handy hantierte, ihr langes weißes Haar verdeckte den Blick auf ihr Gesicht.



„Ah, moin moin, Siegfried! Endlich bist du wach.“ Nüwa ignorierte beim Vorbeigehen den nur in seinem Schlüpfer Bekleideten und legte sich auf das Sofa, die Beine in den schwarzen Strümpfen zur ebenso schwarzen Decke strampelnd. „Was machen wir heut, Siegfried? Der Zoo sollte um diese Jahreszeit besonders gut sein—weil besonders leer.“ Siegfried riss schnell die Klamotten vom Stuhl und zog sich im Bad an. „Du musst dich nich‘ schämen, ich hab viele deiner Art kreiert, weiß‘e?“



„Touché. Aber ich fühl mich nicht wohl. Ich mein, abgesehen von deinen Piercings und der Frisur siehst du aus wie ein junges Mädchen“, rief er vom Bad aus.



„Ich kann mich auch als einen drei Meter großen Troll darstellen, wenn es dir lieber ist.“ Siegfried hörte nur noch wie etwas im Zimmer einkrachte. Er schlug die Tür auf und sah vor sich eine hässliche grüne Fratze, die sagte: „Ups.“



„Mach das wieder rückgängig, Nüwa!“ Noch bevor er zu Ende reden konnte war alles wieder heile, und Nüwa in der Mädchenform war auf dem Sofa in seiner Decke am rumwälzen.



„Du bereitest mir Kopfschmerzen“, sagte Siegfried sich am Kopf fassend. „Kannst du mir wenigstens ein Frühstück herzaubern?“



„Ich bin deine Freundin, nich‘ deine Magiersklavin.“



„Wie du magst, dann muss ich jetzt einkaufen gehen.“ Er nahm sich seine Jacke und Wertsachen und beide gingen aus der Wohnung raus. Nüwa lief neben ihm her und fummelte an ihrem Handy rum. „Wie viele Wünsche erhältst du am Tag?“ fragte Siegfried, der auf ihren Bildschirm spickte. Sie löschte die E–Mails schneller als er beim Gehen lesen konnte.



„Am Anfang war‘s recht erträglich, da hatte ich nur so zwei am Tag. Aber jetzt sind‘s mehrere hundert. Wie nervig ihr seid, Siegfried, das würdes‘e mir nicht glauben, außer ich würd‘s dir ermöglichen? Soll ich‘s dir ermöglichen?“



„Nein, das kann ich mir auch so gut vorstellen.“ Auf dem Weg schauten ihn die Leute befremdet an, da seine vermeintliche Tochter so rebellierend aussah, aber er merkte es noch nicht. Auch im Supermarkt waren die Blicke böswillig zu dem skurrilen Vater–Tochter Duo. Er sah mit seiner ausgewaschenen Jeans in Kombination mit den gemütlichen, doch stillosen Schuhen mit Klettverschluss und der grünen Regenjacke aus wie die Reinkarnation eines Gartengnomeliebhabers und sie mit ihrer wilden Frisur, den provozierenden knappen Hotpants und den schwarzen Strümpfen wie eine Gartenzerstörende Gnomeliebhaberin. „Gibt es etwas, was du gerne haben möchtest, Nüwa?“ Sie steckte ihr Handy weg und begann durch den Laden zu rennen. In Windeseile nahm sie sich Käse, Wurst, Müsli, Marmelade, Donuts, Käse, Schokolade, Eis, Saft, Cola, Chips, Pommes, Kaugummis, Käse, Joghurt und auch Apfelsinen. Sie kam mit so viel Essen zurück, dass es eigentlich unmöglich war, dass jemand von ihrem Kaliber es tragen vermochte, denn sie türmte den Stapel so geschickt, dass er drei Köpfe über ihr ragte. „Belassen wir es bei zwei Produkten, ich mein, du kannst dir jederzeit kreieren, was du willst, oder etwa nicht?“ Genauso schnell wie sie die erste Runde durchlief, so schnell war sie mit dem Zurückbringen der Artikel. Mit einem Schmollmund warf sie zwei Viertel Radstücke Emmentaler in den Einkaufskorb in Siegfrieds Hand und verschränkte ihre Arme.



„Ihre Tochter ist aber ziemlich flott“, sagte eine Frauenstimme hinter ihnen. Beide drehten sich um und sahen eine Frau, die etwas älter war als Siegfried selbst, erkennbar an den Grauansätzen, die durch das gefärbte Braun durchstrahlten, und an ihren Mundzügen, die bereits stark eingeprägt waren vom ständigem falschem lächeln. Sie blickte mit braunen Augen, die mit dickem lila Makeup umkreist waren, auf ihn. Sie stand auf Augenhöhe mit Siegfried, aber nur weil sie solch große Absätze trug. Ihre Beine waren in hautengen Jeans gekleidet und ihr tiefer Ausschnitt war großzügig von einer schwarzen Bluse entblößt. Siegfried war von ihrem Anblick gleichermaßen verwirrt und erregt: „Meinen sie mich?“



„Es ist doch ihre Tochter?“



Er schaute auf Nüwa, die wieder mit ihrem Handy beschäftigt war. „Ja, haha, natürlich. Manchmal zu flott für diesen alten Herrn, haha.“



„So alt sind sie doch gar nicht“, komplimentierte sie ihn. Siegfried war erleichtert, dass sie ihm diese Masche abgekauft hatte. „Meine Tochter ist auch in diesem Alter, ich weiß, was sie durchmachen“, zwinkerte sie ihm zu.



„Ich glaub nich‘, dass ihre Tochter so alt is‘ wie ich“, erwiderte Nüwa mit gestreckter Zunge.



„Das gehört sich nicht, Nüwa! Entschuldige dich bei der guten Frau.“



„Wie auch immer. Ich warte draußen, Siegfried.“



„Das ist nur eine Phase“, sie legte ihre Hand sanft auf seine Schulter, „oder so lässt man mich zumindest glaubhaft hoffen. Übrigens, ich bin Sinéad.“



„Ich bin Siegfried.“



Sie schüttelte ihm mit einem natürlichen Lächeln, das ihre Falten straffte, die Hand. „Das hatte ich mir fast gedacht. Deine Tochter hat einen äußerst ungewöhnlichen Namen; was bedeutet es, wenn ich fragen darf?“



„Ich hab ehrlich gesagt keine Ahnung. Sie hat ihn ausgesucht. Eh, also die Mutter.“



„Und wo ist

sie

?“ fragte sie gespannt.



„Sie…sie lebt nicht mehr; ist bei der Geburt verstorben.“



„Ouh, du Ärmster. Es tut mir Leid. Du hast deine Tochter alleine aufziehen müssen?“



„Das war halb so schlimm. Sie ist sehr selbstständig.“



„Das merkt man ihr an.“ Auf Siegfrieds fragenden Blick korrigierte sie: „Im positiven Sinn. Sie wird eine starke, unabhängige Frau werden, da bin ich mir sicher.“



Sie schlenderten gemeinsam durch die Gänge des Supermarktes. Während Sinéad recht gesunde Produkte in ihren Einkaufskorb legte, nahm sich Siegfried nur Sachen, die sonst üblich von einem Single–Studenten erwartet wären: Fertig–Pizza, fettige Pommes, Toastbrot, die billigste Sorte von Wurst und Scheibenkäse und Softdrinks. „Du kochst nicht gerne, oder?“ deduzierte Sinéad.



„Ne, das ist einer meiner Schwächen“, er kratzte sich nervös am Hinterkopf.



„Wie wäre es denn, wenn ich dich und deine Tochter zu einem selbstgemachten Essen einlade?“



Siegfried wurde ganz rot im Gesicht, nie hatte er eine Einladung von einer fremden Frau erhalten, zu ihr zu kommen, wobei es wohlgemerkt mit seiner

Tochter

 war. „Danke. Liebend gerne. Ich werde aber erst Nüwa fragen.“



„Natürlich“, konkludierte sie mit einem warmen Lächeln, das ihre Falten wieder auftauchten ließ. „Ich gebe dir meine Nummer, dann kannst du mir schreiben, wann ihr könnt.“ Sie nahm Zettel und Stift aus ihrer braunen Lederhandtasche und schrieb ihren Namen mit einem Herz statt einem „i“ Punkt und ihre Telefonnummer nieder. Siegfried schaute ihr zu, wie ihre feinen, kleinen Finger, an dem nirgend ein Ring übergezogen war, den Kugelschreiber über das Papier fliegen ließen. Am Ausgang verabschiedete sich Sinéad von Siegfried und Nüwa: „Es war nett, dich kennenzulernen, Nüwa. Auf Wiedersehen, Siegfried.“



Als Sinéad weit genug weggegangen war, sprach Nüwa: „Ich mag diese Frau nich‘.“



„Das ist wirklich schade, denn wir sind zum Essen bei ihr eingeladen.“

 



„WAS?! Du kannst solche Dinge nich‘ ohne mich entscheiden!“ Nüwa schmollte und kreuzte ihre Arme vor der Brust.



„Wenn du wirklich nicht hinmöchtest, werde ich nicht darum bitten.“



„Du kannst sowieso nicht mehr für irgendetwas beten, vergiss das nich‘. Was will sie den zum Essen machen?“ fragte Nüwa mit ihren schwarz glänzenden Augen.



„Hey, ich bin genauso wenig allwissend wie du.“



„Dusché.“ Sie nahm einen Emmentaler und nagte dran.



Zuhause angekommen machte sich Siegfried sofort ein Frühstückstoast und grübelte, was er bei der Konversation mit Sinéad hätte besser machen können. Nüwa lag auf dem Sofa und las sich ihre E–Mails durch mit dem Käse vor sich auf dem Busen liegend, der keinen BH hätte füllen können. „Hey, Siegfried, was machen wir jetzt?“ Er setzte sich auf den Stuhl neben ihr und aß sein Toastbrot. „Sieeeeeeeeeegfrieeeeeeeeeed“, jammerte Nüwa.



„Ich muss nach einem neuen Job suchen. Im Gegensatz zu dir bin ich auf ein Einkommen angewiesen.“ Er nahm seinen Laptop auf den Schoß und begann im Internet nach einer neuen Arbeitsstelle zu suchen.



„Sieeeeeeeeegfried…was hass’e eigentlich für einen Job gemacht?“



„Ich war ein Bäcker. Ich hab auch keine anderen Qualifikationen, um ehrlich zu sein.“



„Siegfried, was machst du denn am liebsten? Brötchen verdienen kannst du auch anders.“ Er überlegte nicht lange und gab zur Antwort, dass er gerne Bücher liest und Kritiken schreibt.



„Dann mach doch irgendwas, was damit zu tun hat. Und lass uns jetzt endlich zum Zoo!“ Nüwa hatte sich mit verschränkten Armen ordentlich auf das Sofa gesetzt.



„Du hast Recht. Ich kann mir zumindest einen Tag Zeit lassen, bevor ich wieder in das Alltagschaos einstürze.“ Nüwa klatschte vor Freude und sie fuhren zum Zoo.



Der Zoo war kaum besucht, da der Herbst bereits stark ausgeprägt und dazu ein besonders kalter war. Doch im Glück Nüwas war die Aktivität der Tiere umso größer. Sie standen vor dem Gehege der Pinguine und schauten wie diese in ihren Smokings umher watschelten. „Ich bin so stolz auf meine Kreation“, gab sie Siegfried zu wissen



„Du hast alles kreiert? Also ist die Schöpfertheorie wahr?“



„Was für eine Theorie? Ich hab seit einigen Universen aufgehört, alles selbst zu erschaffen. Pff, nein, ich hab was ziemlich geniales Erschaffen; sogar mein Bruder hat mich dafür gelobt, denn es hat uns vieeeeele Pingeligkeiten erspart.“



„Würdest du mich in dein großes Geheimnis einweihen?“



„Na klar, Siegfried. Seit ich den Zufall erschaffen habe und die Überraschung natürlich darauf folgend, bin ich wirklich froh über die neuen Universen. Ich kann nämlich jetzt auch Dinge sehen, auf die ich selber nicht kommen würde, zumindest nich‘ sofort. Schau dir das doch mal an.“ Sie zeigte auf die Pinguine, die auf ihren Bäuchen umherrutschten „Wer würde sich Vögel ausdenken, die nich‘ fliegen können, fett sin‘ und ausgerechnet an den kältesten Orten dieses Planeten leben? Und schau dir mal an wie sie hin und her watscheln und rutschen“, und sie imitierte den Gang der Pinguine.



„Du bist wirklich komisch, Nüwa“, sagte Siegfried mit einer erhobenen Augenbraue.



„Danke. Mein Bruder konnte nie etwas für Komik abgewinnen. Ouh, guck!“ Die Pinguine versammelten sich um

ihren

Gott, der ihnen tägliche Speisen brachte. „Wir waren auch mal so“, sagte sie, den Kopf in den Händen und den Ellenbogen auf der Mauer des Geheges, „aber das war nach einigen billiarden Universen dann doch zu monoton.“



„Wie alt…vergiss es. Ich würde es wohl nicht verstehen.“



„Ihr habt so eine Zahl auch noch gar nich‘. Komm, lass abzischen.“



Nüwa nahm Siegfrieds Hand und sie gingen(er lief während sie watschelte)zum nächsten Gehege, indem zwei schwarz–weiße Bären auf ihren Hintern saßen und an ihren Bambussträuchern knabberten. „Ah, Pandas. Sie sollten eigentlich schon längst ausgestorben sein, weiß‘e? Aber ein kleiner Junge hatte sich mal gewünscht, dass sein Haustier Panda so lange leben sollte wie seine Dynastie. Ich schätze, es gibt noch Nachfahren von ihnen, also dem Jungen und dem Panda.“



„Ich liiiiiiiiiiiebe dieses Resultat. Es sin‘ einfach zylindrische Klopse Fleisch mit zwei Flossenarmen und einer Katzenschnauze; und diese schwarzen Glubschaugen. Denks‘e ich hätte mir so etwas ausgedacht?“ Nüwa zeigte mit der offenen Hand auf die Seehunde, die mit ihren dunklen Augen, so schwarz wie ihre Eigenen, auf die Besucher hochblickten. „Obwohl, vielleicht mit etwas Zeit…Haha, wie schnell sie im Wasser sin‘, das würde man mit diesen vielen Rettungsringen nich‘ erwarten. Was is‘ los, Siegfried, macht dir das keinen Spaß? Wills‘e vielleicht zum Original Schauplatz dieser Tiere?“ Und ohne auf seine Antwort zu warten, tobte nun ein Blizzard um die Beiden. Der kalte Wind schnitt wie ein Messer über Siegfrieds Haut.



Zitternd schrie er in das Weiß um ihn: „NÜWA! BRING UNS SOFORT WIEDER ZURÜCK!“ Er stand wieder vor dem Gehege der Seehunde und Nüwa fiel lachend zu Boden und wälzte sich umher, nicht ganz anders als die gefangene Spezies einige Meter neben ihr. „Das war nicht komisch. Ich hätte erfrieren können!“ Seine Lippen waren schon blau angelaufen, seine Finger waren steifgefroren.



„Ah, Siegfried, als würde ich ‘nen Freund verrecken lassen.“ In einem Augenblick füllten sich Siegfrieds Lippen wieder mit roter Farbe und auch in seinen Händen verspürte er nicht mehr die eisige Kälte Alaskas. Doch Siegfried verstand diesen Spaß nicht, ging weiter und ignorierte sie. Nüwa stupste ihn, nörgelte, heulte wie die Seehunde, doch es half nichts. Sie durchliefen schweigend mehrere Abteilungen.



Als sie sich auf eine Bank setzten, führte Nüwa ihre Nörgelei fort: „Siegfried? Sieeeeeeeeegfrieeeeeeeeed? Ach, komm schon, das war doch nur ‘n kleines Späßchen. Wenn du aufhörst mich zu ignorieren, komm ich auch mit zur Frau.“



„Abgemacht.“



„Hass‘e mich etwa ausgetrickst? Das is‘ mir das letzte Mal passiert, als ihr Menschen uns noch Dschinn genannt habt.“



„Dein Ernst? Ihr ward Dschinns? Das erklärt auch, warum ihr Wünsche erfüllt. Aber sind Dschinns nicht bösartig, oder verwechsle ich da was?“



„Gut und Böse hat keine Relevanz für uns. Es ist ein Konzept, das ihr euch ausgedacht habt. Und das mit den Wünschen haben wir auch erst vor kurzem so ausprobiert.“



„Du hattest eine Website erwähnt, warum ausgerechnet eine Website?“



„Ich hab dir doch gesagt, dass mein allwissender Bruder weggegangen is‘. Und weil wir für dieses Universum wieder Wünsche ausprobieren, haben wir dieses System genommen. Jedes Wesen kriegt ‘nen Wunsch und verliert alle Erinnerungen, jemals den Wunsch gemacht zu haben. Mein Bruder war dafür zuständig, mir die Wünsche aller Wesen zu nennen. Aber das war ihm irgendwann zu viel und zu gegensätzlich.“



„Gegensätzlich? Und was meinst du mit allen Wesen? Auch Tiere?“



„Ja allen Formen von Energie, wenn es dir besser passt. Meine Güte, du bist aber wirklich ein Dümmerchen. Und manche Wünsche haben sich gegenseitig aufgehoben.“



„Wie wenn beide Mannschaften für den Sieg eines Spiels beten?“



„Das hab ich auch nie verstanden, mein Bruder selbst hat mir diese Logik nur schwer erklären können, aber ja, so in etwa, dann würde das Resultat abhängig sein, wie viele es sich wünschten, ob sie schon ‘nen Wunsch hatten, jada jada. Lass uns lieber die tollen Arten anschauen, die ihr versklavt habt.“ Sie sprang auf und nahm Siegfried bei der Hand. Er ließ sich nicht wegziehen und blieb sitzen.



„Noch eine Frage: Ist es moralisch falsch, das wir diese Tiere einsperren?“



„Nö, warum? Ihr seid doch selbst eingesperrt, würdet ihr das nich‘ fair nennen? Mein Bruder würde bestimmt so was in etwa sagen“, sie strich sich über einen imaginären Bart, „