Rocket Science

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Kapitel 4

Elijah

Es gibt viele Sachen, in denen ich wirklich schlecht bin – allen voran in sozialer Interaktion. Aber die Uni? An der Uni kann ich glänzen.

Ein tiefes Gefühl von Ruhe erfüllt mich, als ich den Campus am ersten Tag meines Doktoratsstudiums betrete. Es ist gänzlich anders als am ersten Tag meines Grundstudiums, als ich Verbindungsmitgliedern ausweichen musste und Kunststudenten, die mit Kreide Gemälde auf die Wege gemalt haben. Wenn ich damals nicht Theo gehabt hätte, hätte ich vermutlich jede Sekunde der vier Jahre in der Bibliothek verbracht oder mich in meinem Wohnheim versteckt. Das habe ich trotzdem getan, sofern es mir möglich war, aber er hat mich auch wöchentlich in Bars oder zu Campus-Events geschleppt.

Ein trauriger Schmerz flammt in meiner Brust auf. Ich hatte seit der Grundschule noch nie einen ersten Schultag ohne Theo. Er hat mich am ersten Tag der vierten Klasse unter seine Fittiche genommen und mich im Sportunterricht als Badmintonpartner gewählt, als alle anderen schnell Teams gebildet hatten und ich zurückblieb und mich wie der Außenseiter gefühlt habe, der ich immer zu sein schien. Ich wusste nichts darüber, wie es ist, einen Freund zu haben, aber Theo schien das nicht zu stören. Seit dreizehn Jahren sind wir unzertrennlich. Und jetzt ist er auf der anderen Seite des Landes.

In mir regt sich das Bedürfnis, ihn anzurufen und ihm zu sagen, wie dumm und nostalgisch ich mich fühle, weil ich ein Schuljahr ohne ihn beginne, aber wenn ich mich nicht beeile, werde ich zu spät zu meiner ersten Veranstaltung kommen.

Ich verdränge das Gefühl von Wehmut und eile zu meinem Seminar. Der Seminarraum ist sehr schön, eindeutig gut finanziert und es befinden sich gemütliche Stühle, großzügige Tische und ein hochmodernes Whiteboard vorne im Raum. Ich bin immer hin und her gerissen, ob ich mir einen Platz ganz vorne suchen soll, um den besten Blick zu haben und nicht abgelenkt zu werden, oder ob ich mich weiter nach hinten setzen soll, wo mich niemand bemerkt. Einen Moment lang verweile ich hinten und mein Magen rumort nervös, während ich meine Optionen abwäge.

»Ich mag deinen Blazer«, sagt jemand und mein Gesicht erwärmt sich. War das Sarkasmus? Schwer zu sagen. Mein Magen verknotet sich und ich klammere mich mit den Fingern am Riemen meiner Umhängetasche fest. In der sich all meine Lehrbücher und Notizblöcke befinden. »Hier ist noch ein Platz frei, wenn du möchtest«, bietet er mir an und ich schaue endlich in seine Richtung.

Er sieht nicht so aus, wie ich es erwartet habe. Er erinnert mich ein bisschen an Theo, mit seiner zierlichen Statur, blondem Haar, welches zu einem kleinen Irokesen frisiert ist, und einem freundlichen Lächeln auf den Lippen. Er trägt ein Shirt mit Bill Nye darauf, auf dem Science Rules steht. Er sieht aus wie sechzehn und für eine Minute frage ich mich, ob er hier überhaupt richtig ist.

Er deutet auf den leeren Platz neben ihm und ich rücke meine Tasche höher auf meine Schulter, ehe ich mich durch ein paar Stühle schlängle, um zu ihm zu gelangen.

»Hi. Ich bin Alex«, stellt er sich vor und hält mir seine Hand entgegen. Ich wische meine feuchten Handflächen an meiner Hose ab, bevor ich meine Hand ausstrecke, um seine zu schütteln.

»Elijah«, sage ich und lasse mich auf dem freien Platz nieder.

»Ich weiß, was du denkst«, sagt er wohlüberlegt und wirft mir einen ernsten Blick zu. »Und ja, ich bin immer so bezaubernd.«

Ein überraschtes Lachen kommt mir über die Lippen. Jepp, er ist quasi Theo in einem anderen Körper.

»Du Glücklicher«, scherze ich.

»Aber im Ernst, ich bin erst achtzehn. Ich hab die Highschool mit fünfzehn abgeschlossen, dann mein Grundstudium innerhalb von drei Jahren beendet und jetzt bin ich hier.«

»Oh, wow.« Also ist er ein Genie und er hat offensichtliche keine Defizite in sozialen Fähigkeiten oder Selbstbewusstsein. Ich habe von solchen Einhörnern gehört, aber bisher keins in freier Wildbahn gesehen.

»Bist du im Doktorandenprogramm für Luft- und Raumfahrttechnik?«, erkundigt er sich.

»Ja. Raketen«, antworte ich, während ich mir gedanklich selbst eine verpasse. Natürlich Raketen, du Idiot.

»Ich auch. Ich denke, wir werden in den nächsten Jahren viel voneinander sehen.«

»Ja«, stimme ich zu, nicke und zwinge mich zu lächeln. Er lächelt ein paar Sekunden lang zurück und ich frage mich, ob ich noch etwas sagen sollte. Sollte ich vorschlagen, dass wir mal zusammen abhängen sollten? Oder betreibt er einfach nur höfliche Konversation?

Ich werde vom Professor davor bewahrt, das herausfinden zu müssen, als dieser mit dem Seminar beginnt. Alle anderen werden still, um sich umfangreiche Notizen zu machen.

Als die Veranstaltung endet, schlägt Alex vor, dass wir gemeinsam zur nächsten gehen. Offensichtlich ist der Studiengang klein genug, dass alle mit unserem Hauptfach denselben Stundenplan haben. Ich denke, wir werden in den nächsten Jahren wirklich viel miteinander zu tun haben.

Während wir laufen, deutet er auf die Jungs, von denen er glaubt, dass sie süß sind, und erzählt von den Bars und Clubs in der Gegend, die er schon abgecheckt hat, ehe er nahtlos dazu übergeht, einige der Fakten über Strömungsdynamik, die wir heute gelernt haben, und das, was er schon im Lehrbuch darüber gelesen hat, zu analysieren. Letzteres ist natürlich eine Konversation, die ich sehr viel leichter führen kann, und ich entscheide, dass ich mir definitiv vorstellen kann, mich mit Alex anzufreunden. Schau einer an, ich habe offiziell meine Rekordanzahl an Freunden verdoppelt. Theo wäre so stolz auf mich.

Pax

Kaum, dass ich das Hotelzimmer betreten habe, ziehe ich mir die Anzugjacke aus und öffne die oberen paar Knöpfe meines Hemdes. Nachdem ich die Schuhe abgestreift habe, stöhne ich und stecke meine Zehen.

Das Hotelzimmer ist schrecklich austauschbar. Es könnte jedes Hotel in jeder Stadt sein. Ich weiß das, denn ich bin schon fast überall gewesen. Als ich den Job angenommen habe, habe ich mich aufs Reisen gefreut. Ich hab den größten Teil meines Lebens damit verbracht, im Mittleren Westen zu leben und bin zum Studium an die Universität von Illinois gegangen. Die Tatsache, dass dieser Job in Kalifornien war, hat ausgereicht, um mich anzulocken, aber der Gedanke daran, fast jede Woche an neue Orte zu fliegen und mit Leuten zu sprechen, die Multi-Milliarden-Dollar-Unternehmen führen, hat dafür gesorgt, dass ich ihn unbedingt wollte.

Ich liebe es so sehr, wie ich es damals geglaubt habe. Aber das macht diese generischen, langweiligen Hotelzimmer nicht erträglicher. Manchmal hilft es mir, in die nächstgelegene Bar zu gehen oder mir über eine Dating-App Gesellschaft zu suchen. Normalerweise hätte ich einen hübschen Kerl mit dem Gesicht nach unten und dem Arsch in der Höhe auf dem Bett, wodurch die Einrichtung nicht meine oberste Priorität wäre. Aber nicht heute. Heute Abend bin ich allein.

Ich ziehe die Möglichkeit ein paar Sekunden lang in Betracht, ziehe mein Handy hervor und lasse mich aufs Bett fallen. Aber aus irgendeinem Grund ist die Vorstellung weniger ansprechend als sonst. Was merkwürdig ist, denn die halbe Freude meiner wöchentlichen Reisen sind die unterschiedlichen One-Night-Stands in jeder Stadt.

Stattdessen bestelle ich beim Zimmerservice und schalte den Fernseher an, um durch die verschiedenen Filmoptionen zu zappen. Als ich den neuen Star Wars-Film sehe, klicke ich ihn an und nehme mein Handy. Ein Lächeln schleicht sich unwillkürlich auf meine Lippen.

Pax: Lichtschwerter ergeben überhaupt keinen Sinn.

Einstein: Stimmt, das tun sie nicht. Ich glaube, dass die Plasmastrahltheorie wahrscheinlich am realistischsten ist, aber selbst dabei gibt es größere Probleme.

Pax: Was ist mit Laserphotonen?

Einstein: Es wäre so heiß, dass es alle in der Nähe einäschern würde.

Pax: Hmm, da muss wohl jemand George Lucas anrufen und ihn fragen, was er sich gedacht hat.

Einstein: Guter Plan.

Pax: Wow. War das Sarkasmus? Ich wusste nicht, dass du dazu in der Lage bist, kleiner Nerd.

Einstein: War das alles nur ein Vorwand, um mich zu ärgern?

Bei jedem anderen hätte ich das ebenfalls als Witz aufgefasst. Etwas an Elijahs Schüchternheit, als wir uns getroffen haben, sagt mir jedoch, dass er wirklich so unsicher ist, wie die Nachricht klingt.

Pax: Überhaupt nicht, kleiner Nerd. Mir ist einfach langweilig.

Einstein: Oh.

Pax: Was machst du gerade?

Ich schiebe mir ein paar Kissen hinter den Kopf, um es mir bequem zu machen, während die Eröffnungszeilen von Die letzten Jedi im Hintergrund laufen. Ich beobachte die kleinen Punkte, die auf meinem Bildschirm hüpfen und mir anzeigen, dass Elijah am Tippen ist.

Einstein: Hausaufgaben.

Pax: Es ist deine erste Woche, wie kannst du schon Hausaufgaben haben?

Einstein: Dir ist bewusst, dass ich in einem Doktorandenprogramm und nicht in der Middleschool bin, oder?

Pax: Trotzdem. Na ja, besser du als ich.

Einstein: Deine Eltern sagen, dass du gut in der Schule warst. Sie haben immer damit angegeben, dass du an der Uni Bestnoten geschrieben hast.

Meine Finger schweben über dem Display meines Handys, denn seine Worte überraschen mich. Er ist nicht wie die Männer, mit denen ich normalerweise chatte, er kennt mich wirklich. Ein merkwürdiges Gefühl läuft mir über die Haut und ich kann mich nicht entscheiden, ob es angenehm ist oder nicht. Es bringt eine bestimmte Art Sicherheit mit sich, in der Lage zu sein, die Meinung anderer Leute über mich zu beeinflussen, genau die Person zu erschaffen, die ich sie sehen lassen will. Dass Elijah mich kennt, sorgt dafür, dass ich mich merkwürdig entblößt fühle.

 

Pax: Ich habe die Uni nicht gehasst, aber ich bin mehr als froh, beim Rest meines Lebens angekommen zu sein.

Einstein: Ich weiß noch nicht einmal, was ich machen werde, wenn ich meinen Abschluss habe. Mir wäre es lieber, es würde nie enden, weil das echte Leben beängstigend ist.

Pax: Du wirst irgendein großer, bekannter Raketenwissenschaftler sein, der für die NASA arbeitet.

Einstein: Sei leise, das ist furchteinflößend.

Ich lache leise und tippe eine Antwort, während die nichtssagende Leere des Raumes in den Hintergrund tritt.

Kapitel 5

Elijah

Die ganze Woche über warte ich darauf, herauszufinden, dass Pax mich nur verarscht, wenn er sagt, dass er sich mit mir treffen will. Es würde viel mehr Sinn ergeben, wenn sich herausstellt, dass das alles ein ausgeklügelter Scherz ist, als wenn er wirklich mit mir befreundet sein will.

Nach dem Abend, als er mir wegen Star Wars geschrieben hat, sind unsere Textgespräche häufiger geworden. Die ganze Woche über hat er mir Memes, also lustige Bilder geschickt – Science Cat scheint sein Lieblingsbild zu sein, und ich gestehe, dass mir die Wortspiele auch gefallen. Aber selbst die ständigen Nachrichten konnten meine Nerven nicht beruhigen. Es muss irgendeine Falle geben, oder nicht? Warum sollte jemand wie Pax mehr Zeit mit jemandem wie mir verbringen wollen, als er muss?

Der Gedanke trifft mich, dass Theo ihn vielleicht noch immer dazu ermuntert. Mein Magen dreht sich um und ich verziehe das Gesicht, sodass meine Mundwinkel nach unten zeigen.

»Hast du heute große Pläne?«, fragt Alex und reißt mich so aus meinen düsteren Gedanken.

»Hmm?«

»Es ist Freitagabend, du musst doch etwas Lustiges vorhaben.«

»Oh nein«, entgegne ich automatisch, ehe mir einfällt, dass ich tatsächlich Pläne habe. »Ehrlichgesagt treffe ich mich heute mit einem Fr… jemandem. Wir gehen in irgendeine Spielhalle oder so.«

»Ist er heiß?«

Mein Gesicht beginnt zu glühen und ich richte meine Aufmerksamkeit auf mein geöffnetes Lehrbuch, in der Hoffnung, dadurch einer Antwort ausweichen zu können. Natürlich ist Paxton heiß, aber es ist nicht so, als würde das etwas zur Sache tun. Es gibt Millionen von heißen Leuten auf der Welt. Ich verstehe nicht, welchen Unterschied das macht. Und warum interessiert sich Alex überhaupt dafür?

»Vielleicht gehe ich gar nicht hin. Ich muss noch viel für die Uni lesen«, sage ich unbestimmt.

»Oh, also ist er unglaublich heiß«, meint Alex mit einem wissenden Ausdruck. »Es sind immer die unglaublich heißen Kerle, die uns ganz nervös und dumm werden lassen.«

»Jeder macht mich nervös«, murmle ich und er klopft mir lachend auf die Schulter.

»Ich nicht«, stellt er fest. Seine Hand verweilt noch ein paar Sekunden auf meiner Schulter und ich frage mich, ob er versucht, mit mir zu flirten oder einfach nur sehr nett ist. Ich winde mich unter der Berührung und er kichert wieder.

»Die einzige Person, die mich nicht nervös macht, ist mein bester Freund Theo«, informiere ich ihn.

»Warum macht Theo dich nicht nervös?«

Ich zucke die Schultern, in der Hoffnung, dass die Bewegung seine Hand vertreibt, aber sie bleibt fest an Ort und Stelle. »Er lacht mich nie aus und sagt mir immer, wie er wirklich über Dinge denkt, sodass ich nie raten muss. Er ist immer für mich eingestanden, wenn mich die anderen in der Middleschool und Highschool gemobbt haben.«

»Wow, er klingt wie ein echter Traumprinz«, bemerkt Alex in einen Tonfall, den ich nicht ganz verstehe.

»Er ist einfach Theo.«

»Aha.«

»Ich weiß nicht, was das bedeutet«, murre ich irritiert. Das ist genau das, was ich meine: Die Menschen ergeben keinen Sinn und das ist frustrierend.

»Es soll gar nichts bedeuten. Ich habe nur über das nachgedacht, was du gesagt hast«, erklärt er einfach. »Wenn du mich fragst, ich finde, du solltest gehen.«

Ich werfe ihm einen neugierigen Blick zu und er unterdrückt etwas, das nach einem weiteren Lachen klingt.

»Heute Abend. Du solltest dich mit dem heißen Kerl treffen. Selbst wenn du in Theo verliebt bist, heißt das nicht, dass du dich nicht mit anderen Kerlen treffen kannst, bis ihr zwei zueinander findet.«

»Was?«, stottere ich und meine Augenbrauen springen in die Höhe, während ich versuche, seine Worte zu verstehen. »Wenn ich in Theo verliebt bin?«

»Na ja, ja. Es klingt irgendwie so, als…«

»Nein«, unterbreche ich ihn, schüttele meinen Kopf und lächle aufgrund der schieren Absurdität. »Theo ist mein Freund. Das ist alles.«

»Was ist dann das Problem mit dem heißen Typen?«

»Da gibt es kein Problem. Ich hasse es einfach, soziale Kontakte zu pflegen, und es war eine lange Woche. Ich bin mir nicht sicher, ob ich die Kraft für einen Abend habe, an dem ich mich durchgehend darum sorge, etwas Dummes zu sagen oder zu tun.« Das Geständnis überrascht mich. Es ist genau so etwas, das ich normalerweise nur Theo anvertrauen würde, aber Alex hat meine Abwehrmechanismen mit seiner lächerlichen Theorie durchbrochen.

»Weißt du, was ich mache, wenn ich befürchte, etwas Dummes zu sagen?«

»Was?«, will ich wissen.

»Ich sage absichtlich etwas wirklich Dummes, um es hinter mich zu bringen. Wenn er darüber lacht, weiß ich, dass wir ein schönes Date haben können, und ich kann mich entspannen. Wenn er komisch reagiert, denke ich mir eine Entschuldigung aus und sehe zu, dass ichwegkomme.«

Mein Mund öffnet sich, als ich die schiere Unverfrorenheit dieser Taktik in Betracht ziehe. Ich rücke die Brille auf meiner Nase nach oben, als sie herunterzurutschen droht. Er sagt absichtlich etwas Dummes in dem Wissen, dass jemand anderes es hört?

»Das ist… wow, wenn ich mir nicht sicher wäre, vor Scham in Flammen aufzugehen, würde ich das sowas von probieren.«

»Heiße die Scham willkommen«, rät er mir. »Es hat noch nie jemanden umgebracht.«

»Du meinst, nicht, dass du weißt«, stelle ich klar. »Trotzdem danke für den Tipp.«

»Kein Problem.« Endlich lässt er meine Schulter los und ich seufze erleichtert.

Pax

Ich lehne mich gegen die raue Backsteinfassade der Spielhalle, während ich auf Elijah warte. Ich scrolle durch mein Handy, schaue mir die Chatgespräche der vergangenen Woche an und lächle. Stück für Stück ist er aus sich herausgekommen und ich bin gespannt zu sehen, wie er heute Abend drauf sein wird. Wird er ohne Alkohol und ohne ein Display als Puffer wieder der schüchterne, errötende Elijah sein oder der Elijah, der mich als Idiot betitelt, wenn wir diskutieren?

Ich erhasche einen Blick auf ihn. Mit in den Hosentaschen vergrabenen Händen läuft er die Straße entlang, seine Schultern hochgezogen, als versuche er, sich klein zu machen, damit niemand anderes auf der Straße ihn bemerkt. Und es scheint zu funktionieren, denn die Leute drängen sich an ihm vorbei, ohne einen zweiten Blick an ihn zu verlieren. Wie irgendjemand ihn übersehen kann, verstehe ich einfach nicht.

Er sieht nicht großartig anders aus als letzte Woche und trägt einen anderen modischen Blazer über einem einfachen Shirt, dazu eine Jeans. Sein Haar ist gekämmt, anders als an dem Morgen, als ich ihm Frühstück vorbeigebracht habe, und ich stelle fest, dass ich vermisse, wie wild seine Locken waren, als er offensichtlich gerade erst aus dem Bett gefallen ist. Ich wette, nach einem harten Fick sieht er unglaublich aus. Der Gedanke trifft mich wie ein Schlag in den Magen und raubt mir für ein paar Sekunden den Atem, ehe Elijahs Augen meine finden und ich mich dazu zwinge, ihn anzulächeln und vorzugeben, dass sich keine Vorfreude zwischen meinen Beinen einstellt.

»Hey«, grüßt er mich nervös.

»Hey, Einstein, schön, dich zu sehen.«

Er blinzelt mich mit einem Hauch Verwunderung in den Augen an, als könnte er nicht glauben, dass es wirklich schön ist, ihn zu sehen. Es bricht mein Herz, dass er sich so fühlt, und ich verstehe plötzlich, wieso mein Bruder seinen Freund so umsorgt. Elijah hat etwas an sich, das dafür sorgt, dass man ihn vor der großen, bösen Welt beschützen will.

»Wie war dein Flug?«, fragt er, als ich ihn in die Spielhalle scheuche.

»Meh.« Ich zucke die Schultern. Normalerweise fliege ich zwei Mal die Woche, also fällt mir da meist nichts Besonderes auf, wenn es keine großartigen Probleme gibt. »Da war ein heißer Flugbegleiter, der fast den ganzen Flug über mit mir geflirtet hat.«

»Sowas passiert auch nur dir«, murmelt er und schüttelt den Kopf, während ich lache.

»Aww, bist du eifersüchtig, kleiner Nerd? Würde es dir helfen, wenn ich dir sage, dass es eine Frau war und ich nicht mal ansatzweise interessiert war?«

»Ich bin nicht eifersüchtig«, behauptet er, doch die Anspannung weicht aus seinen Schultern. Aber ich entscheide mich, nicht weiter darauf einzugehen.

»Bist du bereit, in Pac-Man besiegt zu werden?«, erkundige ich mich und nicke in Richtung des nächstgelegenen Spielautomaten.

»Du träumst wohl«, entgegnet er und flitzt zu dem Spielautomaten.

Tatsächlich besiegt Elijah mich bei Pac-Man, dafür schlage ich ihn bei Space Invaders, also ist das in Ordnung für mich.

»Also, kein fester Freund. Was hat es damit auf sich? Bist du zu beschäftigt damit, ein Genie zu sein, oder was?«, frage ich, um ein Gespräch aufzubauen, als wir eine Pause vom Spielen machen und uns hinsetzen, um fettiges Bar-Essen zu bestellen.

Die Röte, die in Elijahs Wangen kriecht, ist die Frage definitiv zu hundert Prozent wert.

»Ich habe nicht… ähm…« Er nestelt an den Knöpfen seines Blazers und schaut überall hin, nur nicht zu mir.

»Bin ich in ein Fettnäpfchen getreten? Theo hat mir gesagt, dass du schwul bist. Hat er mir nicht alles erzählt? Bist du asexuell und ich gerade schwer von Begriff oder so?«

Schließlich schaut er mich an und schüttelt heftig den Kopf. »Nein, ich bin nicht asexuell oder aromantisch oder so. Ich date einfach nicht.«

»Warum nicht?«

Elijah stößt ein humorloses Lachen aus. »Weil die Menschen einfach keinen Sinn ergeben. Da sind so viele Dinge, die man sagen oder tun soll, um jemandem zu zeigen, dass man interessiert ist, aber niemand hat mir je gesagt, was das für Dinge sind. Und die Menschen lügen, nicht nur mit ihren Worten, auch mit ihrem Lächeln oder ihren Augen. Sie geben vor, dich zu mögen, nur damit sie hinter deinem Rücken über dich lachen oder deine Hausaufgaben abschreiben können.«

Mein Herz bricht für ihn und seine Worte treffen mich auf einer persönlicheren Ebene, als ich mir eingestehen möchte.

»Also hast du nie… äh… jemanden gedatet?«, frage ich so vorsichtig, wie ich kann. Ich bin mir sicher, dass es mich nichts angeht, aber ich bin trotzdem neugierig.

»Ich habe gerade gesagt, dass ich das nicht gemacht habe«, antwortet er und schaut mich an, als wäre ich ein Idiot. Dann flackert Verständnis in seinen Augen auf. »Du redest gerade von Sex, richtig?«

Ich lache schnaubend in mein Glas Limo, das ich gerade an meine Lippen gehoben habe, um etwas zu trinken. Ich greife nach meiner Serviette und putze mir damit den Mund ab. »Ja, ich meinte Sex.«

»Ich bin eine Jungfrau«, erklärt er sachlich. »Es ist nichts falsch daran, Jungfrau zu sein.«

»Ich habe nicht behauptet, dass es so ist.«

»Ach bitte, ich wette, dass du die Art Kerl bist, der jedes Wochenende einen anderen hübschen Mann in seinem Bett hat«, unterstellt er mir. Seinen bissigen Unterton könnte ich beinahe mit Eifersucht verwechseln.

»Das ist nicht sehr höflich. Wenn ich dich nicht dafür verurteile, keinen Sex zu haben, ist es nicht wirklich fair von dir, mich dafür zu verurteilen, was in meinem Schlafzimmer geschieht.«

Er errötet erneut. Diesmal ist es ein dunkleres Rot, das unendlich befriedigend ist.

»Du hast recht, das ist nicht fair von mir«, stimmt er mir zu.

Als er nichts mehr sagt, hebe ich meine Limo an meine Lippen und trinke einen Schluck, jetzt, da mir keine Gefahr droht, sie zu inhalieren.

»Ich könnte dir helfen, wenn du willst«, biete ich ihm beiläufig an.

»Was meinst du?« Da ist wieder dieser misstrauische Ausdruck in seinen Augen.

Ich zucke die Schultern und bin mir selbst nicht ganz sicher, was ich gemeint habe, als mir das Angebot über die Lippen gekommen ist, ohne vorher überhaupt darüber nachzudenken. »Wenn du Unterricht darin haben möchtest, wie man flirtet oder wie man erkennt, welche Kerle dafür empfänglich sind, aufgerissen zu werden.«

 

»Ich bin mir sicher, dass ich ein hoffnungsloser Fall bin«, sagt er. »Ich will deine Zeit nicht verschwenden.«

»Meine Zeit verschwenden? Du glaubst, ich halte es für Zeitverschwendung, freitagabends in Gaybars herumzuhängen und mit süßen Typen zu flirten?«

Elijahs Gesichtsausdruck verdüstert sich etwas und seine Schultern fallen herab. »Es tut mir leid, dass ich dich davon abgehalten habe. Ich habe dir gesagt, dass ich keine Mitleidsfreundschaft brauche. Geh und flirte mit jemandem. Mach dir keine Sorgen um mich.«

»Ich mache mir keine Sorgen um dich und das hier ist kein Mitleid«, wende ich ein. Ich verbringe gerne Zeit mit dir und ich glaube, dass es Spaß machen würde, gemeinsam nach Typen Ausschau zu halten. Aber wenn du nicht interessiert bist, können wir es dabei belassen.«

Die Kellnerin bringt unser Essen und wir beide stürzen uns darauf und lassen das Gespräch erst einmal auf sich beruhen. Ich würde gerne sehen, wie Elijah etwas lockerer wird und das Selbstvertrauen findet, von dem ich mir sicher bin, dass es sich unter seiner schüchternen Schale versteckt, aber ich werde ihn zu nichts zwingen.

Wir spielen noch ein paar Stunden lang Spiele, jeder von uns gewinnt ein paar. Elijah entspannt sich zunehmend, je weiter der Abend fortschreitet, bis er derselbe lockere, sarkastische Mann ist, mit dem ich mich letztes Wochenende getroffen habe. Nur ohne den ganzen Alkohol.

Ein Gähnen kommt mir über die Lippen und ich schaue auf die Uhr, verwundert, dass wir es fast bis zur Schließung der Spielhalle geschafft haben.

»Oh wow, es ist schon spät«, sagt er. »Ich sollte mich vermutlich auf den Heimweg machen.« Er beißt sich auf die Unterlippe und sieht unsicher aus. Wenn das jemand in einer Bar gewesen wäre, hätte ich anhand seiner Körpersprache vermutet, dass er versucht, den Mut aufzubringen, um mich in seine Wohnung einzuladen. Aber das hier ist Elijah.

Er bestellt sich ein Taxi und ich warte gemeinsam mit ihm darauf. Als das Auto am Straßenrand hält, lächelt er mich schüchtern an und öffnet die hintere Tür, um einzusteigen. Er hält inne, ehe er die Tür schließt, und schaut mich wieder ganz nervös und mit einem Hauch Interesse an. Ich wette, dass er genau so schauen würde, wenn ich ihn unter mir hätte, nackt und verzweifelt. Mein Schwanz bewegt sich an meinem Bein und wird hart, als meine Gedanken ohne meine Erlaubnis unanständig werden.

»Ich werde es tun«, sagt er mir und für einen verrückten Moment glaube ich, dass er meine Gedanken lesen kann und sich damit einverstanden erklärt, all die dreckigen Dinge zu tun, die mir durch den Kopf geschossen sind.

»Was tun?«, frage ich, wobei meine Stimme rauer klingt als geplant.

»Das Flirten. Du kannst es mir beibringen… natürlich nur, wenn du das wirklich willst.«

Ich blinzle und schüttele den Schleier aus Lust ab, der mir das Gehirn vernebelt. »Oh ja, natürlich.«

Langsam stiehlt sich ein Lächeln auf seine hübschen, pinken Lippen, ehe er die Autotür schließlich zuzieht und mir einmal kurz durchs Fenster zuwinkt, ehe das Taxi wegfährt und mich mitten in der Nacht erregt und verwirrt an einer Straßenecke zurücklässt.