Der Nashornkäfer

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Der Nashornkäfer
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K. D. Beyer

Der Nashornkäfer

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Impressum neobooks

Kapitel 1

Ihre Zukunft hatte Molly sich ganz anders vorgestellt.

Eigentlich hatte sie nur den Hauch einer Ahnung davon, wie ihre Zukunft aussehen würde.

Wenn alles so weiter lief, wie bisher, würde sie an der Seite ihres Mannes steinalt werden und beide würden dabei niemals wirklich altern. Molly und Fred waren gebildete, tolerante, aufgeschlossene und moderne Zeitgenossen; vielseitig interessiert und Spezialisten auf ihrem jeweiligen Fachgebiet.

Irgendwo, höchstwahrscheinlich in der Karibik oder in der Südsee würde Molly, mit einem Cocktail in der Hand, friedlich und entspannt an Deck eines riesigen Luxusdampfers auf einer bequemen Sonnen-Liege sanft und entspannt entschlafen.

Das edle Cocktailglas würde ihren langen, schlanken Fingern langsam, ganz langsam in Zeitlupentempo entgleiten und mit einem leisen Klirren auf dem warmen Holzboden klassisch elegant zu Bruch gehen.

Diesen, im Sonnenlicht glitzernden, Scherbenhaufen würde irgendjemand schnell und diskret zusammenfegen.

Der Kirchenchor würde „Stairways to heaven“ singen und der Pfarrer hätte nur Gutes über Molly zu berichten.

So oder so ähnlich würde es kommen.

Für Molly gab es keine Alternative.

Das Leben im 21. Jahrhundert auf dem schönen, blauen Heimatplaneten Erde mit all seiner Vielfalt hätte so schön sein können.

Denn mal, ganz ehrlich, wer möchte schon auf dem Mars mit seinen seltsamen, unifarbenen Bewohnern hausen oder mit T. Rex um die Wette jagen?

Über den Verlauf ihres bisherigen Lebens konnte Molly im Großen und Ganzen zufrieden sein. Na ja, wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie sich andere Nachbarn ausgesucht und etwas kleinere Füße hatte sie sich schon immer gewünscht.

Sie war davon ausgegangen, dass sie immun sei gegen all das Böse in der Welt, das sie, wenn überhaupt, nur aus den Nachrichten kannte.

Ein fataler Fehler.

Denn diese kindlich-naive Annahme sollte sich, ganz kurz nach ihrem 55. Geburtstag, als der größte Irrtum ihres Lebens herausstellen.

Das Leben in Angst und Schrecken erwischte sie eiskalt.

An einem warmen Frühlingsmorgen.

Die Vögel zwitscherten so viel lauter als an einem normalen Sonntagmorgen und die Sonne erschien viel wärmer und kraftvoller als an den vergangenen Tagen am Horizont.

Molly kehrte gut gelaunt, sprühend vor Lebensenergie und neuen Ideen von ihrer allmorgendlichen Fitnessrunde nach Hause zurück.

In der Küche vermischte sich der Duft der frischen Brötchen, die sie auf dem Rückweg eingekauft hatte, mit dem Duft des Kaffees, den Molly frisch gemahlen hatte.

Es war eigentlich wie immer.

Fred war noch immer nicht aufgestanden.

Es war spät geworden gestern Abend, obwohl er sich nicht so wohl gefühlt hatte und nur ihr zuliebe länger auf dem kleinen Feierabendfest im Dorf geblieben war.

Im Radio spielten sie Songs von damals.

Molly trällerte fröhlich mit.

Sie würde ihren Fred, gleich nach dem Duschen, mit einer heißen Tasse seines Lieblingskaffees am Bett überraschen und bestimmt auch wach bekommen.

Mit nassen Haaren, eingewickelt in ein großes türkisfarbenes Handtuch, schlich sie sich leise ins Schlafzimmer. Er sollte auf keinen Fall wach werden, bevor sie ihn weckte.

Es fiel ihr schwer, das Kichern zu unterdrücken.

Vielleicht war er auch schon wach und lauerte nur darauf, dass sie näher kam und er sie erschrecken konnte.

Man konnte nie wissen, und Molly war auf der Hut.

Auf Zehenspitzen näherte sie sich ihrem schlafenden Mann.

Leise stellte sie die Kaffeetasse auf das Nachttischchen, darauf vorbereitet, gleich von ihm mit seiner großen Hand geschnappt und ins warme Bett gezerrt zu werden, wie von einem wilden Tiger.

Doch heute schien er wirklich sehr erschöpft zu sein.

Fred gab kein Lebenszeichen von sich.

Und auch als Molly mit ihren warmen Händen auf seinen leblosen, kalten Körper einschlug und ihn anschrie, endlich aufzustehen, verweigerte er hartnäckig Mollys Wunsch.

Kapitel 2

Wünsche an die Zukunft sind erlaubt.

Vorfreude soll die schönste Freude und deshalb lächelte Helena zufrieden, als sie mit einer Tasse Kaffee an ihrem Küchenfester stand und auf das bunte Treiben auf der Straße blickte.

Es waren nur noch wenige Minuten bis zur Abfahrt.

Ihre Nervosität in den letzten Tagen überraschte sie selbst am meisten. Helena dachte seit Wochen an nichts anderes mehr, als an ihren Abenteuertrip: mit dem Motorrad quer durch Europa.

Wahrscheinlich hatten die anderen Recht: sie war eine miserable Wissenschaftlerin. Sie interessierte sich plötzlich viel mehr für grenzenlose Freiheit da draußen auf der Straße, als für starre und festgelegte Experimente im Labor. Helena war schon immer stolz auf ihren kühlen, analytischen Kopf gewesen. Und seit geraumer Zeit sah Helena die Zukunft ihres Kontinentes in Gefahr. Vom Schreibtisch aus konnte sie wenig unternehmen, daher wollte sie auf ihrer Reise die Schönheit und Einzigartigkeit der einzelnen Regionen neu erfahren und entsprechend dokumentieren.

In den letzten Jahren war Helena beinahe ausschließlich mit fernen Galaxien beschäftigt gewesen. Sie hatte gar keine Zeit für die Erde. Das war nicht notwendig, denn die ganze Welt war längst im virtuellen Raum digitalisiert. Alles, was sie über die Geheimnisse der Erde wissen wollte hatten längst andere recherchiert und für jedermann auffindbar dokumentiert.

Ihr Wunsch zu dieser Reise erwachte vor ungefähr einem Jahr. Auf einem Kongress in Italien kamen zwei ihrer Kollegen auf die Idee, im nächsten Jahr mit dem Motorrad anzureisen. Irgendwann waren dann auch noch zwei Kolleginnen und ein weiterer Kollege so begeistert von der Idee, dass auch Helena von dieser Abenteuerlust angesteckt wurde.

Das folgende Jahr war geprägt von Veränderungen und plötzlich war niemand mehr an einer Motorradfahrt interessiert. Doch Helena ließ sich nicht davon abhalten, diese abenteuerliche Reise zu realisieren. Sie hatte dafür bereits viel Zeit und Geld investiert. Akribisch überprüfte Helena ihr altes Motorrad, das in der Garage ihrer Schwester in der hintersten Ecke zwischen Rasenmäher und Unkrautvernichtungsmittel stand. Wenn sie Glück hatte, würde ein Wochenende ausreichen, die Maschine wieder flott zu kriegen. Ihre Ledermontur war im feuchten Keller verschimmelt. Kritisch hielt sie die Lederhose in die Höhe und kniff abschätzend die Augen zusammen.

„Was soll‘s! Die hätte mir sowieso nicht mehr gepasst!“

Auch das alte Zelt stellte sich als unbrauchbar heraus.

Helena hatte vier Wochen Zeit für ihr Projekt veranschlagt. Sie bereitete sich so gut vor, dass sie nachts schon davon träumte, wie sie mit ihrem Motorrad, die Alpen bezwang. Sie hörte den kräftigen Motor, sie konnte den frischen Fahrtwind spüren und das Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit hielt auch noch nach dem Aufwachen lange vor.

In einem Internetforum hatte sie sogar schon ein paar Gleichgesinnte gefunden, die tatsächlich wahr machten, wovon andere nur sprachen. Eine Gruppe war in Berlin gestartet, um an der West-Küste Europas entlang zu fahren. Dieser Gruppe wollte Helena sich anschließen. Helena hatte vor, in Amsterdam auf die Berliner treffen und zunächst einmal bis Lissabon mit zu fahren. Unterwegs stießen weitere Globetrotter dazu. Darunter waren Handwerker, Philosophen, Mathematiker, Sportler und Rentner und Helena liebte die allabendlichen Gespräche mit diesen interessanten Menschen über Wichtiges und Unwichtiges, wenn sie abends vor ihren Zelten den nächsten Tag planten.

 

Schnell hatte Helena sich an die Marienkäferlarven, Spinnen und Ameisen gewöhnt, mit denen sie nachts ihr Zelt teilte. Es war nur noch wichtig, wo sie abends ihre Zelte aufschlagen konnten und wo es etwas zu essen gab. Zu essen gab es im Überfluss und es hatte sich herumgesprochen, dass eine Gruppen von Verrückten unterwegs war. Interessierte Bürger stellten ihre Wiesen zur Verfügung und waren stolz darauf, die „Rocker“, wie sie freundliche genannt wurden, zu beherbergen.

Die „Rocker“ waren wie Helena: Menschen, auf der Suche nach der Zeit, dem einfachen Leben und der Ehrlichkeit.

Sie wollten das Leben wieder mit all ihren Sinnen erleben. Das fiel ihnen von Tag zu Tag leichter und Helena war schockiert darüber, wie stark der Alltag, mit all seinen Pflichten und Verabredungen, sie in einen eiskalten Roboter verwandelt hatte.

Eine kurze Nachricht ihrer Nichte riss Helena aus ihrer neugewonnenen Freiheit und beendete ihre unbeschwerte Motorradfahrer-Idylle äußerst unromantisch.

Kapitel 3

Flo wachte auf.

Mit geschlossenen Augen lag sie da und dachte nach.

Heute war mal wieder einer dieser dunkelschwarzen Tage, an denen die Gedanken frisch aus der Geisterbahn entflohen zu sein schienen. Wenn draußen dabei auch noch die Sonnte schien, war dies für sie besonders schlimm.

Denn ihre unterirdische Stimmung konnte unmöglich etwas mit dem heiteren Wetter zu tun haben, sondern einzig und alleine mit seinem verkorksten Leben.

„Was wäre gewesen, wenn ich damals …!“ Früher hätte sie vielleicht noch Weichen für ein anderes Leben stellen können. Vielleicht hätte sie noch vor zehn Jahren eine Chance gehabt. Doch nun war es zu spät. Nun gab es kein Entrinnen mehr.

Sie saß in der Falle.

Und dort hockte sie nicht alleine.

Im Schlepptau hatte sie, außer ihrer Vergangenheit, eine demente Mutter, einen depressiven Ehemann und abwesende Kinder, die sich nur meldeten, wenn sie Geld oder ihr Auto brauchten.

„Hey, morgen wirst du 55!“ Molly hatte sie gestern an das lästige, bevorstehende Datum erinnert.

Flo hatte im Garten Unkraut gejätet.

Sie hatte Molly gar nicht bemerkt. Sie hatte sich offensichtlich mal wieder heimlich an den niedrigen Zaun geschlichen, der ihre Gärten trennte.

Flo wischte sich mit dem Handrücken eine Strähne aus dem Gesicht. Sie schluckte, denn es war ihr tatsächlich gelungen, nicht an Morgen zu denken. Mit aller Macht hatte sie versucht, die Bedeutung des morgigen Tages zu verdrängen.

„Wieso hast du mich eigentlich nicht eingeladen zu deinem rauschenden Fest?“

„Molly, ich bitte dich! Welches rauschende Fest?“

„Ach Schäfchen“, Molly rollte die Augen, „kannst du dich nicht mehr an Magdalenas Party im letzten Jahr erinnern?“

Flo konnte sich sehr gut an die peinliche Gartenparty erinnern und winkte dankend ab. Die Feier war sehr feucht-fröhlich verlaufen und in einem Anflug von Hoffnung und Zuversicht, hatte Flo verkündet, ihren nächsten Geburtstag auch mal wieder zu feiern. Damals ahnte sie noch nicht, dass das Belastende in ihrem Leben noch schlimmer wurde.

„Und was machst du dann so – morgen?“

„Heute Kuchen backen, morgen Kuchen ins Büro transportieren – hoffentlich geht das auf dem Fahrrad und abends mit Fritz und den Kindern essen gehen.“

„Wie langweilig!“

„… und spießig! Ja genau – bei uns geht es nun mal sterbenslangweilig zu und spießig zu …!“

„… nicht wie bei euch in eurem feinen Schloss!“, fügte sie für sich in Gedanken hinzu und schloss die Augen. Flo wirkte ruhig und gefasst, aber insgeheim schäumte sie vor Wut über die unsensible Molly.

Eigentlich war diese Molly ja auch gar nicht ihre Freundin!

Molly war eigentlich überhaupt noch nie ihre Freundin gewesen, sondern nur eine neugierige, nervige Nachbarin!

Es fehlte nicht viel und Flo hätte ihr die kleine Hacke an den Kopf geworfen.

Instinktiv schien Molly die drohende Gefahr zu wittern. Sie trat den Rückzug an und machte sich mit einem leise gehauchten „Bis bald …!“ schnell in Richtung ihres überdimensionalen Komposthaufens, dem am anderen Ende des Gartens lag, vom Acker.

Mollys gellender Schrei ging durch Mark und Bein und Flo sprang schreiend aus ihrem Bett.

Kapitel 4

„Frau Moll, ich muss Sie doch sehr bitten …!“

Molly wollte nicht hören, um was dieser alberne Lackaffe in seinem schwarzen Anzug sie bitten musste. Sie war rasend vor Trauer und Wut!

Was hatte dieser Totengräber ihr denn schon zu sagen?

Sie war nicht freiwillig hier!

Am liebsten hätte sie alles kurz und klein geschlagen.

Molly war auf das Regal vor ihren Augen los gegangen, wie ein wilder Stier auf sein rotes Tuch und hatte in einem Anfall von Zerstörungswurt und Verzweiflung sämtliche Exponate von den Regalen gefegt.

Der schwarze Mann redete sanft auf Molly ein. Schließlich war es dann doch sein beruhigender Tonfall, der sie endlich zur erschöpft zusammenbrechen ließ und nicht die Tatsache, dass sie durch den heftigen Schlag auf den Kopf außer Gefecht gesetzt wurde.

Eine dünne Blutspur lief Molly über die Stirn und Nase.

Blut tropfte auf den Parkettfußboden und hinterließ hässliche Spuren.

Bestürzt schaute Molly auf ihre Blutstropfen und die am Boden liegenden Attrappen. Zum Glück waren die meisten Urnen nur aus Plastik und bis auf eine einzige hatten alle unbeschadet überlebt.

„‘tschuldigung“, stammelte Molly, rappelte sich auf und flüchtete sich wieder in ihren großen, weichen Besuchersessel. Sie verkroch sich in das weiche Leder, das sich schützend und wie eine zweite Haut um ihren Rücken und ihre Oberschenkel schmiegte.

Mollys Finger krallten sich in die Lehne und sie starrte hilflos auf diese Person, auf diesen bleichen Vampir, der skrupellos vom Leid anderer Menschen lebte.

„Haben Sie Angehörige, Freunde, die Sie unterstützen und Ihnen in diesen schweren Stunden zur Seite stehen?“

Molly schüttelte stumm den Kopf.

In diesem Moment ertönte eine laute Melodie.

„I’ve been mistreated!“

Mit zitternden Händen begann Molly panisch in ihrer überdimensional großen Handtasche nach der Lärmquelle zu wühlen.

„I’ve been abused!“

„Helena?!?“ flüsterte sie schluchzend und hoffnungsvoll in den Hörer.

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